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# taz.de -- Niederlande: Kind aus Maastricht
> Die Stadt der europäischen Verträge boomt seit der Zeugung des Euros vor
> etwas mehr als 20 Jahren. Die Stadt betreibt erfolgreiches Marketing.
Bild: Golden Gate – die moderne Brücke über die Maas.
Entlang des Flüsschens Jeker lässt es sich idyllisch stadtauswärts
radeln.Vorbei an den Halbhöhenzügen des Pietersberg (120 Meter) mit dem
größten, ja tatsächlich: Weinbaugebiet der Niederlande. Am Hang gegenüber
thront das mächtige Chateau Neercanne aus dem 17. Jahrhundert mit seinen
Barockgärten auf vier Ebenen. Es nennt sich „Balkon der Niederlande“.
Vor 20 Jahren hatte das einzige Terrassenschloss in Benelux großen Besuch:
In Maastricht hatten sich die europäischen Regierungschefs zum Gipfel
getroffen, und eines Mittags fuhren sie zum Lunch nach Neercanne.
Eingeladen ins Sterne-Restaurant hatte Königin Beatrix, die Gastgeberin des
Gipfels.
Chateau-Direktor Peter Harkema sitzt heute im noblen Speisesaal und
erinnert sich an den 9. Dezember 1991: „Ein völlig verrückter Zirkus“ sei
das gewesen „in unserer Sicherheitsfestung damals“, aber „im Nachhinein
sehr schön“. Ein Jahr lief die Vorbereitung, das Protokoll war auf die
halbe Minute festgelegt.
„Und dann kam dieser eiskalte Tag, Scharfschützen überall – und sie fuhren
vor, Champagnerempfang im Weinkellergewölbe unter den Augen von 130
Sicherheitsleuten allein hier, dann ein schneller Aperitif, drei Gänge,
Pressefotos, Gedrängel – und weg. Nach genau 50 Minuten.“
## Im eleganten Weinkeller
Hoteldirektor Harkema führt ins Weinkellergewölbe. Ein Labyrinth im
Mergelstein-Berg an der Schlossrückseite. Er zeigt auf einen Glaskasten
gegenüber der kerzenbeflackerten Weinbar. „Hier ist es. Da war die Sache
mit Mitterrand passiert.“ Ein befreundeter Künstler hatte die Flaggen und
Namen der Teilnehmer auf ein Stück Wand gemalt. Mitterrand schrieb er mit
einem „r“. Es konnte gerade noch ausgebessert werden.
Tausende seiner betuchten Gäste haben seither ihre Namen rundum in den
weichen Mergelstein geritzt, teils meterhoch nach oben. „Das“, sagt
Harkema, „ist unser großes Gästebuch.“ Wenn er heute „im Urlaub sage, i…
komme aus Maastricht – da wo der Euro geboren wurde“, dann staunten die
Leute. Und er kann hinzufügen: Sein Haus hat mit dem 50-Minuten-Lunch die
Väter des Euros beim Zeugungsakt gefüttert.
Acht Wochen später, am 7. Februar 1992, also vor 20 Jahren, wurden die
Verträge in Maastricht feierlich unterzeichnet. Aus der EG wurde die
Europäische Union mit gemeinsamer Unionsbürgerschaft und der Einigung auf
die Wirtschafts- und Währungsunion. Der Euro ist ein Kind aus Maastricht.
Viele wollten alsbald wissen, was es mit dieser unbedeutenden Provinzstadt
auf sich hat. Und Maastricht boomte.
Die Stadt betrieb schlaues Marketing, viele mittelständische Firmen
siedelten sich an. Der Tourismus wuchs rapide, Geld floss, es entstanden
neue Museen, Theater, Galerien. Die Innenstadt wurde bald umgebaut: Autos
raus, wo immer möglich. Der gesamte Maasboulevard war bald untertunnelt.
## Dinoknochen und römische Anlage
Rechts der träge glitzernde Fluss, links im Wechsel unzählige aufgehübschte
Altbauten, dazwischen auch mal ein Einkaufszentrum – hier lässt es sich
wunderbar schlendern. Woanders sind das billige Orte des Grauens, hier, wie
beim Mosae Forum oder dem Entre Deux, architektonische Pluspunkte.
Mittlerweile gilt die 118.000-Einwohner-Gemeinde als „nördlichste Stadt
Italiens – wegen ihres mediterranen Lebensgefühls, der vielen Kunst und des
Modechics. Und alles ist fußläufig erreichbar.
Die Stadt ist die südlichste und zweitälteste Gemeinde der Niederlande,
benannt aus Römerzeit nach Mosae Traiectum („Maasübergang“). Römische
Befestigungsanlagen locken, die Mergelgrotten. Im naturhistorischen Museum
gilt es die Dinoknochen der „Maastrichter Bestie“ zu bewundern, gefunden
1770: das Skelett eines gut zehn Meter langen Mosasaurus. Kinder jauchzen
vor Glück. Auf der anderen Maasseite locken kulinarische Verführungen: Noch
vor Chateau Neercanne ist heute das Zwei-Sterne-Restaurant Beluga,
platziert am Plein 1992, dem „Platz 1992“.
Hier entstand aus einer hässlichen Industriebrache Ceramique, ein neues
Wohn- und Geschäftsviertel, von vielen Stadtplanern bejubelt. Daneben das
Bonnefantenmuseum, ein kühner eichelförmiger Bau mit zeitgenössischer Kunst
und vielen alten Meistern des meisterreichen Landes. Noch ein paar Schritte
weiter: die Provinzverwaltung. Hier steht der Tisch, an dem Kohl, Lubbers,
Andreotti und Co 1992 die Verträge unterzeichneten.
## Hinter Glas steht der Orginalvertrag
Es empfängt Ellyan van Duurling. Sie führt Besucher durch ein weitläufiges
Gebäude von Verwaltung und Parlament der Provinz Limburg, fast überall in
hellem Marmor gehalten, prunkvoll, fast protzig. Tausend Menschen arbeiten
hier, sie sind umgeben von 1.300 Gemälden, Skulpturen und Installationen –
ein Verwaltungspalast als Museum. 1991 waren hunderte EU-Beamte zu
Verhandlungen eingefallen. „Wir haben unser Haus damals gut eine Woche der
EU ausgeliehen“, sagt van Duurling lächelnd, „und jetzt sind wir
Gedenkstätte.“ Hinter Glas im ersten Stock steht der Originalvertrag auf
Niederländisch, größer als zwei Schuhkartons.
Die Regierungschefs selbst hat van Duurling damals nur mal aus der Ferne
gesehen. „Ich stand einmal einen Stock höher, da gingen sie alle
hintereinander durchs Treppenhaus. Von oben war das wie eine Parade von
lauter kleinen Glatzen.“ Sie lacht. „Maastricht war bis dahin nur ein
kleines Provinzkaff“, sagt van Duurling. „Ab 1992 gab es unglaubliche
Effekte. Es kamen Besucher ohne Ende, neugierig auf unsere bis dahin völlig
unbekannte Stadt.“ Jetzt sei Maastricht „eine Weltstadt im Kleinen“
geworden.
Unbestritten Weltklasse sind die umgewidmeten Kirchen. Zum Beispiel die 800
Jahre alte Dominikanerkirche mitten in der City. Da werden unter einem
wuchtigen Altarlampenemsemble nicht mehr Hostien gereicht, sondern ein
Stück französischen Nougats als Beilage zum Cappuccino. Seit sechs Jahren
steht die Chorhalle auf drei Etagen voller Bücher. „Die schönste
Buchhandlung der Welt“, schrieb der Guardian.
## Eine luxuriöse Kirchenumwidmung
Das Jesuitenkloster ein Stück weiter ist zur Theaterbühne mit plüschrotem
Festsaal und der üppig verspielten Jugendstilbrasserie Grand Café La
Bonbonnière geworden. Eine Kirche an der Maas war hier jahrelang Disko,
dann das Kinderparadies Funville mit Rutschen und Klettergerüsten. Die
luxuriöseste Kirchenumwidmung der gesamten Niederlande ist das riesige
Benediktinerkloster, das zum umwerfenden Fünf-Stern-Kruisherenhotel wurde.
Wohltuend still ist es fast in der ganzen Stadt. In der City saugt den
Besucher ein Labyrinth von Kopfsteinpflastergassen auf, gesäumt von alten
Häusern aus vielen Jahrhunderten, fast ausnahmslos ins Idyllische
renoviert.
## Überlaufen mit Shoppingtouristen
Für Einkaufslustige ist Maastricht ein Ort paradisieschen Glücksrauschs.
Modegeschäfte haben sich wie Perlen auf der Kette gereiht, dazwischen
lockende Cafés sonder Zahl oder der Tante-Emma-Schnapswinkel mit tausenden
Spirituosen bis unter die Decke. Seltsam: Die Modeauslagen kommen einem
überall eine Spur ausgefallener vor als gewohnt, selbst die Kollektionen
der Handelsketten wirken individueller, spezieller. Samstags ist die Stadt
überlaufen mit shoppingwilligen Touristen – da, sagen Einheimische, gehen
sie dann nur im Notfall vor die Tür.
Stolz sind die Maastrichtenaren auf ihre moderne und internationale Uni:
Die Hälfte der 15.000 Studierenden kommt aus dem Ausland, alle Curricula
sind komplett auf Englisch möglich. Und man verehrt hier den derzeit
größten Sohn der Stadt: Schmachtgeiger André Rieu.
## Auch Dopefreunde sind gute Konsumenten
Er bedient das ausgeprägt Bodenständige des burgundisch-katholischen
Lebensgefühls an der Maas. Jeden Sommer gibt Rieu acht Konzerte
hintereinander vor je 10.000 Menschen auf dem zentralen Vrijthof – gefeiert
und vom ZDF abgefilmt. Als der neue Bürgermeister Onno Hoes 2010 sein Amt
antrat, führte ihn die erste Amtshandlung zum Schloss des Walzerkönigs oben
in den Weinbergen. Um sich höflich vorzustellen.
Wegen der Grenzlage ist Maastricht auch zur Haschisch-Boomcity geworden.
1,5 Millionen Softdrogentouristen sind es offiziell pro Jahr, Tendenz
steigend. Immer wieder wollen staatliche Stellen die Duldung aushebeln.
Seit Jahren soll der „Wietpas“ kommen. Ein solcher Ausweis würde Personen
ohne Wohnsitz in den Niederlanden das Betreten der 14 Coffeeshops der Stadt
untersagen. Der Interessenverband VOCM (Vereiniging Officiële Coffeeshops
Maastricht) ließ sich 2011 einen durchtriebenen Trick einfallen. Für einige
Monate wurde allen Franzosen testweise der Zugang verwehrt. Und siehe,
schnell tauchten vor den Coffeeshops illegale Dealer auf, und es gab hier
und da Ärger und Ruhestörungen. Wenn man die Shops zumache, werde der
Schwarzmarkt übernehmen, sagt der VOCM, mit schlechtem, gestreckten Stoff
und der Verführung zu harten Drogen.
Auch im Rathaus begann man neu nachzudenken. Ende 2011 wurde der Wietpas
wieder verschoben. Alle in Maastricht wissen: 1,5 Millionen Dopefreunde pro
Jahr essen und trinken auch, tanken und kaufen andere Dinge. Das kurbelt
den Reichtum der Stadt weiter an. Ein Verbot ausländischer Konsumenten,
sagen liberale Geister, sei ohnehin so, als würde man Japaner des
Hofbräuhauses verweisen. Aber die traditionell liberale Kultur der
niederländischen Gesellschaft bröckelt mit den Erfolgen der PVV des
Rechtspopulisten Wilders und seiner antieuropäischen Politik ohnehin. Auch
in der Provinz Limburg mit seiner Hauptstadt Maastricht: Die PVV ist
stärkte Partei im Provinzparlament.
## Schlechte Zeiten für Euro-Feiern
Maastricht war so stolz, damals, voller Aufbruchstimmung. 2012, mitten in
der schweren Eurokrise, wird es kein Jubiläumsfeuerwerk geben, kein
Volksfest. Der Bürgermeister sagt verklausuliert: „Es ist nicht so, dass
wegen der Eurokrise nicht irgendwann gefeiert würde.“ Nur jetzt gerade
nicht, bei Gelegenheit – falls sich der strauchelnde Euro wieder
stabilisiert.
9 Jun 2012
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
Reiseland Niederlande
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