# taz.de -- Gefangen in der Freiheit: Mit wem man nicht spricht | |
> Seit der Ex-Sicherungsverwahrte Jens B. in Hamburg-Moorburg lebt, ist es | |
> still geworden. Polizisten folgen ihm stets, die alten Protestschilder | |
> baumeln im Wind. Ist er noch gefährlich? | |
Bild: Zeichen des stillen Protests: Die geräumte Haltestelle auf der anderen S… | |
HAMBURG taz | Der Mann, der jenseits der Autobahnbrücke wohnt, spricht | |
nicht. Andere tun es für ihn. | |
So wie der lange Kerl, der die Tür des Mannes öffnet, wenn man dort | |
klingelt. Er sagt: „Mein Kollege nimmt Ihren Ausweis jetzt mal kurz mit.“ | |
Oder die Frau, die hier im Hamburger Stadtteil Moorburg Kinder betreut – | |
auf ihrer Seite der Brücke. Sie sagt: „Herr B. möchte nicht wie ein | |
Sozialfall behandelt werden“. Weil „Jens B.“ in der Zeitung steht. Ein | |
Polizeibeamter habe ihr erklärt, was der neue Nachbar wünscht. Keinen | |
Kontakt nämlich. Seit einem Dreivierteljahr hält sie sich daran. | |
Jens B. ist 53 Jahre alt und er war 25 Jahre im Gefängnis. Verurteilt, weil | |
er 1985 eine Frau in Göttingen vergewaltigt und beinahe getötet hat. Auf | |
die Haft folgte seine Sicherungsverwahrung. Während er saß, entschieden | |
draußen die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über das | |
Schicksal von Langzeitgefangenen wie ihn. Das Hamburger Landgericht musste | |
seinen Fall erneut prüfen und ließ ihn gehen – mit der Auflage, in einer | |
städtischen Einrichtung zu leben. | |
Als Jens B. vom Gefängnis in ein ehemaliges Altenheim in Hamburg-Jenfeld | |
zog, war es Februar 2012. Damals wohnten dort bereits zwei Männer, die wie | |
er aus der Sicherungsverwahrung kamen. Polizisten patrouillierten vor der | |
Tür, an manchen Tagen fuhren Autokorsos durch die Straßen und oft | |
versammelten sich Menschen vor dem Fenster, um zu protestieren. | |
„Kinderficker“, sagten sie: „Warum gerade hier?“ | |
Neun Monate später brachten die Polizisten Jens B. in eine neue Unterkunft, | |
als einzigen der drei freien Männer. Seine früheren Mitbewohner leben heute | |
anonym in eigenen Wohnungen. In der Stadt, die Polizei hält es nicht mehr | |
für nötig, sie zu bewachen. Jens B. lebt in Moorburg, knapp 800 Einwohner, | |
im Haus mit der Nummer 329. Das weiß hier jeder. | |
Wer Jens B. vergisst, den erinnern die Schilder an ihn. An die Gartenzäune, | |
an Laternenpfähle und an die Bäume am Straßenrand haben die Nachbarn hier | |
Plastiktafeln geknotet. Auf die weißen Quadrate sind Zeichnungen eines | |
Turms gedruckt: Ein Bild der alten Burg, die dem Ort seinen Namen gab. Mehr | |
nicht. Weil keiner mit Jens B. spricht und weil das Sprechen über ihn so | |
mühselig geworden ist, gibt es in Moorburg jetzt einen stillen Protest. | |
„Eine Symbolik, die nicht abwertet“, sagt Manfred Brandt. Er ist 68 Jahre | |
alt und er war 30 Jahre in der FDP. Brandt hat das Motiv entworfen. An | |
seiner Haustür hängt es auch, bloß viel größer, auf ein Tuch gedruckt. Auf | |
Papier klebt die Turmzeichnung in jedem seiner Fenster, und am Fahnenmast | |
im Hof hat er sie ebenfalls gehisst, in Pastellfarben. „Wir müssen | |
durchhalten“, sagt Brandt. Sein Bart ist weiß, die Nase knollig, er ist | |
hier aufgewachsen. | |
Auf dem Gehöft seiner Eltern vermietet Brandt Ateliers an Künstler, die ihm | |
Selbstgetöpfertes auf die Wiese stellen oder Skulpturen aus Metall. Er | |
selbst hat hier Rosen gepflanzt. Sein Antrieb für den Protest gegen Jens B. | |
sei weder Feindseligkeit noch Egoismus, sondern die Politik. Ihm gehe es | |
auch um den Menschen B.: „Der hat hier ja auch kein Gefühl von Sicherheit“, | |
sagt Brandt, „so auf dem Präsentierteller.“ Er habe viel über | |
Traumatisierung gelesen im letzten Jahr, über sexuelle Gewalt. | |
In Moorburg sei die Kritik im Gegensatz zu Jenfeld „sehr differenziert“, | |
lobt der Leiter des zuständigen Polizeikommissariats, Dirk Noetzel. Dies | |
hier, sagt er, sei „intelligenter Protest“. | |
„Wir wollen es ihm hier so ungemütlich wie möglich machen, damit er wieder | |
geht“, sagt die Frau, die auf Brandts Hof Keramik verkauft. „Wer will schon | |
neben einem Schwerverbrecher wohnen?“, fragt der Mann im Nachbarhaus. | |
Jens B. sieht die Schilder von Manfred Brandt, wenn er mit dem Fahrrad | |
fährt. Dann radelt er den Deich entlang, oben, wo sich die Rasenfläche den | |
Hafenkränen entgegenwölbt. Hier sehen ihn auch die Leute, wenn sie mit | |
ihren Hunden spazieren gehen: einen Mann mit Schutzhelm und Sonnenbrille, | |
immer begleitet von mindestens zwei Herren in Zivil. | |
„Er fährt viel Fahrrad“, sagt seine Anwältin Ines Woynar. „Er mag das, … | |
wohnen.“ In der Zeitung steht: „Sex-Verbrecher radelt der Polizei davon“. | |
Einmal, erzählen sich die Moorburger, habe der Hubschrauber schon gekreist. | |
Da sei er abgehauen. Zweimal schon, sagt Brandt. Wenn jetzt der | |
Verkehrshubschrauber über der Autobahn steht, sagen die Leute: „Na, ist er | |
wieder unterwegs?“ | |
Die Beobachtung des ehemals Sicherungsverwahrten Jens B. durch die | |
Polizeibeamte muss an 24 Stunden am Tag gewährleistet sein. | |
Die Opposition in der Hamburgischen Bürgerschaft hat ausgerechnet, dass die | |
Überwachung von B. in Moorburg die Staatskasse bisher mindestens 600.000 | |
Euro gekostet hat. Zusammen mit dem Ausbau des Bauernhauses, in dessen | |
Erdgeschoss Sozialarbeiter und Polizeibeamte eigene Aufenthaltsräume | |
bekommen haben, sind es 870.000 Euro. | |
Zusätzliches Geld zahlte der SPD-Senat an den Kindergarten und den | |
Reiterhof – Entschädigungen, weil Eltern ihre Kinder abmeldeten, aus Angst | |
vor Jens B. Dazu eine Familie, die fort zog und deshalb Geld bekam, das | |
macht laut CDU knapp 900.000 Euro. Minimum. | |
Viel Geld, um die Bevölkerung vor einem einzelnen Mann zu schützen. Wie | |
gefährlich ist Jens B.? | |
Als das Hamburger Oberlandesgericht B. im Dezember 2011 in die Freiheit | |
entließ, stützte es seine Entscheidung auf zwei Gutachten. Sachverständige | |
hätten darin festgestellt, „dass bei dem Betroffenen nicht mehr die Gefahr | |
bestehe, dass er erhebliche Straftaten begehe“, zitierte die Welt die | |
Richter. | |
Warum also wird Jens B. trotzdem von der Polizei bewacht? Wer hat gesagt, | |
dass er so bedrohlich ist, dass es dieses hohen Maßes an Sicherheit bedarf? | |
Die Entscheidung, ob von B. noch eine Gefahr ausgeht, nennt der Sprecher | |
der Hamburger Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) den Schwarzen Peter. Und | |
der liege glücklicherweise nicht bei Schiedek. „Das ist die alleinige | |
Entscheidung der Polizei“, sagt er: „Ich bin froh, dass ich sie nicht | |
treffen muss.“ | |
Die Grundlage, auf der Jens B. zurzeit bewacht wird, ist ein Polizeigesetz. | |
Eigentlich regelt es, wie verdächtige Personen beschattet werden dürfen: | |
die Observation. In Moorburg, sagt ein Polizeisprecher, observierten die | |
Beamten eben „offen“ – zur Gefahrenabwehr. | |
Wie lange wird das nötig sein? „Wenn die Führungsaufsicht feststellt, dass | |
er sich so weit sozialisiert hat, dass die Gefährdung nicht mehr gegeben | |
ist“, sagt die Polizei. | |
Im Oktober, noch bevor jemand im Bauernhaus wohnte, versammelten sich in | |
der Abenddämmerung mehr als 100 Frauen an der Bushaltestelle „Moorburger | |
Kreuzung“. Denn dort, wo das Haus steht, hielten auch die Busse. Hier | |
stiegen die Frauen ein, hier warteten die Kinder. Wenn sie unter dem | |
Windschutz der Haltestelle hervorschauten, hätten sie Jens B. geradewegs in | |
die Augen sehen können – und er ihnen. | |
Der Senat schickte einen Staatsrat. Heute blickt B. auf ein leeres | |
Häuschen, die Bushaltestelle ist jetzt auf der anderen Seite der Kreuzung. | |
Der Fußweg von der St.-Maria-Magdalena-Kirche bis zur Tür des Bauernhauses | |
dauert eine halbe Stunde. Gegangen ist ihn Pastorin Anja Blös noch nie. | |
„Von offizieller Seite“, sagt sie, habe man ihr zu verstehen gegeben: „F�… | |
ihn ist es wichtig, in Ruhe gelassen zu werden.“ Daran halte sie sich, wie | |
alle hier im Ort. Die Polizei mache sich Sorgen, dass Jens B. Bindungen | |
aufbauen könnte, sagt auch Schildermaler Manfred Brandt. | |
Die Polizei widerspricht: „Für uns hätte das keinen Sinn“, sagt eine | |
Sprecherin: „Unser Interesse ist, dass der Mann so schnell wie möglich | |
wieder in die Gesellschaft integriert wird.“ | |
Hat doch die Gemeinde den Schwarzen Peter? „Ich bin verärgert, wenn ich | |
höre, dass die Sprecherin das so sagt“, antwortet Pastorin Blös. Würde Jens | |
B. sie als Pastorin aufsuchen – sie würde ihn nie abweisen. | |
Anruf im Senat. Eine Frage an den obersten Dienstherrn der Polizei, | |
Innensenator Michael Neumann (SPD): Wie sollen, seiner Meinung nach, | |
Integration und Jobsuche unter ständiger polizeilicher Begleitung gelingen? | |
Die Antwort: „Zu Fragen der gesellschaftlichen Integration des Betroffenen | |
ist die Pressestelle der Justizbehörde die richtige Ansprechpartnerin.“ | |
Ist also doch Justizsenatorin Schiedek verantwortlich für das Schicksal von | |
Herrn B.? Wie kommt ein Mann zurück in die Gesellschaft, dem seit | |
anderthalb Jahren Polizisten folgen? | |
Wie es mit den Mitmenschen läuft, solle man doch besser Sozialarbeiter | |
fragen als eine Senatorin, sagt Schiedeks Sprecher. | |
Im Bauernhaus betreuen die Eingliederungshelfer des sozialen Dienstes | |
„Fördern und Wohnen“ Jens B. Sie schreiben Bewerbungen mit ihm, dem | |
gelernten Gärtner. „Mein Mandant nimmt jeden Job“, sagt seine Anwältin | |
Woynar. Doch die Polizisten wichen ja nicht von seiner Seite – auch nicht | |
bei potenziellen Arbeitgebern. Selbst bei landeseigenen Betrieben klappe es | |
deswegen nicht, eine Arbeit für ihn zu finden. | |
Die Polizei bestreitet das: „Bei Bewerbungsgesprächen sind wir nicht | |
dabei.“ „Fördern und Wohnen“ sagt: Die Polizisten einzusetzen, sei eine | |
Entscheidung der Innenbehörde, „die möchten wir nicht bewerten“. Die Katze | |
beißt sich in den Schwanz. | |
Anwältin Woynar streitet vor Gericht dafür, dass Jens B. nicht mehr | |
überwacht wird – oder zumindest so, wie man sich eine Observation | |
vorstelle: „Dass sie einen Schlapphut aufhaben, um die Ecke stehen und | |
nicht zu sehen sind“, sagt sie. Damit seine Resozialisierung beginnen | |
könne, so wie bei anderen Straftätern auch. In Anonymität. | |
Bloß ist Jens B. kein normaler Straftäter. Er ist ein Politikum. Eine | |
Antwort darauf, wie gefährlich er ist, scheitert in Moorburg bereits an der | |
Frage. Hier sollte sie lauten: Welcher Kopf rollt, wenn trotzdem etwas | |
passiert? Dann wird sich zeigen, wer den Schwarzen Peter hat. | |
9 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Kristiana Ludwig | |
## TAGS | |
Sicherungsverwahrung | |
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