# taz.de -- Zum Nachdenken an die Nordsee: Auftanken am Meer | |
> Ein Kurzurlaub in Egmond aan Zee. Der Strand ist perfekt: weit und glatt, | |
> gelb und sandig. Ein idealer Ort um Entscheidungen treffen zu können. | |
Bild: Sonnenuntergang am Strand vom Egmond aan Zee. | |
Der Himmel ist groß. Groß und satt blau. Es ist gutes Wetter heute. Ich | |
schaue aus dem Fenster eines „Eet-Cafés“, eines Esscafés, am Bahnhof | |
Alkmaar. Das Esscafé heißt „Petershoek“ (Peters Ecke) und ist | |
durchschnittlich, aber gemütlich. Die wenigen Gäste sind altersmäßig | |
durchmischt, im Hintergrund läuft „Winds of Change“. Ich habe mir ein | |
Broodje mit Schinken und eine Portion Fritten bestellt, dazu einen „Koffie | |
verkeert“ und werde dafür etwa 10 Euro los. Es scheint hier teuer zu sein. | |
Holland, hier stimmt die Bezeichnung, denn wir sind in der Region | |
„Noord-Holland“, etwa eine halbe Stunde nördlich von Amsterdam. | |
Kopf lüften, über Beziehung nachdenken, Abstand gewinnen – das waren die | |
Reiseziele, für so etwas sollen Spaziergänge am Strand ja geeignet sein, | |
und in dieser Region habe ich mich als Kind schon wohlgefühlt. Das Wetter | |
ist gut. Die Fritten kommen mit Mayonnaise; Ketchup ist anscheinend | |
verpönt. Die Mayonnaise heißt Frittesaus, also Frittensoße. Die Autos haben | |
gelbe Nummernschilder. | |
Denkt man sich noch das andere typische Merkmal Hollands hinzu, nämlich den | |
Käse, hat man eine Dreifaltigkeit des Gelben: Frittesaus, Autokennzeichen, | |
Käse. Alles ist gelb. Gelb muss die Nationalfarbe Hollands sein, gelb wie | |
die Sonne und die Haare der Meisjes. Und Gelb zieht die Deutschen an, wenn | |
auch hauptsächlich die aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet, für die ist | |
das gelbe Holland nämlich so etwas wie ein Anti-Österreich, keine Berge, | |
dafür viel Wasser, keine Volkstümelei mit Akkordeon und Schnitzel, dafür | |
Pommes und deutsche Schlager, und alles genauso verbaut wie zu Hause. | |
Aber gelb ist nicht die Nationalfarbe Hollands. Die ist nämlich orange. | |
Aber das macht nichts. Neben der Fluchtperspektive ist da noch etwas | |
anderes, dem ich nachspüren möchte, dem Charme nämlich, den so viele | |
Deutsche aus Dinslaken, Düsseldorf und Detmold hier suchen, Saison für | |
Saison. | |
Am Bahnhof Alkmaar nehme ich den Bus, den 165er, der eine Viertelstunde bis | |
zum Ziel braucht, die Fahrkarte kostet 2,90 Euro. Die gelbe Sonne steht | |
hoch über Egmond aan Zee. | |
Der Himmel: groß. Das Meer: tosend. Egmond aan Zee ist ein typischer | |
niederländischer Badeort. So wie Scheveningen oder Zandvoort, nur nicht so | |
bekannt. Egmond ist ein altes Fischerdorf, dessen Ursprünge bis ins zehnte | |
Jahrhundert zurückreichen. Damals bestand es aus ein paar Häusern für Arme | |
mit beschränkten Fischereirechten. Dann schlummerte Egmond jahrhundertelang | |
vor sich hin, bis es in den 1950er Jahren von Prinzessin Beatrix entdeckt | |
wurde, die hier eine Kinderlandverschickung ansiedelte. Heime für kranke | |
Kinder, die sich an der Seeluft erholen sollten. | |
## Die drei Schwestern | |
Und dann kam der Tourismus. Fischerei, Seeluft, Tourismus. Die nächste | |
Dreifaltigkeit – Egmond aan Zee hat zwei Schwesternorte, nämlich Egmond aan | |
den Hoef und Egmond-Binnen, Letzteres beinhaltet eine Abtei, von der aus in | |
früheren Zeiten die allgemeine Christianisierung gesteuert wurde – ist | |
heute sehr leicht zu erkennen. | |
Es gibt einen Ortskern mit kleinen, alten Gebäuden, die dem Tourismus | |
dienen. Es gibt verschlafen wirkende Wohngebiete mit den für die | |
Niederlande üblichen Häusern mit roten Klinkern und Backsteinfassaden; aber | |
auch diese haben oft ein Schild der gut organisierten Zimmervermittlung im | |
Wohnzimmerfenster, meist sogar auf Deutsch („Zimmer frei“ oder „Zimmer | |
voll“), und es gibt die großen Bettenburgen direkt am Strand und am | |
Ortsrand. | |
## Und die Feriengäste kommen immer wieder | |
Untergekommen bin ich bei einer Dame, die morgens Tennis spielen geht und | |
davon lebt, hier zu wohnen. Sie vermietet eine „kamer“ im ersten Geschoss | |
ihres Hauses, dazu vermietet sie noch ein weiteres Zimmer und draußen | |
irgendwo ein Ferienhaus. | |
Warum ich hierhergekommen sei?, fragt sie. Ich war als Kind schon mal hier, | |
sage ich. Ah, das erzählen viele! Sie kommen immer wieder, lacht sie. Von | |
meinen privaten Erwägungen erzähle ich nichts. Es ist eine Woche her, dass | |
fast Schluss gewesen wäre. | |
Die Diktatorin meines Herzens hätte mich beinahe an die Luft gesetzt. | |
Unsere Prinzipien lagen zu weit auseinander. Unsere Grenzen hatten Grenzen. | |
Wieso muss ich plötzlich wieder Situationen aushalten, gegen die ich mich | |
vor Jahren schon entschieden hatte?, fragte ich mich auf dem Weg in den | |
Ortskern. | |
Ein Mann ohne Socken an den Füßen kam mir entgegen. Er fotografierte eine | |
Bushaltestelle. Egmond aan Zee schien mir in Momenten genauso prekär zu | |
sein wie ich mir selbst. Und meine Beziehung dazu. | |
## Das Museum in der Kapelle | |
„Auf einer Karte des alten Fischerdorfs Egmond aan Zee ist zu sehen, wann | |
Teile des Dorfs im Meer verschwunden sind“, heißt es in einer | |
Werbebroschüre für das lokale Museum. Das Museum ist das kleinste und | |
unscheinbarste, das man sich vorstellen kann: Es befindet sich in einer | |
ehemaligen kleinen Kapelle. | |
Eine ältere Frau sitzt am Empfang. Im Raum gibt es jede Menge Land- und | |
Seekarten und alte Fotos, auf denen Frauen diese weißen | |
Antje-aus-Holland-Mützen tragen, eine nachgebaute Wohnstube mit echten | |
Utensilien und ein Fischerboot. | |
Tatsächlich gab es öfter einmal einen großen Sturm, die Allerheiligenflut | |
von 1570, den Sturm von 1741, woraufhin hin das ganze Dorf inklusive Kirche | |
rückgebaut wurde, weiter ins Land hinein versetzt. Dort, wo es ursprünglich | |
stand, ist jetzt das Meer. | |
## Schwere dunkelgraue Regenwolken am Himmel | |
Nach dem Museumsbesuch setze ich mich auf eine Parkbank gegenüber einem | |
Springbrunnenkunstwerk. Eine Betonplatte, aus der Fontänen sprühen, die vom | |
Wind gezogen werden. Ich sitze im letzten Fitzel Sonne und schreibe meiner | |
Freundin eine Postkarte. Die Frage ist aber auch, schreibe ich, wieweit du | |
von dir selbst absehen kannst. Ich schaue noch einmal nach den Fontänen, | |
die jetzt, der Wind hat nachgelassen, einen erschlafften Eindruck machen, | |
und streiche den Satz wieder durch. | |
In der Nacht setzt ein kleiner Seesturm ein. Am nächsten Morgen hängen | |
schwere graue Wolken über dem Meer, treiben schnell ins Landesinnere. | |
Schwarze Wolken auf Verfolgungsjagd. Regen, seit ich wach bin. Hier kommen | |
die Atlantiktiefs über den Kontinent herein, denke ich auf dem | |
Morgenspaziergang, während eine Maschine der KLM aus den Wolken geflogen | |
kommt. | |
Egmond ist auch Einflugschneise für Schiphol, den Flughafen von Amsterdam, | |
morgens und abends. Den Tourismus vor Ort stört es nicht. Pünktlich zum | |
Mittag kommt wieder die Sonne raus. Auch hier gibt es nur die eine. Es ist | |
Spätsaison, wenn überhaupt noch Saison ist. Es gibt viele Cafés und kleine | |
Restaurants, aber nur ein einziges Café mit WLAN. Wie erwartet sind viele | |
Deutsche hier, die meisten aus dem Ruhrgebiet oder aus dem Rheinland, | |
jedenfalls den Autokennzeichen nach. | |
Holland als Einflugschneise für deutsche Touristen, das ändert sich nie. | |
Insgesamt kommt man gut miteinander aus, die Wunden der Geschichte sind | |
weitestgehend verheilt, auch wenn man die Narben noch hier und da | |
aufblitzen sieht. | |
## Kaffee geschmuggelt wird heute nicht mehr | |
Und während mir im Supermarkt auffällt, dass die Zeiten lange vorbei sind, | |
in denen man Kaffee aus Holland über die Grenze geschmuggelt hat, gibt mir | |
die Kassiererin den fehlenden Cent nicht zurück. | |
In den Niederlanden gibt es keine 1-Cent-Stücke. Das war schon so, als es | |
den Gulden noch gab. | |
Dann gibt die automatische Schiebetür den Weg frei, und ich schaue mich | |
abermals um. Ich weiß nicht, was die Architektur hier über die Menschen | |
erzählt: niedrige Häuser, knallig blaue oder rote Fenster- und Türrahmen, | |
dunkelroter Backstein, Nebengelasse. Es scheint, als treibe der Ort | |
gemächlich vor sich hin, seit er in den sechziger Jahren seine Momente | |
hatte. Nein, er treibt nicht, er bleibt einfach stehen. Die Zeitgeschichte | |
interessiert sich nicht für diesen Ort. | |
## Keine apokalyptischen Zeichen | |
Der Untergang, der unweigerlich eines Tages kommen wird, es sei denn, die | |
Niederländer werden auch weiter die Weltmeister des Dammbaus und der | |
Landgewinnung sein, die Bastion gegen die Natur schlechthin, bei all dem | |
schlechten Geschmack und dem milden Calvinismus, der sich hinter den Dämmen | |
breitmacht, der Untergang kündigt sich hier nicht an. Keine apokalyptischen | |
Anzeichen. Nichts sieht nach Verfall aus. | |
Etwas verbaut ist das Ganze. Aber selbst die Strandhotels, die | |
architektonischen Experimente der sechziger bis achtziger Jahre, sie passen | |
hier hin. Sie sehen sogar gut aus. | |
Ein Bus mit getönten Scheiben fährt vorbei. Es gibt nur zwei Ziele von hier | |
aus: Alkmaar und die südlich gelegene Sandburg mit dem nach Asterix-Heften | |
klingenden Namen Castricum. Es gibt auch die kleineren Ortschaften Wimmenum | |
und Bakkum. Ehemalige römische Kolonien? Wohl kaum. | |
Die Zeit vergeht. In der Hauptsaison gibt es ein Nachtleben, sagte man mir, | |
von dem jetzt nichts mehr zu spüren ist. Die Bars haben zu. Man sieht auch | |
keine Jugendliche. Ein paar Kinder, die mit ihren Eltern hier sind. Viele | |
Rentner, die sich in den Fischrestaurants stärken. | |
## Auftanken und durchatmen | |
Ich gehe ans Meer zurück. Das Meer ist ein Sedativum, ein unendlich sich | |
ausbreitender Raum. Eine weite blaue Fläche, mal grüner, mal grauer, mal | |
aufgewühlter, mal flacher. Mit den meisten Menschen, es gibt Ausnahmen, | |
passiert irgendwas am Meer. Sie schalten runter. Sie fühlen sich | |
angekommen. Am Ziel ihrer Träume vielleicht. Sie tanken auf. Sie atmen | |
durch. Man geht spazieren, man wirft das Treibgut in die Fluten zurück, und | |
wenn man einen Hund hat, dann springt der dem Treibgut hinterher und bringt | |
es wieder an Land, schneller als die Flut. | |
Der Strand ist weit und glatt, gelb und sandig. Die Nordsee weicht aus, | |
wenn Ebbe ist, hinterlässt Rinnsale, Pfützen. | |
„Du allein machst auch noch keinen Sommer!“, sage ich zu einer | |
einzelgängerischen Möwe. Ich kann Möwen nicht von Schwalben unterscheiden. | |
Der Rest der Flugschar wird ein paar hundert Meter weiter von einer Frau in | |
einer roten Outdoor-Jacke gefüttert. Die Möwen fangen die Beute in der | |
Luft. | |
Der Strand ist gelb, breit, weitläufig. Es ist der perfekte Strand. Keine | |
Kieselsteine, keine Felsen, kein Grund für Crocs. Eine einzige große Qualle | |
wird angeschwemmt. Der Strand ist der beste Grund hierherzukommen, weniger | |
das eher schlechte Essen (außer den Fritten und dem Fisch) oder die | |
Architektur, die niederländische Moderne, oder das Gras, das es für | |
Deutsche inzwischen auch nicht mehr frei zu kaufen gibt. Es ist der | |
weitläufige gelbe Sandstrand. | |
## Suche nach Nähe | |
Ist der Strand gut, ist auch der steile Wind gut. Die raue Nordsee! Das | |
tosende Meer! Inzwischen grüßt eine Vielzahl ins Wasser gebauter Windmühlen | |
am Horizont. Bei dreißig höre ich auf zu zählen. Offshore-Windenergie. Was | |
die Westdeutschen hier vornehmlich suchen, ist die Nähe, die geografische, | |
soziale, auch die politische. Sie suchen sich selbst beim Anblick des | |
Meers, sie suchen ihre bessere Seite an Land. | |
Die Niederlande galten lange als Vorbild. Das liberale Holland, sagte man. | |
Es gibt weiche Drogen, es gibt eine perfekt scheinende Integration und | |
schöne Landschaften mit Kanälen und Windmühlen, und ansonsten ist alles so | |
ähnlich wie zu Hause. Schon die Sprache klingt wie ein Deutsch, das sich | |
mit „Frittesaus“ und Sonnenmilch „eingekremt“ hat. Und schnell | |
verständlich, wenn man es darauf anlegen würde. | |
Macht aber niemand. Denn die Niederländer sind meist so zuvorkommend, dass | |
sie die Sprache der Nachbarn sprechen. Hier sind auch die Hierarchien | |
flacher, das Gemeinschaftsgefühl ist größer. | |
## Rechtspopulismus in Orange | |
„Help de oorlog uit een kind te halen“, meldet ein Plakat am Strand, was | |
mit „Helft mit, den Krieg aus einem Kind zu holen“ nur sehr unzureichend | |
übersetzt ist. Allerdings sollte man sich nicht täuschen. Die wirklich | |
liberalen Jahre sind vorbei. Der Rechtspopulismus ist stark geworden. Und | |
kleidet sich gern in Orange. Und nicht in Gelb. | |
Als die Niederlande die Deutschen im Halbfinale der | |
Fußballeuropameisterschaft 1988 schlugen, malten unsere Nachbarn ihre | |
Gehsteige und die Gehsteige der deutschen Grenzstädte orangefarben. Als sie | |
das Finale gewonnen hatten, sprangen sie in die Grachten. Vor der Revanche | |
bei der Weltmeisterschaft zwei Jahre darauf hat der Zoll beidseitig | |
sicherheitshalber die Grenzen geschlossen, schon vor dem Spiel. Es blieb | |
weitestgehend friedlich. | |
Jetzt sitze ich wieder in der Sonne und esse Backfisch. Mit heißer | |
Remoulade! Danach vielleicht ein Softeis. Fritten, Backfisch, Softeis, | |
Schokostreusel, Vla, Pindakaas (Erdnussbutter): Holland – auch für Kinder | |
ein kulinarisches Paradies. | |
## „Nicht käuflich“ steht auf der Kunstpostkarte | |
Have love, will travel. Ich wende eine zweite und dritte Postkarte herum. | |
Auf der einen steht vorn das Wort „geluk“, also „Glück“, es ist eine | |
Kunstpostkarte, der Künstler hat das Motiv „Nicht käuflich“ genannt. Ich | |
weiß gar nicht, ob das stimmt. | |
Macht Strandnähe nicht eben schon ein kleines Stück Glück aus? Und ist | |
Strandnähe etwa nicht käuflich? Meine Herbergsmutter geht wieder Tennis | |
spielen. Jetzt kommen bald die harten Monate, es wird Winter, aber schon im | |
April lässt es sich hier wieder gut leben. | |
Ich wende mich vom Meer ab, vom Ort, am letzten Abend schaue ich mir in | |
meiner „kamer“ Fußball im niederländischen Fernsehen an. Der kleine Ausfl… | |
ist schon zu Ende, er hat sich gelohnt. Ich habe meiner Freundin eine | |
freundliche Postkarte geschrieben. Ich bin auf Versöhnungskurs. Die | |
Seeluft, der Strand haben mir den Kopf gelüftet. Ich bin gerüstet. Die | |
Aussprache kann kommen. Der Himmel ist groß. | |
5 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Rene Hamann | |
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