# taz.de -- Auf eigenen Wege: Jenseits von Retro | |
> Die Kieler Sonderausstellung „Old School – Anachronismus in der | |
> zeitgenössischen Kunst“ untersucht die Aktualität traditioneller | |
> Techniken und historischen Bildmaterials in Gegenwartskunst. | |
Bild: Ulrike Kuschels Zyklus "In Gedenken an" hat sich die Bundesrepublik schon… | |
Rolf Urban versuchte am 19. August 1961, die seit kurzem militärisch | |
gesicherte innerdeutsche Grenze zu überwinden. Knapp einen Monat später, am | |
17. September, war er tot. Beide Daten wurden mit Schreibmaschine in den | |
Kalender der DDR-Zeitschrift Der Kleingärtner eingetragen. | |
Auch der 7. und der 10. September 1961 sind hervorgehoben: der 7. als | |
offizieller Gedenktag an den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Wilhelm | |
Pieck, der 10. als Gedenktag an die Opfer des Faschismus. | |
„Im Gedenken an“ nennt sich die 29-teilige Werkserie der Berliner | |
Künstlerin [1][Ulrike Kuschel], die jetzt in der [2][Kunsthalle in Kiel] zu | |
sehen ist. Ihre Arbeit besteht aus privaten Kalendern von Bewohnern der | |
einstigen DDR, in die Kuschel die Namen der sogenannten Mauertoten | |
nachgetragen hat. | |
## Simpel und berührend | |
Es ist vom technischen Aufwand und von der visuellen Umsetzung her eine | |
ganz simple, aber zutiefst berührende Arbeit. Offiziell-staatstragende | |
Termine treffen auf handschriftlich-private Einträge (12. März 1977: | |
’Mutti‘) und beide kontrastieren mit den Flucht und Todesdaten, derer, die | |
einfach nur das Land wechseln wollten. Kuschels Arbeit ist eine persönliche | |
Handschrift, ein nüchterner Blick auf ein Machtsystem und verfolgt ein | |
stringentes, künstlerisches Konzept. | |
“Old School – Anachronismus in der zeitgenössischen Kunst“ nennt sich die | |
Sonderausstellung in der Kunsthalle zu Kiel, in der Kuschels serielle | |
Arbeiten ihren Platz gefunden haben. Erkundet werden soll in dieser | |
Ausstellung, wie überzeugend und wie gegenwärtig künstlerische | |
Herangehensweisen sind, die auf traditionelle Techniken und auf | |
historisches Bildmaterial zurückgreifen und scheinbar unbeeindruckt von | |
künstlerisch-technischen Innovationen arbeiten. | |
“Wir zeigen Künstler, die sich nicht widerständig zur heutigen Zeit und | |
ihrem Zeichenrepertoire positionieren und die ihren Weg schon lange Zeit | |
verfolgen“, sagt Anette Hüsch, die Leiterin der Kunsthalle und zusammen mit | |
Natascha Driever die Kuratorin der Ausstellung. | |
Wer mit Blick auf die meist vordergründigen Diskussionen über Retro und | |
Neo-Retro ein paar flotte Schlaglichter erwartet, der wird angenehm | |
enttäuscht. Wobei der in Wellen immer wieder auftauchende Hype aus | |
irgendwie alt und irgendwie modern, der etwa den breiten Erfolg eines Neo | |
Rauchs ausmachen dürfte, gewissermaßen anregend mitschwingt. | |
„Uns ist aufgefallen, dass zuletzt auf den Kunstmessen eine Flut an | |
künstlerischen Positionen zu sehen war, die auf Alte Meister oder auf | |
Altmeisterliches verwiesen haben“, sagt Hüsch. „Von denen haben wir nichts | |
in der Ausstellung, das ist eher das Feld drumherum.“ | |
## Mächtige Arbeiten | |
Die Ausstellung steigt ein mit den mächtigen Arbeiten von Elger Esser. Er | |
destilliert aus einem Bilderschatz von 25.000 Fotos vorzugsweise aus den | |
Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts neue Werke. Dazu vergrößert er etwa | |
Details aus Fotopostkarten von Schiffen auf dem Meer oder Menschen am | |
Strand bis zu 400-fach, was berückend intensive Landschaftsbildnisse | |
entstehen lässt – wie gemalt. Alles stimmt und nichts stimmt. | |
Martin Assig dagegen bietet mit seinen in sich gekehrt wirkenden, | |
Tagebuch-verwandten Zeichnungen und Malereien Einblicke in seine | |
künstlerischen Innenwelten: mal flächig, ornamenthaft, zuweilen wie von | |
einem Schleier überzogen wirken seine Bilder, als habe sich viel Staub der | |
Zeit auf sie gelegt. | |
Dann wieder zitiert er munter die Oldies unseres Bildergedächtnisses, wenn | |
er Edvard Munchs schreienden Menschen mit Roy Lichtensteins schlafendem | |
Girl mixt und dem Bild auch noch den hübschen Titel „Doppelschlaf“ gibt. | |
Dagegen wirken die schwarz-weißen Bleistiftzeichnungen des Marcel van Eeden | |
mit ihrer Hommage an Stills des Film noir und der sie begleitenden | |
Fotografie schon vergleichsweise vertraut. Anhaltend verstörend wiederum | |
die Malerei der Anita Albus. Sie greift unverkennbar auf die Malerei des | |
16. und 17. Jahrhunderts zurück und liefert perfekte Stillleben und | |
Tierbilder, die wie aus der Zeit gefallen wirken. | |
Es ist eine anfangs eher spröde Ausstellung, die nicht sofort | |
unmissverständliche Schneisen der Positionierung schlägt. Das ist zugleich | |
ihre Stärke, denn Werk für Werk entwickelt sich ein Gefühl für die | |
Eigensinnigkeiten der KünstlerInnen, für ihre Konsequenz und ihre | |
Sperrigkeit. | |
Wenn man zwischendurch mal den Faden verlieren sollte, empfiehlt sich ein | |
Gang zu den „Lichtbildern“ des [3][Olaf Holzapfel]. Holzapfel lässt von | |
Bauern und Bäuerinnen im Grenzgebiet zu Niederschlesien nach traditioneller | |
Handwerksart bis zu acht Meter lange Heuschnüre knüpfen, aus denen er | |
Bildtafeln fertigt, die zwischen „Land Art“, „Minimal Art“ und scheinbar | |
zeitlosem Handwerk switchen. Seinen Bildern aus Holz und Heu entströmt ein | |
betörender Duft, der einen gut durch diese Ausstellung führt. | |
5 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.artnews.org/ulrikekuschel/?s=4 | |
[2] http://www.kunsthalle-kiel.de/de/ausstellungen/ | |
[3] http://olafholzapfel.de/ | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Moderne Kunst | |
Deichtorhallen Hamburg | |
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