# taz.de -- Pädophilie: „Der Widerstand war nicht laut genug" | |
> Die Berliner Grünen wollen sich ihrer Vergangenheit intensiver stellen | |
> als bisher. Vieles sei verdrängt worden, sagt der Abgeordnete Thomas | |
> Birk. | |
Bild: Publikation "Ein Herz für Sittenstrolche" des Bereichs Schwule der Alter… | |
taz: Herr Birk, die Berliner Grünen wollen ihre pädophile Vergangenheit | |
„konsequent aufklären und aufarbeiten“. Der Parteitag hat am Samstag einem | |
von Ihnen mitformulierten entsprechenden [1][Antrag] fast einhellig | |
zugestimmt. Sind Sie zufrieden? | |
Thomas Birk: Ich bin froh, dass wir unseren Beschluss von 2010 zu diesem | |
Thema bekräftigt und mit einem neuen Schwerpunkt versehen haben. Wir | |
schauen jetzt auch auf jene Menschen, die möglicherweise zu Opfern einer | |
fehlgeleiteten grünen Programmatik der frühen Gründerjahre wurden. Damit | |
beginnt eine tatsächliche Aufarbeitung jenseits von Beschlüssen und | |
Distanzierungen. | |
Das ist der Unterschied zu 2010. | |
Genau. Wir haben uns 2010 zu unserer Geschichte bekannt – es dann aber auch | |
dabei belassen. Jetzt geht es darum, konkret aufzuarbeiten, was damals war, | |
welche Programmbeschlüsse und -entwürfe es gab, was in den | |
Arbeitsgemeinschaften erarbeitet wurde und welche sonstigen Dokumente | |
entstanden waren wie etwa das unsägliche Heft „Ein Herz für Sittenstrolche�… | |
von 1983. Wichtig ist auch: Wie haben sich die jeweiligen Gremien dazu | |
verhalten? Gab es Widerstand? Im Jahr 1979 zum Beispiel sind inhaltlich | |
ähnliche Programmanträge abgelehnt worden – wenn auch nur knapp. | |
Es geht aber nicht nur um die Anfangsjahre. | |
Richtig. Wir müssen auch aufarbeiten, wie es dazu kommen konnte, dass es | |
Anfang bis Mitte der 90er Jahre einen neuen Anlauf im Berliner | |
Landesverband gab, das Thema in die Partei hineinzutragen. In anderen | |
Landesverbänden gab es so etwas meines Wissens nach zu diesem Zeitpunkt | |
nicht mehr. | |
Wieso hat der Berliner Landesverband den Aspekt der Aufarbeitung 2010 nicht | |
mitgedacht? | |
Uns ging es 2010 im Zuge der allgemeinen Missbrauchsdebatte erst einmal um | |
die Feststellung, dass wir da früher selbst ein Problem hatten. Heute ist | |
klar, dass das nicht ausreicht. Zum einen, weil da noch mehr war, als wir | |
bis dahin gefunden hatten. Zum anderen haben wir auch unterschätzt, welche | |
Langzeitwirkung es hat, wenn man nicht aktiv Aufarbeitung betreibt. | |
Was meinen Sie mit Langzeitwirkung? | |
Mit einem Beschluss ist es nicht getan. Die Öffentlichkeit wird immer | |
wieder nachfragen – und das zu Recht. Wir haben auch wirklich zu wenig im | |
Blick gehabt, dass es nicht nur eine theoretische Debatte gegeben hat, | |
sondern dass Menschen in der Partei aktiv waren, die pädophil waren oder | |
zumindest Sexualität mit Kindern gesucht haben. Zu einer echten | |
Aufarbeitung gehört auch, sich zu fragen: Was war denn mit den Menschen, | |
die darunter gelitten haben? | |
Die Opferperspektive also. Es gibt ja noch einen anderen Grund für die | |
Aufarbeitung: In den Debatten auf dem Parteitag am Samstag haben Redner | |
erwähnt, wie schwer sich junge, vor allem auch queere Grüne mit dieser | |
Vergangenheit tun. Sie fragen sich: Was ist das überhaupt für eine Partei, | |
in der ich da bin? Herr Birk, Sie gehören schon zur älteren Generation, | |
sind 1992 eingetreten. Was sagen Sie diesen jungen Parteimitgliedern, wenn | |
die fragen, wie man so etwas vergessen konnte? | |
Ich habe nie vergessen, dass es diese Debatte gegeben hat. Ich bin 52 Jahre | |
alt und gehörte schon zur Schwulenbewegung, noch bevor ich zu den Grünen | |
gekommen bin. Heute muss man faktisch feststellen, dass die | |
Schwulenbewegung in den 70er und 80er Jahren – und in Teilen sogar bis in | |
die 90er Jahre hinein – die Forderung nach Streichung oder Änderung der | |
Paragrafen [2][174] und [3][176] des Strafgesetzbuchs aufrechterhalten hat. | |
Das wissen natürlich alle, die damals aktiv waren. Der Bundesverband | |
Homosexualität (BVH) hat das bis zu seinem Ende in seiner Programmatik drin | |
gehabt. Er wurde erst 1997 aufgelöst. | |
Wieso tut man dann heute so überrascht? | |
Die jungen Leute sind überrascht, weil sie diesen Teil der Geschichte der | |
Schwulenbewegung nicht kennen. | |
Hätten nicht Menschen wie Sie den jungen Leuten diese Vergangenheit | |
vermitteln und sagen müssen: So war es? Sie haben auf dem Parteitag | |
berichtet, wie Sie bei Recherchen entdeckt haben, dass Sie selbst einmal | |
einen ähnlichen Forderungskatalog unterstützt haben. | |
Das zum Beispiel hatte ich wirklich verdrängt. Ich habe 1980 in Krefeld | |
eine homosexuelle Initiative gegründet. Da wir ein sehr braver Haufen | |
waren, hatte ich es meiner Erinnerung nach nicht für möglich gehalten, dass | |
eine solche Forderung in unserem Katalog war. Bei der ersten Durchsicht | |
meiner Unterlagen von damals hatte ich auch nichts gefunden. Aber vor | |
Kurzem habe ich noch mal geschaut und tatsächlich ein von mir | |
mitformuliertes Papier entdeckt. In dem stand in nur einem kurzen Satz: | |
Einvernehmliche Sexualität muss straffrei bleiben. Ich konnte mich wieder | |
an eine heftige Debatte darüber erinnern und wusste genau, was damit | |
gemeint war. Aus eigener Erfahrung habe ich deswegen auf dem Parteitag alle | |
darum gebeten, ihre Verdrängungsmechanismen zu durchbrechen und so die | |
Aufarbeitung möglich zu machen. | |
Und was sagen Sie jungen Leuten aus der Partei, die Sie fragen: Wie konnte | |
das sein? | |
Ich versuche ihnen zu erklären, dass es damals in der Schwulenbewegung im | |
Rahmen des Kampfes für die Streichung des Paragrafen 175 eine aus heutiger | |
Sicht falsche Solidarität gab mit jenen, die auch das Sexualstrafrecht | |
bezüglich der Paragrafen 174 und und 176 StGB ändern wollten. Diese | |
Debatten spielten sich vor allem bei den Schwulen ab. Das ist übrigens | |
einer der Gründe, warum Lesben lange Zeit mit den Schwulen keine gemeinsame | |
Politik gemacht haben. Lesben und Feministinnen haben sich sehr früh von | |
diesen Forderungen distanziert. | |
Es gab ja auch Widerstand, etwa Mitte der 90er Jahre durch die Kreuzberger | |
Frauengruppe der Grünen. | |
Ja, und diesen Widerstand gab es auch schon viel früher. Aber aus heutiger | |
Sicht muss man leider sagen: Er war wohl nicht laut genug, auch andere | |
wären in der Verantwortung gewesen. Es gab schon 1989 einen Schlagabtausch | |
in der Parteizeitschrift Stachlige Argumente. Und 1994 wurde es da noch mal | |
heftig: Anfang der 90er Jahre hatte sich eine Gruppe „Jung und Alt“ | |
gegründet. Heute muss man sagen: Das war wohl eine Ansammlung Pädophiler, | |
die sich als Unterarbeitsgruppe des damaligen Schwulenbereichs getroffen | |
haben. | |
In der vorher schon erwähnten Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“, | |
herausgegeben vom Bereich Schwule der Alternativen Liste Berlin, schrieb | |
hingegen eine Frau – Martina – das Vorwort. | |
Die erwähnte Martina war Mitglied im damaligen geschäftsführenden Ausschuss | |
und sieht das meines Wissens nach heute auch völlig anders. Mich hat bei | |
der Recherche erstaunt, dass es wohl in der frühen Phase auch Frauen gab, | |
die diese Forderungen auch parteiintern unterstützt haben. Das hat sich | |
aber sehr schnell geändert. Die grünen Frauen waren sehr früh immer die | |
klaren Gegnerinnen in der Diskussion – deswegen haben sich die Forderungen | |
in der Partei auch nicht durchsetzen können. Wir müssen jetzt aufarbeiten, | |
ob die entsprechenden Forderungen bei den Grünen ausschließlich von | |
schwulen Gruppierungen vorangetrieben wurden oder ob es auch unter | |
Heterosexuellen diese Debatte gegeben hat. | |
In dem am Samstag beschlossenen Antrag heißt es, die Grünen wollen | |
„konsequent aufklären“. Was bedeutet das genau? | |
Das bedeutet zum Beispiel, die möglichen Opfer in den Blick zu nehmen und | |
genau zu recherchieren, welche Beschlüsse und Dokumente zur damaligen | |
Debatte noch vorhanden sind. Dazu gehört auch, nach den Akteurinnen und | |
Akteuren in der Debatte und ihren Rollen zu fragen und nicht davor | |
zurückzuschrecken, auch Namen von Menschen zu nennen, die damals | |
Forderungen aufgestellt haben, die wir heute falsch finden. Konsequent | |
aufklären heißt aber auch, zu untersuchen, ob es grüne Parteimitglieder | |
gab, die wegen sexuellen Missbrauchs rechtmäßig verurteilt wurden. Von | |
einer Person wissen wir das bereits länger. Aber möglicherweise waren es | |
noch mehr. Aufklären heißt zudem: Wie haben sich damalige führende | |
Mitglieder zu diesen Forderungen verhalten? Wie haben sich Gremien | |
verhalten? Gab es heftige Debatten auf Parteitagen? Oder lief das irgendwie | |
so mit? Es irritiert mich schon, dass wir diese Debatte noch in den 90er | |
Jahren in den Stachligen Argumenten geführt haben, ohne dass es einen | |
Aufschrei gab. Es kamen zwar ein paar Leserbriefe und ich kann mich | |
erinnern, dass manche nur den Kopf geschüttelt haben: „Leute, was wir hier | |
diskutieren, ist strafrechtswürdig“. Aber es hat trotz Hinweisen auch von | |
den Kreuzberger Frauen zunächst niemand gesagt: Wir müssen mal schauen, was | |
die Autoren der Beiträge privat machen. Den Vorwurf mache ich mir heute | |
auch ganz persönlich. | |
Welche Konsequenzen müssen aus damaligem Fehlverhalten konkret folgen? | |
Wenn ein Mitglied damals falsche Akzeptanz geübt hat, sollte es diesen | |
Fehler auch einräumen. Ohne Einsicht und echtes Bedauern kann man nicht um | |
Entschuldigung bitten. Wer diese Einsicht nicht hat, verstößt damit gegen | |
den grünen Grundkonsens. Dafür sieht unsere Satzung Sanktionen durch ein | |
Schiedsgericht vor. Es geht hier aber nicht nur um einzelne. Ich vermute, | |
dass es in dieser Frage eine Zeit lang ein Kollektiversagen gegeben haben | |
muss, weil wir als Partei einer falschen Forderung ein Forum geboten haben. | |
Waren Sie damals naiv? | |
Nein. Es war eher eine falsch verstandene Verlängerung der linken | |
Solidarität, die man aus der Gründerzeit mitgeschleppt hat. Man ging halt | |
nicht zur Polizei, selbst wenn man den Eindruck hatte, dass etwas nicht in | |
Ordnung war. | |
Die von Ihnen geplante Aufklärung klingt sehr aufwendig. Gibt es dafür | |
Geld? | |
Ohne Geld wird es nicht gehen. Ich habe selbst gemerkt, dass ich schon viel | |
mehr recherchieren wollte, aber nicht dazu gekommen bin. Sicher wird man | |
jemanden beauftragen müssen, in die Archive zu steigen und das Material zu | |
sichten. | |
In dem Grünen-Antrag wird auch um Entschuldigung gebeten. | |
Wir haben uns an diesem Samstag mit unserem Beschluss als Partei | |
entschuldigt – wobei ich lieber sage: Wir haben die Bitte um Entschuldigung | |
formuliert. Man kann sich ja nicht selbst entschuldigen. Wir haben aber | |
noch nicht das Gegenüber gefunden: Es hat sich noch niemand bei uns | |
gemeldet. Aber ich denke, das wird noch passieren, die geeignete | |
Ansprechstelle soll ja auch erst geschaffen werden. Wir müssen auch von der | |
Bundesebene aus – wenn die Forschungsergebnisse vorliegen – diese Bitte um | |
Entschuldigung bekräftigen. Andere Institutionen haben das mittlerweile | |
gemacht: Man kann der katholischen Kirche viel vorwerfen. Aber in ihrem | |
Programm hatte sie nie stehen, dass man einvernehmliche Sexualität mit | |
Kindern leben könnte und straffrei lassen sollte. | |
4 Dec 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://ldk-berlin-2013.antragsgruen.de/2013-3/antrag/586 | |
[2] http://dejure.org/gesetze/StGB/174.html | |
[3] http://dejure.org/gesetze/StGB/176.html | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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Homosexualität | |
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