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# taz.de -- Tagebücher erinnern: „Hitler als Linol-Figur war ausverkauft“
> Vier Hamburger Tagebücher widmen sich dem Jahr 1933. Und erzählen, wie
> die Nationalsozialisten von der bürgerlichen Mitte aufgenommen wurden.
Bild: Karl Fritz Rosenberg, jüdischer Rechtsanwalt, schreibt 1933 Tagebuch, 19…
HAMBURG taz | „Gestern erwarteten wir zuhause das neue Jahr in Gesellschaft
von Mama und Fanny. Wir feierten seinen Eintritt mit Apfelkuchen und einem
neu ausprobierten, sehr konsistenten Eierpunsch. Vor Mitternacht las ich
’Des Lebens Überfluß‘ von Tieck vor, eine skurrile Geschichte“, notiert
Nikolaus Sieveking am Sonntag, dem 1. Januar 1933 in sein Tagebuch.
An der Seite Mutter und Schwester, vor sich warmen, dickflüssigen Alkohol,
danach die deutsche Romantik als Vorlesestoff – so genießt der 33-jährige
Spross einer etablierten Hamburger Bürgerfamilie, aus der schon ein
Bürgermeister hervorgegangen ist, das Silvesterfest.
Doch dass das anbrechende Jahr ein gewissermaßen besonderes werden könnte,
das weiß Sieveking mehr, als das er es nur ahnt: „Stimmungsberichte der
Zeitungen und Jahresberichte verschiedener Firmen und Institute gebrauchen
in diesen Tagen mit Vorliebe den Ausdruck: ’Die Talsohle der Depression ist
erreicht.‘ Es wäre zweifellos schön, wenn das stimmte, aber so garantiert
dafür Niemand und Nichts.“
Sieveking sitzt an der Quelle: Er arbeitet im Hamburger
Welt-Wirtschafts-Archiv. Genauer: Er wertet dort die eintreffenden
Publikationen aus; im Grunde ist es ein Hilfsjob, der den Intellektuellen
maßlos unterfordert. Doch auch das wird sich ändern: Sein neuer
Vorgesetzter, ein überzeugter Nationalsozialist, wird auf ihn im Laufe des
kommenden Frühjahrs aufmerksam werden.
Er wird ihn mit für das Regime wichtigen Recherchearbeiten betreuen und
unter ihm ist es bald angenehmer zu arbeiten als unter dem alten Chef,
einem demotivierenden Vertreter der untergegangenen Weimarer Republik –
auch wenn Sieveking ansonsten für die neuen, braunen Herren nur Spott und
Hohn übrig hat: „Ich sehe meine Arbeit heute anders an als vor einem Jahr,
weil ich die Angelegenheit des Presse-Archivs in Fluß gebracht habe.
Hier steckt tatsächlich eine Chance für mich, und ich bin entschlossen sie
auszunutzen, so und soweit ich irgend kann“, notiert er am 13. 12. 1933,
während er zugleich sehr aufmerksam den Reichstagsbrand-Prozess in Berlin
verfolgt.
Sievekings Tagebuch aus dem Jahr 1933 ist eines von vier Tagebüchern, die
die Historiker Frank Bajohr, Beate Meyer und Joachim Szodrzynski jetzt
ausgewertet und zu einem Sammelband zusammengestellt haben. Dieser
GöttingenTage erscheint er unter dem Titel „Bedrohung, Hoffnung, Skepsis“.
Die vier Bücher, eine Auftragsarbeit des Instituts für die Geschichte der
deutschen Juden sowie der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, erzählen aus
der Sicht der bürgerlichen Mitte vier Mal, wie man in Hamburg den Beginn
der NS-Diktatur wahrnahm, einschätzte und auch bewertete.
„Es ging uns darum, die Geschichte des Nationalsozialismus mal nicht vom
Ende her zu erzählen, wie man das sattsam kennt. Sondern vom Beginn her, wo
es den neuen Machthabern gegenüber noch viele Illusionen und auch
Hoffnungen gibt – das erklärt auch im gewissen Sinne die Indifferenz oder
auch Akzeptanz oder auch Fehleinschätzung gegenüber dem Nationalsozialismus
mit noch nicht entfalteter Macht“, sagt Joachim Szodrzynski.
Denn noch scheint vieles vage, diffus, durchaus auch umkehrbar, was sich da
ab Januar 33 anbahnt. „Was ist das für eine Regierung? Hat die überhaupt
eine Perspektive? Das sind Fragen, die die Tagebuchschreiber umtreiben“,
sagt Szodrzynski.
In diesem Sinne fungieren die meist täglichen Notizen weit über die bloße
Dokumentation des Alltags hinaus im Sinne einer Absicherung der eigenen,
eben oft noch unsicheren Einschätzung: Was sagt das Ausland und was steht
in der Presse? Wie reagieren die Nachbarn und wie die Arbeitskollegen, wenn
man etwa aufgefordert wird, nun nicht mehr in jüdischen Geschäften
einzukaufen?
Und nicht zuletzt schauen die Schreibenden äußerst genau in ihre eigenen
Wohnzimmer, wenn die Familie samt Verwandten, Bekannten und Freunden
zusammen kommt und diesem Hitler lauscht: „Während Großmama,
Schwiegermutter und Willy verklärt lauschten, verließ ich das Zimmer unter
Protest“, schreibt Sieveking am 5. 2. 1933.
Wo der Bankier Cornelius Freiherr von Berenberg-Gossler weiter emsig an
seinem hanseatisch-großbürgerlichen Netzwerk strickt und die Ernennung
Hitlers zum Reichskanzler zunächst kaum wahrnimmt, ist dem jüdischen
Rechtsanwalt Karl Fritz Rosenberg einerseits bald klar, dass er zu den
kommenden Opfern des Regimes gehören wird. Andererseits hofft er anfangs,
dass sich die Verhältnisse doch wieder glätten und bessern könnten und die
Vernunft siegen wird.
Von einer anderen Warte her nähert sich das Tagebuch von Luise Solmitz: Die
Lehrerin wird von fast schon religiösen Erweckungsgefühlen geschüttelt,
wenn sie in den ersten Monaten des Jahres 1933 am Straßenrand steht und
zuschaut, wie die Nationalsozialisten mit Tusch und Trara aufmarschieren:
„Schauderhafte Kälte. Dabei ein gewaltiger Hitler-Umzug, der gar nicht
enden wollte.
Ist nun doch einmal die einzige Partei, für die ich mit dem Herzen
eintreten kann“, so ihr Eintrag am 15. 1. 1933. Und eine knappe Woche
später: „Ich versuchte, Hitler als Linol-Figur zu bekommen, er war aber
ausverkauft.“ Luise Solmitz wird allerdings bald auf ein Problem stoßen:
Ihr Mann Friedrich ist jüdischer Abstammung, wie er offiziell bekennt, als
Tochter Gisela zum Bund Deutscher Mädchen möchte und die Abstammung ihrer
Eltern offenlegen muss.
Solmitz muss nun einiges an innerer Kraft aufwenden, um zwischen
Begeisterung und Bedrohung zu vermitteln – und findet Halt in der
Vorstellung, dass es sich bei den auf der Straße grölenden Antisemiten nur
um eine kleine, unangenehme Minderheit unter den edlen Nazis handelt, die
schon wieder verschwinden wird.
Eine Denkfigur, auf die man später wieder in der bundesdeutschen
Nachkriegszeit stoßen wird: Was wäre bloß passiert, wenn dieser Hitler es
mit den Juden nur nicht so übertrieben hätte? Solmitz’ Jahresbilanz fällt
am Silvesterabend 1933 entsprechend gemischt aus: „1933 hat uns das Dritte
Reich gebracht, mit ihm, für uns persönlich, eine harte Nuss zu knacken, –
wir werden nie damit fertig werden: die Arierfrage. Ein überaus glückliches
Jahr, es ließ uns gesund u. beieinander, brachte uns eine herrliche Ruhe u.
dem Haus die Zentralheizung.“
Spannend sind nicht zuletzt die Geschichten der Tagebücher selber:
Sieveking hatte schon als junger Mann emsig und vor allem ausführlich
Tagebuch geschrieben, dabei sein Selbstbild vom klugen, aber deshalb eben
einsamen Intellektuellen gepflegt. Von Berenberg-Gossler, der 40 Jahre lang
Tagebuch schreiben wird, nutzt dieses wie einen Kalender. „Das Tagebuch
diente dem umtriebigen Patrizier eher dazu, im Familien und
Gesellschaftstrubel den Überblick zu behalten“, so Szodrzynski.
Solmitz wird nach dem Ende der NS-Herrschaft ihre oft so überbordenden
Eintragungen geflissentlich überarbeiten – und besonders jene Passagen
glätten, in denen sie wie in einer Art Selbstgespräch hin und her überlegt,
ob sie ihren Bruder, einen Regimegegner, den Behörden preisgeben soll; ein
Faktum, das innerhalb ihrer Familie ebenso unbekannt war wie die jüdische
Herkunft ihres Mannes.
Kurt Fritz Rosenberg als vierter Tagebuchschreiber beginnt seine
Niederschriften erst im März 1933: als der anfangs noch lokal hier und dort
ausbrechende Terror des Regimes in dann systematische Bahnen gelenkt wird.
1938 entkommt er gerade noch rechtzeitig mit seiner Frau und den beiden
Kindern in die USA. Tagebuch wird er nie wieder schreiben.
## Frank Bajohr, Beate Meyer und Joachim Szodrzynski: „Bedrohung, Hoffnung,
Skepsis – Vier Tagebücher des Jahres 1933“, Wallstein Verlag 2013, 496
Seiten, 34,90 Euro
16 Dec 2013
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Hamburg
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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