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# taz.de -- Fotograf Thomas Henning über Großstadtleben: „Man war damals gr…
> Thomas Henning hat in den 70er und 80er Jahren das Hamburger Straßenleben
> fotografiert. Wie hat sich das öffentliche Leben seither verändert?
Bild: Straßenszene auf der Reeperbahn um das Jahr 1975.
taz: Herr Henning, in Ihren Büchern mit Fotos aus den 70ern und 80ern wirkt
die Großstadt ruhig, gemütlich und richtig nett. War damals alles besser?
Thomas Henning: Es war anders.
Inwiefern?
Es war einfacher, überschaubarer. Es war alles logischer und man verstand
die Sachen besser. Beim Fotografien zum Beispiel: Da musste man die Blende
einstellen, die Zeit und die Belichtung messen – und scharf stellen vor
allem. Außerdem hatte man immer etwas mitzuschleppen, es war also richtige,
anerkannte Arbeit. Und nicht kreative Selbstverwirklichung.
Oft sieht Hamburg auch menschenleer aus.
Natürlich war die Stadt nicht so leer. Auf der Mönckebergstraße war es voll
und auf der Reeperbahn war es voll. Es gab auch Zeiten, da war es im
Schanzenviertel auf dem heute so bekannten Schulterblatt voll. Auch
morgens: Wenn die Leute zum Schlachthof gingen, zu den vielen kleinen
Kneipen, wo es Schnittchen gab und Bier und Korn. Es gab damals nicht so
viele Leute, die als Touristen ins Schanzenviertel kamen oder es besuchten,
weil sie es so toll fanden, obwohl sie hier nichts zu tun hatten. Man war
auch viel drinnen, weil draußen gab es nichts zu sehen.
Die Bedienung kommt an unseren Tisch, fragt sehr höflich, ob wir den frisch
gepressten Orangensaft in 0,2 Liter oder 0,4 Liter haben wollen und ob der
Espresso mild oder kräftig geröstet sein soll.
Und eine freundliche Bedienung gab es auch nicht. Man war kurz angebunden,
man war grantig, ob es nun im Café war oder im Wartesaal erster Klasse im
Hauptbahnhof, wo es noch die gute, selbst gemachte Ochsenschwanzsuppe gab.
Das Szeneviertel Schanze, wie wir es heute kennen, gab es noch nicht?
Es gab eine Szene. Es gab die jungen Maler, die jungen Wilden, die in der
Fettstraße wohnten. Es gab das „Vienna“, die Keimzelle der Schanzenkultur.
Das Künstlerhaus in der Weidenallee, entstanden in einer alten
Schraubenfabrik, war eher besetzt. „Gentrification“ war ein Wort aus
Amerika, da hat man sich nach gesehnt! Man wollte eine Wohnung bekommen,
die ein Bad und eine vernünftige Heizung hatte und die einigermaßen hell
und trocken war.
Hatte man Konkurrenz?
Es gab auch damals auf St. Pauli oder in der Schanze Schlangen bei
Wohnungsbesichtigungen, weil die Wohnungen einigermaßen billig waren, und
sie waren billig, weil die Leute bereit waren, Geld reinzustecken. Die
Problematik war eine ganz ähnliche wie heute: Besonders die jungen Leute
wollten nicht draußen am Stadtrand wohnen, sondern mitten in der Stadt,
besonders wenn man hip sein wollte.
Wie sind Sie eigentlich zur Fotografie gekommen?
Ich weiß gar nicht, ob ich das erzählen soll, aber ich hatte einen Milch-
oder Kaffeebecher, da war so’n comicartiger Bär drauf. Und dieser Bär hatte
eine Kamera umhängen, und er hatte ein Auto. Irgendwie haben mich Bücher,
Autos und Kameras immer begleitet. Mich hat dann eine Frau fotografiert,
ich in so einem Trenchcoat, die hat dann das Bild meiner Mutter verkauft
und ich war total fasziniert, wieso ich da auf einmal auf dem Bild zu sehen
war. Später habe ich mit der Agfa-Klack meiner Mutter die ersten,
frustrierenden Versuche gemacht – frustrierend, weil sowohl die Kamera als
auch ich nicht gut genug waren.
Wie wurde daraus ein Beruf?
Fotografie gab es noch nicht als Studienfach, also habe ich in Hamburg
Grafikdesign studiert, aber in Kombination mit Zeitschriftendesign, also
Layout. Das war ein recht gutes Studium. Ich habe damals Tiefdruckmagazine
entwickelt, die heute fast ausgestorben sind, wie das Zeit-Magazin.
Anschließend musste ich zur Bundeswehr, und da bleibt ja nicht so viel, was
du in deine Taschen tun kannst, bei mir war das halt meine Kamera. Ich
fühlte mich dort total einsam – und die Kamera war das einzige, was ich
hatte. Ich hab dann überall auf Bahnhöfen, überall, wo Kneipen waren, die
Leute fotografiert.
Was auffällt: Die Menschen auf der Straße haben sich offenbar bereitwillig
von Ihnen fotografieren lassen. Gab es da keine Probleme?
Es war einfach, die Leute zu fotografieren. Die waren stolz, die haben sich
gefreut, wenn man sie ablichten wollte. Das Recht am Bild hat niemanden
interessiert. Keiner hat gewusst, dass es so etwas gibt, ich auch nicht.
Dieses juristische Halbwissen war noch nicht verbreitet. Das änderte sich
etwa ab 1969, 1970 – mit den Demos.
Und dann?
Da kramten Polizisten wie Demonstranten plötzlich diesen Artikel aus dem
Bürgerlichen Gesetzbuch hervor und setzten ihre Anwälte in Bewegung, um ihr
Recht am eigenen Bild durchzusetzen. Nach Hausbesetzungen bekamen wir
Fotografen plötzlich Besuch von der Staatsanwaltschaft, die versuchte, an
Fotobeweise zu gelangen. Und es gab Sticker wie „Ihr nennt euch Fotografen,
aber ihr seid nur Verräter!“
Sie sind von der amerikanischen Sozialfotografie beeinflusst worden.
Unser Blick nach Amerika war anders, war viel positiver als heute. Ich
persönlich hab schon immer besondere Ami-Turnschuhe getragen, hab immer
versucht eine 501-Jeans zu bekommen und mein Auto hatte natürlich eine
Heckflosse. Wir haben uns amerikanische Filme angeschaut, und wenn wir aus
dem Kino kamen, waren wir Teil des Films, den wir gerade gesehen hatten.
Die Farbigkeit, die Ästhetik des amerikanischen Films, aber auch der
Fotografie hat mich geprägt. Diane Arbus war für mich ganz wichtig. Die
Gruppe Blende 64, der Fotograf Ralph Gibson mit seinen grobkörnigen
Ausschnitten oder jemand wie Bruce Davidson, der ein Jahr in der Bronx
gelebt hatte, um die Leute dort zu fotografieren. Das alles hatte ich im
Hinterkopf, als ich durch Altona, St. Pauli oder die Schanze lief, auch
wenn ich natürlich wusste, dass man hier in Hamburg nicht so fotografieren
kann wie in New York.
Wie muss man sich Ihr Flanieren als Fotograf vorstellen?
Ich bin oft losgegangen, wenn ich kein Geld hatte – meist kein Geld für
Sprit –, und wenn ich ein bisschen sentimental gestimmt war. Die besten
Fotos habe ich gemacht, wenn es mir gar nicht so gut ging. Die
Ernsthaftigkeit, mit der heute die Leute Fotos machen, um sie in
irgendwelchen Social Media zu posten oder sie auf die eigene Webseite zu
stellen, um sich von anderen abzugrenzen: Da geht vieles verloren, was
nicht den eigenen, egoistischen Bedürfnissen dient. Es geht verloren, weil
die Leute mit der Optimierung ihres eigenen Lebens beschäftigt sind. Das
sage ich nicht, weil ich älter bin, sondern weil ich das auch an mir
entdecke: Ich sitze plötzlich da und tippe auf meinem iPad herum, statt mir
die Umgebung anzuschauen. Ich bin aber noch nicht soweit, dass ich mit dem
iPad herumlaufe und fotografiere!
Haben Sie damals gar keine Prominenten fotografiert?
Fotografiert habe ich sie, für die Petra, für die Vogue, für Esquire. Aber
die Halbwertzeit von Prominentenfotos ist extrem kurz. Heute kennt man sich
nicht mehr oder es bleibt bei einem: „Ach, schau mal, wie der damals
aussah!“ Über die Jahre verschieben sich die Themen oder auch nur die
Anlässe: Ich hab mal einen norwegischen Reeder vor seinem Schiff
fotografiert, auf das der sehr, sehr stolz war. Heute denkst du: Da steht
ein Mann vor einem kleinen Schiff – ja, und? Okay, ich habe noch einige
Fotos von John Irving, die sehr gut sind. Aber die Namenlosen zu
fotografieren, finde ich noch immer spannender. So wie ich nur in einer
Umgebung leben mag, in der ich auch fotografieren mag.
Was würden Sie jemandem raten, der heute fotografieren will?
Alleine ohne Handy, ohne Smartphone durch eine Stadt zu laufen, das ist das
Wichtigste. Dann entstehen vielleicht wieder Bilder, mit denen man der Welt
nah kommt. Ich versuche das gerade selbst: Ich habe von meiner Nichte eine
wunderbare Rolleiflex geschenkt bekommen. Nun muss ich erst mal gucken, ob
die überhaupt gut funktioniert. Aber dann werde ich versuchen, wieder in
Schwarz-Weiß zu fotografieren – mit der Langsamkeit von damals. Vielleicht
gelingt es mir, vielleicht gelingt es mir nicht. Es ist ein echtes
Experiment.
5 Jul 2013
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
WAZ
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