# taz.de -- Helga Hoffmann über Hemelingen: „Dann wollte ich alles lesen“ | |
> Helga Hoffmann hat sich sechs Jahre lang in Hemelingens Geschichte | |
> vergraben. Nun taucht sie mit einem 768-seitigen Buch wieder auf – und | |
> das ist nur der erste Band | |
Bild: Hoffmanns Hemelingen-Buch beginnt mit der Feuerwehr - "denn damit steht u… | |
taz: Frau Hoffmann, wie kommt man dazu, 1.300 Seiten über Hemelingen zu | |
schreiben? | |
Helga Hoffmann: Ich konnte mich nicht mehr an den Namen des Pflegevaters | |
meiner Großmutter erinnern und habe deswegen im Staatsarchiv nach | |
Anmeldungen zur Schule Glockenstraße gesucht. Dabei stieß ich auf die | |
Schulchronik – und bekam auf einmal einen Schreck. | |
Warum? | |
Weil ich diese markante Handschrift wiedererkannte, mit der immer meine | |
Zeugnisse unterschrieben waren. | |
Die Schrift eines Ihrer Lehrer? | |
Nein, des Schulleiters. Der war eine solche Respektsperson, vor dem hatten | |
alle ein bisschen Angst. Jetzt interessierte mich, wann er Schulleiter | |
wurde, und sah: 1933. Das kann also nur ein Nazi gewesen sein, dachte ich. | |
Aber dann stoße ich in seiner Lehrerakte auf eine so faszinierende | |
Lebensgeschichte, dass ich hin und weg war. Der war überhaupt nicht in der | |
Partei! Und in den von ihm verfassten Schulberichten stehen Sachen, die ich | |
ihm nie zugetraut hätte. | |
Was, zum Beispiel? | |
Er hat da wirklich seine Meinung reingeschrieben und sich über Verordnungen | |
aufgeregt, etwa über die Einführung der Rassenkunde in den | |
Biologieunterricht. Das war für mich der Einstieg. | |
Wie sind daraus sechs Jahre Staatsarchiv geworden? | |
Zunächst hatte ich mir vorgenommen, über meine Familiengeschichte zu | |
schreiben und wollte dafür Näheres über die Schule Glockenstaße erfahren. | |
Die hatten meine Großmutter, meine Mutter, ich und alle meine Kinder | |
besucht. Beim Lesen der Chronik stellten sich mir weitere Fragen, die ich | |
unbedingt klären wollte, so stieß ich auf die Hemelinger Gemeindeakten, die | |
ich mir erst nur punktuell ansah. Aber irgendwann beschloss ich: Jetzt will | |
ich alle lesen. | |
Der erste Band Ihrer Chronik befasst sich mit der Feuerwehr ... | |
... ich fand zum Beispiel in Versform die Schilderung der Party, mit der | |
sie 1864 den Neubau mit dem imposanten Turm in der heutigen Hannoverschen | |
Straße einweihten. | |
... mit der Eisenbahnerkolonie, den Kram- und Viehmärkten ... | |
... da gibt es ganz verrückte Sachen! | |
... mit dem Streit über die offiziellen Wetterprognosen, dem Verkauf von | |
Meldedaten durch die Gemeindeverwaltung, der „Heimatfront Hemelingen“ und | |
so fort. Allein dieser erste Band wiegt fast zwei Kilo. | |
Ja, das war die Frage: Päckchen oder Paket? | |
Warum ist die wichtig? | |
Weil ich die Bücher auf Anfrage verschicke, ohne Buchhandel. Und da ist die | |
Zwei-Kilo-Grenze kostenmäßig entscheidend. | |
Neben der Zeit haben Sie ohnehin eine Menge Geld investiert. | |
Ja, ich sponsere das Buch selbst, weil ich will, dass es sich die Leute | |
auch leisten können. Jetzt kostet es 28 Euro zum Abholpreis. | |
Dafür kriegt man die ersten 100 Jahre Ortsgeschichte bis 1930. | |
Und mit den nächsten Jahrzehnten fange ich jetzt an! Das Material habe ich | |
ja schon. Da geht es dann um die 30er-Jahre und die Kriegszeit mit ihren | |
enormen Bombenzerstörungen, nicht zu vergessen die Verfolgungen der Juden | |
und der politisch Andersdenkenden und die vielen Gefangenen-Lager. Wichtig | |
ist mir auch die Aufklärung über die sogenannten großen Nazis im Stadtteil, | |
über die es heißt: Ach ja, der ... aber keiner weiß was Genaues. Das will | |
ich ändern. | |
Aber mit dem Jahr 1947 ist wieder Schluss? | |
Für mich war das erst mal genug Arbeit. Die nächsten 50 Jahre kann jemand | |
anders machen. | |
Was machen Sie stattdessen? | |
Seit Jahren erstmals wieder Urlaub, nach dem ich die letzten drei Jahre Tag | |
und Nacht durchgearbeitet habe. Ich konnte nichts anderes mehr machen, weil | |
ich fertig werden wollte. | |
Das klingt fast nach Sucht ... | |
Ich konnte tatsächlich an nichts anderes mehr denken. Aber ich will ja | |
keinen Doktor haben oder sowas, ich will einfach Geschichte erzählen, | |
exemplarisch auch Familiengeschichten. Ich komme aus der | |
Bürgerinitiativ-Bewegung, da haben wir immer sehr für Verbesserungen der | |
Lebensqualität im Stadtteil gekämpft. Noch in den 80ern wurden viele alte | |
Gebäude abgerissen. Aber deren Erinnerung habe ich mir aufbewahrt. | |
Und wie ist es, mit einem solchen Wissensschatz durch den Stadtteil zu | |
laufen? | |
Für mich ist das Alte noch lebendig, und das möchte ich gern weiter | |
vermitteln. Ich sehe den Verfall, aber auch das Neue – und ich freue mich, | |
dass ich nun alle Geschichten kenne. | |
25 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
## TAGS | |
Stadtentwicklung | |
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