# taz.de -- Konzerte in Kreuzberg: Schreigesang mit Küsschen | |
> Mit Fucked Up aus Toronto und der kalifornischen Legende Black Flag | |
> gastieren an zwei Konzertabenden die Gegenwart und die Vergangenheit des | |
> Hardcore in Kreuzberg. | |
Bild: Rechte Skins sind auch in New York präsent, Archivbild | |
Ein dicker, schwitzender Mann stürzt sich von der Bühne in die Menge. Er | |
bahnt sich den Weg durch das Publikum. Das Mikrokabel folgt ihm, sein | |
Schreigesang dröhnt durch den Raum. Mit nacktem Oberkörper umarmt er ein | |
paar Leute im Publikum. Er pogt, wütet herum. "Ah, was für eine gute | |
Therapie", sagt er einmal zwischen den Songs. | |
Damian Abraham ist Sänger der kanadischen Hardcore-Band Fucked Up. Mit | |
gefühlten 60 Grad hat der Magnet Club am Dienstagabend die richtige | |
Betriebstemperatur für ein solches Konzert. Pogo, Stagediving, Mitgrölen: | |
Die Zuhörerschaft, meist Menschen um die dreißig, nimmt das Angebot | |
wohlwollend an. Abraham springt derweil auf die Theke und singt von dort | |
aus, die Jogginghose in den Kniekehlen hängend. | |
Mit Fucked Up kam die Gegenwart des Hardcore nach Kreuzberg, am Mittwoch | |
folgte die Vergangenheit: Black Flag spielten im Lido. Genau: Die Black | |
Flag aus Kalifornien, die das Genre Hardcore Anfang der Achtziger | |
mitbegründet hatten. Mit Gitarrist Greg Ginn und Sänger Ron Reyes reisten | |
sie mit zwei frühen Mitgliedern der Band an - der berühmteste Sänger der | |
US-Amis, Henry Rollins, war allerdings nicht dabei. | |
Im fast ausverkauften Lido ist das Publikum dann einige Jahre älter, die | |
Pogerei klappt aber auch mit vierzig noch ganz gut. Altpunks, Skinheads, | |
Männer in Feinripp und junge Frauen mit zerrissenen Nylonstrumpfhosen geben | |
sich im Circle Pit, dem Kreis des Pogotanzes, die Klinke in die Hand. Viel | |
nackte, tätowierte, schweißbeperlte Haut ist zu sehen. | |
Sänger Reyes, klein und massig, halblanges, dunkles Haar, trägt Songs des | |
epochalen "Damaged"-Albums von 1981 vor, etwa "Six Pack", "TV Party" oder | |
"Gimme Gimme Gimme". Seine Gestik und Show wirkt dabei einstudiert. Zwar | |
brüllt er ordentlich - die Kraft der frühen Alben aber, die seinerzeit der | |
nihilistische, angepisste Gegenentwurf zur frühen Reagan-Ära waren, | |
transportiert er selten. | |
Gitarrist Ginn spielt derweil immer wieder mit seinem Effektgerät herum. | |
Eine interessante Maschine zwar - mit einer Art Antenne, die auf Bewegung | |
reagiert -, es wirkt aber so, als hätte Ginn den Abend lieber in | |
Zweisamkeit mit seinem Verzerrer verbracht. Wäre ja auch okay gewesen, nur | |
zu den Liedern passte es nicht immer. | |
Ein Song wie "Rise Above" funktioniert mit seinem schlichten, kämpferischen | |
Refrain ganz ohne Effekte: "We are tired of your abuse / try to stop us | |
it's no use". Alle Zeigefinger Richtung Bühne. Die Zuhörer im fast | |
ausverkauften Saal wirken zufrieden. Rührende Szenen: Ein glatzköpfiger | |
Mann, vielleicht in den Fünfzigern, verliert beim Pogo die Brille, ein | |
Jüngerer hebt sie für ihn auf. Es folgen Küsschen. | |
Und trotzdem ist der Black-Flag-Auftritt insgesamt enttäuschend, | |
zwischendurch gar langweilig. Man sollte sich heute vielleicht eher eine | |
Band Achtzehnjähriger anschauen, die mit Hingabe Black-Flag-Songs covert, | |
um zu verstehen, was diese Musik auszeichnet. | |
Oder man schaut sich die zeitgemäßeren Fucked Up an. Die liefern | |
schließlich am Vorabend eine große Live-Performance. Und schaffen es doch, | |
an alten Inhalten festzuhalten. Schließlich kümmert sich Abraham in seinen | |
Ansagen noch um den Körper als Kapital, um es mal mit Pierre Bourdieu zu | |
sagen. In Abrahams Worten: "Wir alle hier im Raum sind hässlich, aber wisst | |
ihr was, die Schönen und Schicken da draußen sind auch hässlich. Vielleicht | |
sogar hässlicher." Bei Abraham ist der Körper ein Akt der Rebellion. Free | |
your body, and the rest will follow. | |
Auch die Mixtur aus melodischem Indiepunk, Pop und dem Schreigesang | |
Abrahams bleibt den Abend über spannend. So eigenwillig wie gut ist der | |
gesangliche Dialog zwischen Bassistin Sandy Miranda und Abraham, die dem | |
brüllenden Frontmann mit klarem Sopran antwortet. | |
Was man dem Punk nachsagt, gilt auch für den Hardcore: Er sei längst ein | |
Toter, der nur noch wie ein Zombie durch die Clubs zieht. Und die großen | |
Innovationen des Genres - wie sie etwa Bands wie Refused oder At The | |
Drive-In noch um die Jahrtausendwende schufen - scheinen tatsächlich nicht | |
wiederholbar. Während aber ein lauwarmes Aufbrühen alter Songs wie bei | |
Black Flag kein Mensch braucht, geben Bands wie Fucked Up wenigstens ein | |
wenig Hoffnung. | |
9 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
USA | |
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