# taz.de -- Die Wahrheit: Nackt unter Narben | |
> Zwischen Leben und Tod liegt in der extremen Welt der Extremsportler nur | |
> ein schmaler Grat, von dem schon so mancher Rekordsucher ins Nichts | |
> abgestürzt ist. | |
Bild: Mit einem Absturz muss so ein Extremhansel wie der Österreicher Felix Ba… | |
Die einen saugen das Letzte aus ihrem Körper. Sie arbeiten sich mit puren | |
Armen und Beinen durch kilometerdicke Meerengen, galoppieren auf dem Einrad | |
von Berlin nach Wladiwostok oder kriechen 8.000 Meter kalte Berge hinauf, | |
auf dem Rücken nur eine Flasche Champagner und eine Holzbank, auf der sich | |
eine Partygesellschaft für die Gipfelfeier hochtragen lässt. | |
Die anderen kleben an ausgefallenen Hobbys. Sie stapeln bis unters Dach | |
Nippesfiguren, denen sie im Lauf ihres Lebens immer ähnlicher werden, | |
lassen sich einen körperlangen Bart wachsen, unter dem sie unbekleidet in | |
islamische Länder einfahren könnten, oder bauen den Kölner Dom aus | |
Zehennägeln nach. | |
Die Dritten sind sowohl sportlich getackert wie skurril gestrickt, | |
balancieren einen Besen auf der Nase, duschen wochenlang, bis das Fleisch | |
von den Knochen rutscht, oder treten in einer Stunde ihrem Mitbewohner | |
2768-mal in den Hintern – Weltrekord für beide! | |
Etliche dieser Spezialisten schleppen sich den fast ganzen Kalender | |
hindurch als hundsgewöhnlicher Arzt oder Fensterputzer, als stinkbanale | |
Lehrerin oder Hausfrau durchs Leben. Doch in ihren freien Minuten platzt es | |
aus ihnen heraus. „Eingetütet in Normen und Regeln, betäubt von der | |
Monotonie und Langeweile des Alltags, wollen sie ihr leeres Dasein extrem | |
mit Sinn vollpumpen und sich durch eine einzigartige Sache mit der | |
Aufmerksamkeit der ganzen Welt aufblasen“, weiß der Psychologe Marc-Adrian | |
Prott, der sich durch seine einzigartigen Forschungen auf diesem Gebiet | |
einen weltweit extrem leuchtenden Namen gemacht hat. „Dann kugeln sie sich | |
halt einen wütenden Wasserfall hinunter oder hopsen ohne Fallschirm aus | |
einem Hubschrauber in die nackte Luft.“ | |
Manch einem gelingt es sogar, sich ins Fernsehen zu schieben: „Denken Sie | |
an Friedel Pissarek, der wettete, dass er alle Mitglieder des Bundestages | |
an ihrem Achselgeruch erkennen kann!“, ruft Prott. Andere schnüren sich | |
eine Kamera um, mit der sie während ihrer Heldentat das Internet füttern – | |
was freilich satt danebengehen kann wie im Fall des Schotten Sean McDust, | |
der den Globus in einem Heißluftballon umschiffen wollte, „ein Sinnbild | |
seines Gehirns“, lästert Prott über den Versager, der bereits an den Alpen | |
hängen blieb. | |
„Es kommt eben, wie in Beruf und Alltag, auch hier auf steile Leistung und | |
spitzes Durchsetzungsvermögen an!“, betont Prott und schaut in seinen | |
Wandspiegel, der so groß ist wie er selbst. „Wie anders will man denn das | |
in der kapitalistischen Beißordnung notwendige Alleinstellungsmerkmal | |
erwerben und mit seiner Nummer in den Medien vor Anker gehen!“, so | |
Marc-Adrian Prott. „Sie dürfen mich damit ruhig zitieren! Und dabei auch | |
meinen Namen aufsagen! Herr …, äh?“ | |
Höchst aktiv auf dem Gebiet der Extremleistungen ist der australische | |
Abführmittelhersteller Get Full. Er hält zahlreiche hochgetunte | |
Spezialrekordler unter Vertrag und spricht mit seiner Reklame auch jene | |
Hunderte Millionen Freizeitamateure an, die einer wie der andere große | |
Individualisten sind. Der US-Amerikaner Charlie Twathead leitet das | |
europäische Trainingslager und Ausbildungscamp des Konzerns nahe Salzwedel. | |
„Zur Zeit bereiten sich hier Reinhold Deppner und John Bollock darauf vor, | |
den Pazifik zu Fuß und ohne Sauerstoffflasche zu durchqueren“, erklärt der | |
Manager, der selbst in seiner Jugend das Apnoetauchen in Jauchegruben | |
betrieb. | |
„Neben physischer Stabilität brauchen Sie natürlich psychische Kondition“, | |
führt Twathead aus, der sich für seine 35 Jahre gut gehalten hat, wenn man | |
über die klaffenden Narben hinwegsieht, weil ihm einst bei einem Schaukampf | |
mit Gorillas, Elefanten und Planierraupen alle Gräten zerlegt wurden. „Ein | |
eiskalter Wille ist ebenso wichtig wie ein hart gemachter Body. Ohne beides | |
hätte es unser Spanier José Mierda nie geschafft, mit seinem ausrasierten | |
Schädel binnen zwei Tagen, 14 Minuten und 36 Sekunden ein Rotiermesser | |
stumpf zu schleifen – in neuer Weltbestzeit!“ | |
Twathead, der noch immer straff durchtrainiert ist und nur unmerklich | |
seinen Körper nachzieht, seit ihm mal bei einem Wettrennen Mensch gegen | |
Maschine ein außer Rand und Band geratener Tanklaster über die Beine | |
rappelte, zeigt mir die nächsten Kandidaten: den Iren Jack Bugger, der sich | |
mit seinen schaufelbaggergroßen Händen zu den Antipoden hindurchgraben | |
will. Die Rumänin Zoia Curul, die vorhat, das Matterhorn mit einer | |
Nagelfeile abzuhobeln. Den Franzosen Pierre Foutant, der plant, mit Spucke | |
ein Kleinflugzeug vom Himmel zu holen. | |
Denn nicht nur Profis üben hier, sondern auch Bankangestellte, | |
Sekretärinnen und Integrationsbeauftragte, die es wie Sand am Meer gibt. | |
Zum Beispiel Petra Krempel-Quark. Die zierliche Einzelhandelskauffrau steht | |
auf einem Küchentisch: Wird sie den Sprung auf den Linoleumboden knapp | |
einen Meter unter ihr meistern? „Ihr Traum ist, vom Burj Khalifa in Dubai | |
zu jumpen“, erklärt Twathead und zieht eine Schraube an seinem Kopf fest. | |
„Ein Sportunfall. Bin bei einem Rekordversuch, als ich 4.016-mal gegen die | |
Wand lief, einmal zu oft gegen die Wand gelaufen. Ist seither alles Metall | |
hier oben.“ | |
Mit Trockenübungen wie der abkonterfeiten werden hier Unmengen Talente | |
langsam an ihr Ziel herangeführt. Im Archivraum stapeln sich die | |
Trainingsprotokolle bis unter die Decke. „Sie glauben nicht, wie viele | |
scheinbar normale Menschen sich für ein paar Minuten unsterblich machen | |
wollen! Klar, spätestens wenn jemand noch einen Klacks besser oder | |
ungewöhnlicher ist, rutscht unsereins zurück in die Vergessenheit. Aber | |
nicht immer!“, schmunzelt Twathead dick, hebt eine Tasse auf und räumt sie | |
in einen Schrank, in dem Pokale und Trophäen stehen. Als wir näher | |
hinsehen, erkennen wir, dass es keine Tasse ist: „José Mierdas Kopf“, nickt | |
Twathead breit. „Er wollte es so, hat es sich vorher ausbedungen. Ein | |
toller Typ!“ | |
Überhaupt enden die Get-Full-Werbeauftritte der Extremrekordler schon mal | |
tödlich – aber „glücklicherweise nur für sie, nicht für den Auftraggebe… | |
wie Twathead versichert. Etliche Basejumper platterten von Gipfeln und | |
Wolkenkratzern lotrecht ins Nichts, zig Bergsteiger wurden von gefräßigen | |
Lawinen verspeist oder bissen anderweit in den Fels, weshalb Insider den | |
Konzern auch „Dead Null“ getauft haben. Egal! Es piept bei Twathead. | |
„Entschuldigung“, entschuldigt sich der Manager. „Die Nächsten warten | |
bereits. Wenn Sie wollen, können Sie aber bleiben. Wir machen Ihren Traum | |
wahr! Denken Sie an den Schrank!“ | |
9 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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Die Wahrheit | |
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