# taz.de -- Stadtbiotop: Auf verschlungenen Pfaden | |
> Wenn der Tiergarten umzäunt würde, käme das für die | |
> Architekturprofessorin Sandra Bartoli einer Entzauberung gleich. Mit | |
> Studierenden erforscht sie die Geheimnisse des Parks. | |
Bild: Auch eine attraktive Art, sich durch den Tiergarten zu bewegen: Die Radl-… | |
Sandra Bartoli schlängelt sich mit dem Rennrad elegant zwischen Zelten und | |
Maschinen durch, die die Straße des 17. Juni versperren, weil gerade mal | |
wieder eine Eventmeile aufgebaut wird und damit der Verkehr zwischen | |
Yitzhak-Rabin-Straße und Brandenburger Tor für eine Woche zum Erliegen | |
kommt. „Bald wird hier dauernd Event gemacht – der Senat will ’den 17. | |
Juni‘ zur offiziellen Festmeile der Stadt ausbauen“, sagt Bartoli, als sie | |
schwungvoll am Sowjetischen Ehrenmal anhält. Aus ihrer lila Tasche zieht | |
die Architekturdozentin einen Stapel Unterlagen: Es sind Pläne des | |
Tiergartens von 1698, auf dem erstmals der Große Stern zu sehen ist. Von | |
1793, mit Bellevue und Kleinem Tiergarten. Und von 2013, mit zwei blauen | |
Linien entlang „des 17. Juni“ und einem roten Kreis von der | |
Tiergartenstraße im Süden bis zur John-Foster-Dulles-Allee im Norden. | |
„Die blaue Linie, das ist ein Klappzaun zur temporären Absperrung der | |
Festmeile“, erklärt sie. „Der rote Kreis wird ein 2,10 Meter hoher | |
gusseiserner Zaun, den der Senat bis zur Fußballweltmeisterschaft 2014 rund | |
um den Tiergarten errichten will.“ Um die zentrale Feiermeile in der Stadt | |
sicherer zu machen, sollen Kabel unterhalb der Straße verlegt, Laternen und | |
Wasserversorgung umgerüstet werden, ein bei Events hochklappbarer Zaun soll | |
links und rechts der Straße Massenpaniken verhindern und den Tiergarten | |
schützen. Fast wie zu den Anfängen des Tiergartens als kurfürstliches | |
Jagdrevier im 16. Jahrhundert, als ein Zaun das Wild am Entweichen hindern | |
sollte. | |
## Zaun eine Entzauberung | |
Der geplante Zaun der Gegenwart soll bei Bedarf auch verhindern, dass sich | |
Besucher ohne Eintrittskarten vom Park aus auf die Festmeile mogeln. Für | |
die Architekturdozentin an der Technischen Universität, die mit 16 | |
Studierenden derzeit im Rahmen eines Seminars den Tiergarten erkundet, | |
kommt die Umzäunung einer Entzauberung gleich: „Das Besondere an diesem | |
innerstädtischen Park ist, dass er geheimnisvolle und undurchdringliche | |
Ecken hat. Er ist voller Pflanzen und Tiere, wie ein Wald. Und voller | |
informeller Nutzungen, von denen nur Eingeweihte wissen.“ | |
Um sich in die Geheimnisse des größten Berliner Stadtparks einzuarbeiten, | |
teilten sich die Seminarteilnehmer in Gruppen auf. Jede bearbeitet und | |
kartografiert einen Quadranten: Wie viel Altbaumbestand? Wie viele | |
Kaninchen, Denkmäler, Flächenbiotope? Welche Orte bevorzugen Obdachlose, | |
FKK-Anhänger, Läufer oder Menschen auf der Suche nach schnellem Sex im | |
Gebüsch? | |
Dorothee Hahn ist eine der Studentinnen, die monatelang auf verschlungenen | |
Pfaden durch den Tiergarten gestreift ist. Mal allein, auf den Spuren von | |
Stammgästen, die jeden Tag denselben Ort im Park aufsuchen. Mal in | |
Begleitung eines Wildvogelexperten vom Naturschutzbund oder einer | |
Gartendenkmalfachfrau. „Es gibt mindestens vier Arten, durch den Park zu | |
wandern“, erklärt die 23-Jährige, als wir „den 17. Juni“ überquert hab… | |
und hinein in den östlichen Tiergarten laufen. Es gibt das offizielle | |
Wegenetz: die großen strahlenförmig vom Großen Stern abgehende Sandstraßen | |
mit kleinen Verbindungswegen. Dann finden sich die inoffiziellen | |
Trampelpfade von Menschen und Tieren querfeldein, dazu die nach dem Zweiten | |
Weltkrieg vom damaligen Gartenbauamtsleiter Willy Alverdes angelegten | |
mäandernden Steinplattenwege. Und schließlich die asphaltierten Abschnitte, | |
die im Zuge des Tiergartentunnelbaus bis 2006 durch das Gelände gezogen | |
wurden. | |
Vier Zeitabschnitte beschäftigen die Parkforscher am meisten: zuerst die | |
Umwandlung des Jagdgebiets in einen barocken Park durch Friedrich den | |
Großen und seinen Baumeister Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, bei der der | |
Park damals seinen Zaun verlor und in geometrische Rabatten und | |
Pflanzenlabyrinthe geordnet wurde. Dann die Gestaltung Mitte des 19. | |
Jahrhunderts nach dem Vorbild englischer Landschaftsparks durch den | |
Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné, der Schmuckelemente wie die | |
Luiseninsel oder die Löwenbrücke anlegte. Die Wiederherstellung und | |
naturnahe Gestaltung des fast vollständig abgeholzten Tiergartens nach 1945 | |
durch Willy Alverdes – und letztlich die Umstrukturierungen der Gegenwart. | |
„Auch wenn er so beschaulich aussieht – der Tiergarten ist einer der | |
umstrittensten Orte Berlins“, sagt Bartoli und zeigt auf das Venusbecken, | |
das 2006 in der Knobelsdorff’schen Fassung mit harten Uferrändern | |
wiederhergestellt wurde. Zuvor war dort ein von Alverdes angelegter, | |
organisch der umgebenden Landschaft angepasster Goldfischteich gewesen. Und | |
eine nackte Venus. Heute steht auf dem Sockel am südlichen Ende des Beckens | |
ein Denkmal für die Komponisten Beethoven, Haydn und Mozart. Das 1904 im | |
Stil des Symbolismus errichtete Werk war kriegsbeschädigt. Die Reste wurden | |
vor dem Tunnelbau eingelagert und nach dem Abriss der Entlastungsstraße | |
frisch restauriert wieder aufgestellt. „Erstaunlich“ findet die Architektin | |
Bartoli, dass die Stadt mit ihrem knappen Haushalt so viel Geld für ein | |
steinernes Wasserbecken „mit höchster Pflegestufe“ ausgebe. Und dass nun | |
drei strenge Musiker auf die Spaziergänger blicken statt einer nackten | |
Barock-Göttin, findet sie „typisch für die Tendenz der letzten Jahre, das | |
scheinbar glorreiche 19. Jahrhundert wieder in den Vordergrund zu rücken“. | |
## Der Park als Duftwüste | |
Gleich hinter dem strengen Wasserbecken, das voller Algen ist, liegt ein | |
zugewuchertes Stück Natur. Der von Alverdes in den 50er Jahren konzipierte | |
Steppengarten sollte als „Duftwüste“ mit trockenheitsliebenden Stauden, | |
Gräsern und Blumen erfreuen. Ein privater Verein kümmert sich heute | |
ehrenamtlich um den Erhalt der Pracht. Für die Parkforscherinnen ein | |
Beispiel dafür, wie sehr sich die Berliner ihrem Tiergarten verbunden | |
fühlen. | |
Die Luiseninsel weiter südlich ist einer der wenigen umzäunten Orte im | |
Park. „Türen geschlossen halten – Kaninchenplage!“, warnen Schilder am | |
Eingang. Drin ist die Statue, die Bürger der 1809 aus dem Exil | |
zurückgekehrten Königin Luise widmeten, umhüllt, sie wird restauriert. Die | |
Anzahl der Nager sei wirklich enorm, bestätigt Dorothee Hahn, die auf ihren | |
Forschungsgängen auch unzählige Eichhörnchen, einige Füchse und Dachse und | |
sogar einen Park-Biber gesehen hat. | |
Auf der anderen Seite des Luisenzauns dominiert wieder ein Stück von | |
Alverdes’ Pflanzenerlebniswelt die Szenerie: Rhododendrenbüsche, im Wechsel | |
mit Eichen und Eschen, schmiegen sich um Ausbuchtungen – die waldartige | |
Perspektive, die sich aus verschiedenen Sichtachsen in Busch- und Baumhöhe | |
ergibt, war von Alverdes sorgfältig geplant. Die kleinen Buchten werden von | |
Obdachlosen als Ruhe- und Schlafstätten genutzt, erklärt Bartoli. Auch als | |
Rückzugsort für verliebte Paare sind die unzugänglicheren Teile des | |
Tiergartens beliebt. Das Areal um die Löwenbrücke im Westen galt bereits im | |
18. Jahrhundert als Liebesnest – und als Treffpunkt für Homosexuelle. Heute | |
ist dort die „Cruising-Wiese“ mit einem vielgenutzten Gebüsch ringsum. Eine | |
Wiese weiter liegen die Nackten, die meisten von ihnen seien nicht der | |
Erotik, sondern der Sonnenbräune wegen da, sagen die Forscherinnen. Ins | |
Gehege kommen sich die beiden Nutzergruppen dennoch nie. Man arrangiert | |
sich stillschweigend, ebenso wie sich Familienausflügler, Touristen und | |
Trinker einvernehmlich zwischen Zoo und Hansaviertel tummeln. | |
## Wildwuchernde Nutzung | |
Im für den Park zuständigen Grünflächenamt von Mitte würde man die | |
wildwuchernde Parknutzung am liebsten stoppen, diesen Eindruck hat die | |
Seminargruppe bei einem Amtsbesuch gewonnen. Die städtischen Parkpfleger, | |
berichtet Bartoli, würden den Tiergarten am liebsten zähmen und sämtliche | |
Nutzungen fein säuberlich zuweisen: hier die Sonnenbader, da die Sportler, | |
dort die Touristen. Mit dem Grillverbot und der Asphaltierung einiger | |
zentraler Wegstücke sei man diesem Ziel bereits näher gekommen. Der nächste | |
Schritt zur Domestizierung von Berlins grüner Lunge wäre der Zaun, fürchtet | |
die Architektin. Für die Tier- und Pflanzenarten würde das eine Abtrennung | |
vom Stadtraum bedeuten. Für die Stadtbewohner gehe das Gefühl verloren, | |
sich mitten in der Stadt verlieren zu können, sagt Bartoli, bevor sie | |
wieder auf ihr Rad steigt und durch ihr Forschungsobjekt zum Büro radelt. | |
Am 9. August präsentiert die Seminargruppe mit einer Ausstellung und | |
Fachdiskussion ihre Ergebnisse. Dabei will man die im Sommerloch | |
untergegangene Zaun-Diskussion neu beleben. | |
Während für die sogenannte Ertüchtigung der Fanmeile bereits Mittel | |
bewilligt wurden, ist die Zukunft des „großen“ Zauns dagegen alles andere | |
als sicher: Die Bezirksverordnetenversammlung in Mitte hatte sich im Juni | |
mehrheitlich gegen die Pläne ausgesprochen. Zuvor hatte es auch im | |
Abgeordnetenhaus und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Widerstand | |
gegen die Pläne gegeben. | |
23 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
## TAGS | |
Biber | |
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