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# taz.de -- Traditionspflege in Halberstadt: Minnas Grab
> Vor 78 Jahren ging die Sozialdemokratin Minna Bollmann in den Freitod.
> Ihr Grab will die Halberstädter SPD erhalten. Aber wie?
Bild: In Minna Bollmanns Gaststätte mitten im historischen Stadtkern wurde 186…
HALBERSTADT taz | Die Linie zwei der Tram fährt direkt zum Friedhof. Die
Endhaltestelle am Rand der 40.000-Einwohner-Stadt im Harzvorland. Das Licht
ist herbstlich mild, ein kleiner Park öffnet sich im hinteren Teil des
Friedhofs. Doch Park ist schon zu viel gesagt für die Freifläche, auf der
ein Urnenfeld erste Reihen zieht. Dort befindet sich das Grab der
Halberstädterin, die Partei- und Frauengeschichte schrieb: Minna Bollmann.
Hoch oben auf dem Grabmal prangt ein SPD-Emblem, das ästhetisch an die
graue Sachlichkeit der dreißiger Jahre anknüpft. Bis vor Kurzem standen
hohe Bäume um das Grab. „Es ist ein guter Platz für Minna Bollmann“, sagt
SPD-Mitglied Bruno Logsch, „so mitten unter den Leuten. Ihrer Klientel.“
Bruno Logsch, der erst mit 60 in die SPD eingetreten ist, weil der
arbeitslose Schlosser „etwas gegen die Agenda 2010 tun wollte“, kommt oft
vorbei. Seine Eltern liegen hier, nebenbei kümmert er sich um das
Bollmann-Grab. Ihn ärgert, dass es heißt, die SPD habe das Grab
verwahrlosen lassen. Dabei ist sie, rechtlich gesehen, doch nicht zuständig
für das Grab. Und da beginnt der Schlamassel, denn es geht hier um die
Ehre. Minna Bollmanns und der SPD.
Denn Minna Bollmann und ihre Gaststätte stehen für die SPD über Halberstadt
hinaus – in dem Fachwerkhaus mitten im historischen Stadtkern wurde 1862
der erste Arbeiterbildungsverein Halberstadts gegründet, 1871 – im
Geburtsjahr Minna Bollmanns – wurde dort die SPD-Ortsgruppe gegründet.
Bebel, Liebknecht, Ebert – sie alle waren hier. Minnas Schwiegermutter
Johanna Bollmann hatte der Partei das Lokal schon während der
Sozialistengesetze geöffnet.
Minna Bollmann war in der DDR bekannt, geehrt – und wurde vereinnahmt.
Schon damals gab es hier eine Minna-Bollmann-Straße, und vor der Grabstätte
wurde eine Platte eingelassen, die sie als „Opfer des Faschismus“ ehrte.
„Minna Bollmann, geb. Zacharias“ steht auf dem Stein, links und rechts
finden ihr Sohn Otto und seine Frau Ida Erwähnung. Kein Wort, dass sich
Otto Bollmann 1950 in DDR-Haft während einer Säuberungswelle gegen
Sozialdemokraten das Leben nahm.
Als Minna Bollmann am 12. Dezember 1935 unter großer Anteilnahme zu Grabe
getragen wurde, verwandelte sich die Beerdigung in eine stumme,
eindrückliche Kundgebung gegen die Nationalsozialisten. Bald darauf wurden
die meisten Halberstädter Sozialdemokraten, darunter auch Otto Bollmann,
verhaftet und zu Gefängnis- oder Lagerstrafen verurteilt. Minna Bollmann
hatte vor ihrer drohenden Verhaftung den Freitod gewählt. Sie erhängte sich
am 9. Dezember 1935 auf dem Dachboden ihres Gasthauses.
In Bollmanns Gaststätte tagen heute noch die Halberstädter
Sozialdemokraten. An einem Abend Ende Oktober steht das Bollmann-Grab auf
der Tagesordnung. Rund 70 Mitglieder zählt der Ortsverein, knapp 20 sind
gekommen, überwiegend ältere Menschen. „Die Stadt vermittelt den Eindruck,
als wäre es ein Grab der SPD. Sie will mit uns einen Vertrag schließen“,
erklärt Regine Feuerbach, die Vorsitzende. Doch auf etwas Langfristiges
könne man sich nicht einlassen, die Mittel seien knapp. Regine Feuerbach
stellt klar, dass weder Stadt noch Partei die Grabstelle eliminieren wolle.
Zur Diskussion stehe, ob die Grabstätte versetzt, durch eine Gedenktafel an
anderer Stelle ersetzt oder aber saniert werde.
## „Es hat immer dazugehört“
Sechs Frauen, zwölf Männer diskutieren. Soll das Grab erhalten werden? Wie
lässt sich eine Sanierung oder gar Umgestaltung finanzieren? Der
SPD-Landtagsabgeordnete Gerhard Miesterfeldt verkündet die frohe Botschaft
einer 2.000-Euro-Spende. Aufatmen. Doch ein Jungsozialist fragt: „Sanieren
wir ein Grab, das uns nicht gehört, mit Geld, das uns nicht gehört?“ Jutta
Dick, Leiterin der Moses-Mendelssohn-Akademie, erwägt die Möglichkeit eines
Ehrengrabs, sie spricht sich dagegen aus, das SPD-Emblem und die Platte
„Opfer des Faschismus“ zu entfernen, das sei unhistorisch. Ein älterer Mann
sagt: „Mich bewegt, was das Grab alles überstanden hat. Es hat immer
dazugehört, auch das SPD-Logo. Für mich muss das Grab dort bleiben. Alles
andere ist zu anonym.“
Der Ortsverein beschließt, das Grab zu belassen, die Kosten für die
Sanierung über Spenden aufzutreiben und mit der Stadt über die Pflege zu
verhandeln. Da keine Erben bekannt sind, ist der Nutzungsvertrag
ausgelaufen – die Grabstätte könnte eingeebnet werden. Das will in
Halberstadt niemand. „Wir sehen eine gemeinsame Verantwortung“, beteuert
Stadtdezernent Michael Haase am Telefon. Er erwarte den Vorschlag der SPD,
was mit der „augenscheinlich sanierungsbedürftigen“ Grabstätte geschehen
solle. „Wir sind da sehr offen.“
„Das Grab sah schlimm aus“, sagt Werner Hartmann. Der 91-Jährige ist so
etwas wie das lebende Gedächtnis der Stadt. Das Zeitalter der
Digitalisierung hat in seinem überfüllten Arbeitszimmer in der
Ludwig-Feuerbach-Straße noch nicht Einzug gehalten, wohl aber ein Kopierer.
Wann ist das SPD-Emblem auf den Grabstein gekommen? Ab Mai 1945 gab es
einen SPD-Bürgermeister, weiß Hartmann, und eine starke Ortsgruppe,
insofern sei es wahrscheinlich, dass das Logo an Bollmanns 10. Todestag am
9. Dezember 1945 angebracht wurde. Doch schon im April 1946 sei es wieder
vorbei gewesen mit der Eigenständigkeit der SPD. Sie musste sich
zwangsweise mit der KPD zur SED vereinen.
Werner Hartmann hat als Kind Minna Bollmann „reden gehört“. Ihre Gaststät…
lag um die Ecke, in der damals noch nicht aufgehübschten Unterstadt mit
ihren Fachwerkhäusern. Nebenan stand auch die Synagoge, die 1938 zerstört
wurde.
## Neuer Name, alter Tresen
Der Schriftzug „Bollmanns Gaststätte“ ist erhalten geblieben, auch wenn die
neuen Inhaber das Lokal „Papermoon“ nennen. Carmen Allonge, die fünfte
Pächterin nach der Wende, zapft das Bier noch an Minnas altem Tresen. Der
Schankraum wurde renoviert, nebenan befindet sich Originalmobiliar. An der
Wand hängt ein großes Ölbild von Minna Bollmann. „Sie soll herzlich gewesen
sein“, sagt Michael Boskugel, der Freund der Pächterin. „Aber sie guckt
streng.“
Minna Bollmann war eine der ersten Frauen in der Weimarer
Nationalversammlung. Keine Theoretikerin, aber eine gute Rednerin. Bis 1933
war sie Abgeordnete im Preußischen Landtag und in der Halberstädter
Stadtversammlung. Was für eine Laufbahn, von der Schneiderin über die
Wirtin zur Politikerin. Als sie nach 1933 ihr Lokal weiterhin für
Parteitreffen offenhielt und Bebel nicht von der Wand nahm, wusste sie, was
sie riskierte. „Liebe Kinder, verzeiht mir diesen Schritt, sie sind hinter
mir her! Seid vorsichtig mit Gesprächen im Lokal!“, schrieb sie in ihrem
Abschiedsbrief.
Michael Boskugel ist gut informiert über Minna, ihre Kneipe, über Partei
und Stadt. Der ehemalige Juso, der an diesem Abend die Bestellungen der
Genossen entgegennimmt, war Mitglied einer Historikerkommission für
Halberstadt. Während er alte Fotos und Dokumente herauskramt, setzt sich
ein Stammgast auf einen Hocker, ein Sozialarbeiter im städtischen
Asylbewerberheim.
Begeistert erzählt er, dass er gerade Schriften von Lily Braun liest. Auch
eine Halberstädterin, eine Frauenrechtlerin, Schriftstellerin. Soll noch
einer sagen, die SPD sei in Halberstadt vergessen! Über die Frage der
Großen Koalition diskutiert der Ortsverein heute nicht. Es geht unter
Ausschluss der Öffentlichkeit um Personalia für die Kommunalwahlen im
Frühjahr. Der OB ist von der Linkspartei, die SPD schwächelt.
## Auf den Ursprung reduzieren
Halberstadt hat einen Verwaltungsstudiengang, dessen Studenten niemals
Bollmanns Gaststätte aufsuchen würden, Rathauspassagen, die das
geschäftliche Leben völlig verschluckt zu haben scheinen, den Dom samt
Vorplatz, wo Daniel Prieses Denkmal für die deportierten Juden Halberstadts
steht. Halberstadt, im Mittelalter Bischofssitz, ist eine Stadt mit reichem
Kulturerbe. Am 8. April 1945 wurde es von US-amerikanischen Bombern in
Schutt und Asche gelegt. „Das war der Anfang vom Ende“, sagt Michael
Boskugel. „Seither haben die Halberstädter einen Schaden weg.“ Im
Burchardi-Kloster wird noch sechshundert Jahre lang ein Stück von John Cage
erklingen. Wer will, kann eine Stiftertafel erwerben.
Der Halberstädter Bildhauer Daniel Priese hat im SPD-Auftrag Pläne zur
Sanierung des Grabes ausgearbeitet, ohne SPD-Emblem. „Einen
dokumentarischen Wert will ich dem nicht absprechen“, sagt er, aber als
Logo sei es eine Erfindung. Das Grab habe fortlaufend Veränderungen
erfahren. Der ursprüngliche Grabstein wird schon wegen der
Nationalsozialisten nicht so groß gewesen sein, später kamen Otto und Ida
Bollmann hinzu, der Platz, auf dem zu DDR-Zeiten die Kränze abgeworfen
wurden. Den sollte man wegnehmen, meint Priese.
Er will das Grab um ein Viertel drehen, sodass es wieder von allen Seiten
einsehbar ist. Prieses Anliegen: „Reduzieren auf den Ursprung: das Gedenken
an Minna Bollmann.“ Im Übrigen sei dies auch preiswerter, als den jetzigen
Zustand wiederherzustellen.
Am 9. Dezember wird der SPD-Ortsverein wie in jedem Jahr am Grab einen
Kranz niederlegen. Bruno Logsch wird sich, bis die Sache mit der Stadt
geklärt ist, weiter um die Pflege kümmern. Daniel Priese wird an diesem Tag
den SPD-Mitgliedern seine Vorstellungen von der Umgestaltung des Grabes
erläutern. Minna Bollmann ist aus ihrem Winterschlaf erwacht.
9 Dec 2013
## AUTOREN
Sabine Seifert
## TAGS
SPD
Konzentrationslager
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