# taz.de -- Musik aus dem Baltikum: Im Gesang vereint | |
> Das Schleswig-Holstein Musikfestival konzentriert sich dieses Jahr auf | |
> Litauen, Lettland und Estland. Doch abgesehen von Geschichte und Gesang | |
> verbindet diese Länder wenig, sagt die in Hamburg lebende lettische | |
> Komponistin Ruta Paidere. | |
Bild: Singen im Chor verbindet: Auch wenn nicht jeder vor so schöner Kulisse a… | |
Woher das Wort „Baltikum“ kommt, weiß keiner so genau. Die einen sagen, die | |
Deutschbalten hätten es erfunden. Andere behaupten, schon die alten Römer | |
hätten eine Ostsee-Insel namens „Baltia“ erwähnt. Und die Etymologen | |
berichten, dass der Begriff – leicht variiert – auf Litauisch, Lettisch und | |
Estnisch „weiß“ bedeutet und die ersten nicht-slawischen Ostsee-Anrainer | |
meint: Kuren und Prußen. | |
Tatsache ist, das man „die Balten“ so leicht nicht fassen kann. Das weiß | |
auch der Chef des Schleswig-Holstein Musikfestivals. Trotzdem hat Intendant | |
Rolf Beck den diesjährigen Länderschwerpunkt „bewegend baltisch“ genannt … | |
wohl auch, weil die Länder zu klein scheinen, um einzeln präsentiert zu | |
werden. | |
„Ich bin froh, wenn hierzulande jemand überhaupt eine Vorstellung vom | |
Baltikum hat“, sagt die lettische Komponistin Ruta Paidere, die an der | |
Hamburger Musikhochschule lehrt. Ihr Werk „Tempera“ wird auch beim Festival | |
zu hören sein. | |
Paidere lebt seit 15 Jahren in Deutschland, hat 2005 den | |
Hermann-Rauhe-Preis für moderne Kammermusik gewonnen und wanderte im Zuge | |
der Wende aus – wie so viele baltische Komponisten, die nach Jahrzehnten | |
des Eisernen Vorhangs Trends aus dem Westen aufsaugen wollten. | |
Das war unmöglich während des Kalten Krieges, der für die Balten eine harte | |
Sowjet-Okkupation bedeutete. Speziell Lettland war von dieser Isolation | |
betroffen, da das Land, umschlossen von Litauen und Estland, ohne Chance | |
auf grenzüberschreitende Westkontakte war. | |
Anders war das in den Nachbarländern. „Die litauischen Musiker und | |
Komponisten orientierten sich an den schon immer etwas freieren und | |
fortschrittlicheren Polen“, sagt Paidere. Und die Esten haben stets ins | |
sprachlich verwandte Finnland geschaut. Vielleicht ist das der Grund dafür, | |
dass estnische Dirigenten und Komponisten – Kristjan Järvi, Tonu Kaljuste, | |
Erkki-Sven Tüür, Arvo Pärt – die im Westen bekanntesten Balten sind. | |
Lettische Musiker orientierten sich angesichts der geografischen Umstände | |
notgedrungen an der Sowjetunion, studierten dort. Wirklich weiterentwickeln | |
konnte sich die lettische Musik während des Kalten Krieges aber kaum, sagt | |
Paidere. Und der nationalromantische Stil, der um 1918 aus dem Kampf um | |
Lettlands Eigenstaatlichkeit entstand, blieb dominant. Tatsächlich habe die | |
lettische klassische Musik erst Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, sagt | |
Paidere. Und nach 1990 sei dieses Timbre hart auf die zeitgenössische Musik | |
geprallt, die Lettlands Komponisten im Ausland vorfanden. | |
Doch trotz mancher Stagnation haben die baltischen Staaten mit dem Gesang | |
ein musikalisches Alleinstellungsmerkmal. Da denkt man zwar zunächst an das | |
Klischee der „singenden Revolution“, die die Wende von 1989 befeuerte – | |
etwa, als zwei Millionen singende Esten, Letten und Litauer eine 600 | |
Kilometer lange Menschenkette quer durchs Baltikum bildeten. | |
Aber der Gesang dieser Völker ist nicht nur politische Waffe, sondern | |
wurzelt tiefer. „Bei uns Letten zum Beispiel ist Singen ein Ur-Element | |
unseres Selbstverständnisses“, sagt Paidere. „Ich glaube, jeder zweite | |
Lette hat schon in einem guten Chor mitgesungen und kennt etliche | |
Volkslieder.“ Auf Familienfeiern sängen die Leute mit | |
Selbstverständlichkeit vierstimmig. | |
Ein Chor, sagt sie, erzeuge ein starkes Gemeinschaftsgefühl. „Es entsteht | |
eine große Kraft, die uns zeigt: Wir sind noch da.“ Und diese Kraft trage | |
auch in schwierigen Zeiten wie dem Kalten Krieg. Damals erlaubten die | |
sowjetischen Funktionäre den Letten nämlich bizarrerweise, die großen | |
Liedfeste mit Tausenden Sängern fortzuführen – in lettischer Sprache, die | |
doch eigentlich dem Russischen weichen sollte. „Ich glaube, dass sie das | |
Volk ruhig halten wollten“, sagt Paidere. | |
Bis 1990 hat das – abgesehen von vereinzelten Untergrund- und | |
Exil-Aktivitäten – funktioniert, aber ein bischen zynisch war es schon. | |
Denn eigentlich wollte die Sowjetunion die kulturelle Identität der Balten | |
vernichten: Sehr systematisch wurden zwischen 1941 und 1949 Zehntausende | |
Balten nach Sibirien deportiert. „Diese Traumata sind bis heute nicht | |
überwunden“, sagt Paidere. „Noch bis in die 1990er-Jahre hinein hatten die | |
Älteren Angst, dass jemand nachts an die Tür klopft.“ Diese Erfahrungen | |
finden sich auch in der zeitgenössischen Musik wieder. Der lettische | |
Komponist Peteris Vasks etwa setze sich sehr bewusst mit den Deportationen | |
der Stalinzeit auseinander, sagt Paidere. Nicht explizit und plakativ. Wohl | |
aber als Schmerz, als Erfahrung. | |
Paidere verarbeitet die schmerzhafte lettische Geschichte nicht in ihren | |
Kompositionen. „Zwar spüre ich eine emotionale Verbindung zur Vergangenheit | |
Lettlands“, sagt sie, „aber ich gehöre einer anderen Generation an und | |
verarbeite dies deshalb nicht in meiner Musik.“ Der 67-jährige Vasks schon. | |
Doch das ist nur eine Facette der baltischen Musik. Eine andere | |
repräsentiert der estnische Komponist Arvo Pärt. Er ist derjenige, der | |
langsam schwingende Klangteppiche ausbreitet und wahlweise als | |
meditativ-spirituell oder archaisch-schamanisch gilt. „Das ist wohl so, | |
weil er die Leute reinzieht in seine Musik“, sagt Paidere. „Da kann man | |
nicht intellektuell außen vor bleiben.“ | |
Pärt kommt auch in westlichen Esoterik-Kreisen gut an und gilt vielen als | |
Inbegriff der baltischen Musik. Aber das treffe es nicht, sagt Ruta | |
Paidere. So etwas wie Nationalstile gebe es nicht mehr, vielleicht eher | |
einen globalen Trend – weg vom Emotionalen, hin zur Philosophie. | |
Irritierend ist nur, dass sich unter den baltischen Musikern fast kein | |
russischer Name findet. Und das, obwohl die Sowjets gezielt Russen in | |
diesen Ländern angesiedelt haben. Zeitweilig waren 30 Prozent der | |
Bevölkerung Russen. Angekommen sind diese Menschen bis heute nicht: Selbst | |
jüngeren Russen wird die lettische Staatsbürgerschaft verweigert. „Viele | |
Letten sind noch so traumatisiert durch die Sowjet-Zeit, dass sie sich | |
nicht öffnen können‘“, sagt Paidere. „Die Integration ist ein ungelöst… | |
Problem.“ | |
Das gilt auch für die Musikszene. Ruta Paidere muss lange nachdenken, bevor | |
ihr ein russischer Komponist aus Lettland einfällt. „Und ich kenne kaum | |
Russen, die in der lettischen Klassik-Szene verkehren.“ Das findet sie | |
bedauerlich. „Irgendwann muss man vergeben“, sagt sie. „Sonst bleibt man | |
der Vergangenheit verhaftet.“ | |
## Schleswig-Holstein Musikfestival: bis 25.August, Internet: | |
7 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Baltikum | |
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