# taz.de -- Wie bei Kafka: Berliner Aktenfresser schlagen zurück | |
> Das Amtsgericht verlangt von einer Zeugin immer wieder „Nachweise“ wegen | |
> Verdienstausfalls. Keiner kann sagen, was für „Nachweise“ es sein sollen. | |
Bild: Die Akten im „Fall Melanie Knies“ haben einen beachtlichen Umfang err… | |
BERLIN taz | „Um ehrlich zu sein, habe ich Ihren Brief dreimal lesen | |
müssen, um zu merken, dass Sie es offensichtlich ernst meinen“, schreibt | |
Melanie Knies an das Amtsgericht Tiergarten ([1][hier der gesamte | |
Schriftwechsel]). Seit Monaten versucht sie, dass das Gericht ihr den | |
Verdienstausfall von 111 Euro und 56 Cent erstattet. Den hatte sie, weil | |
sie als Zeugin in einem Strafprozess aussagen sollte. | |
Der Fall an sich ist eigentlich unspektakulär – würde er nicht beispielhaft | |
zeigen, dass an so manchem Gericht jedes Gespür für die Lebensrealitäten | |
vieler Menschen dieser Stadt fehlt. Zwei Kulturen prallen dabei | |
aufeinander: die von Richtern, die auf Lebenszeit ernannt werden und Teil | |
einer Bürokratie sind. Und die von Menschen, die sich irgendwie mit | |
verschiedenen Jobs und Auftraggebern über Wasser zu halten versuchen. | |
Es beginnt mit einem Verkehrsunfall vor über einem Jahr. Melanie Knies | |
beobachtet, wie ein Vespafahrer dabei leicht verletzt wird. Sie geht zu ihm | |
hin, gibt ihm ihre Visitenkarte, falls er eine Zeugin braucht. | |
Im Februar 2013 bekommt sie Post vom Amtsgericht: Es sei „erforderlich, Sie | |
als Zeugin zu vernehmen“, sie solle am 21. März um 9 Uhr bei Gericht | |
erscheinen. Für den Tag hatte Melanie Knies eigentlich einen Auftrag | |
bekommen: Sie arbeitet tageweise und freiberuflich für eines dieser | |
Busunternehmen, bei dem man einmal 10 Euro zahlt und an jeder Station | |
einsteigen und aussteigen kann, und während der Fahrt erklären einem | |
Tourguides wie Melanie Knies die Stadt. Knies sagt also ihren Auftrag ab. | |
Zwei Wochen vor dem Gerichtstermin kommt ein neuer Brief: Die Verhandlung | |
ist auf den 16. Mai verschoben. An dem ursprünglichen Termin hätte Melanie | |
Knies jetzt also wieder Zeit, um als Tourguide zu arbeiten – aber die Firma | |
hat diese Fahrt inzwischen an jemand anderen vergeben. | |
## Sie darf wieder gehen | |
Die Verhandlung wird dann noch ein weiteres Mal verschoben. Und dauert dann | |
für sie nur 30 Sekunden: Melanie Knies wird hereingerufen. Das Gericht | |
teilt ihr mit, dass ihre Aussage nicht benötigt wird. Sie kann wieder | |
gehen. | |
Für den ersten Termin hätte Melanie Knies nun gern die Entschädigung für | |
den Verdienstausfall. Steht schließlich ja auch so im Gesetz. Und in den | |
„Wichtigen Hinweisen“, die jeder Zeuge erhält. Im Absatz zu | |
„Verdienstausfall“ heißt es: „Sind Sie selbstständig oder freiberuflich | |
tätig, bringen Sie bitte entsprechende Unterlagen (z. B. Handwerkerkarte, | |
Gewerbeschein usw.) mit.“ Melanie Knies schickt dem Gericht eine Kopie des | |
Gewerbescheins sowie eine Bescheinigung vom Busunternehmen, dass sie für | |
den Tag eigentlich als Tourguide arbeiten sollte und dabei 111,56 Euro | |
verdient hätte. | |
Das Gericht prüft den Antrag – zwei Monate lang. Und sieht auf dem | |
Gewerbeschein, auf wie vielen Feldern Melanie Knies aktiv ist – oder | |
zumindest zum Zeitpunkt der Gewerbeanmeldung aktiv sein wollte: Consulting | |
in Tourismus und Gastronomie, Stadtführungen, hundegestützte Therapie. | |
Alles Bereiche, in denen es nach Vorstellungen des Gerichts offenbar eine | |
große, bisher unbefriedigte Nachfrage gibt und sich jederzeit neue Aufträge | |
akquirieren lassen. | |
„Sie wurden rechtzeitig umgeladen, sodass genügend Zeit blieb, Ihre | |
beruflichen Termine umzuplanen“, schreibt das Amtsgericht Tiergarten an | |
Melanie Knies. „Aufgrund der eingereichten Gewerbeanmeldung wird davon | |
ausgegangen, dass es Ihnen möglich gewesen wäre, andere Tätigkeiten an | |
diesem Tag auszuüben.“ | |
Melanie Knies beschreibt in der Antwort Ihre Situation: „Aktuell lebe ich | |
hauptsächlich von Trainereinsätzen und von Einsätzen als Tourguide. | |
Therapiehundeinsätze gibt es derzeit nicht. Um also diese Termine | |
miteinander zu koordinieren, stehen Aufträge mindestens einen Monat im | |
Voraus fest – mindestens.“ Sie habe versucht, schnell einen neuen Auftrag | |
zu ergattern. Das habe sich aber als unmöglich herausgestellt. „Wenn Sie | |
allerdings wissen“, fährt Melanie Knies fort, „wie so etwas funktioniert, | |
dann bin ich für jeden Tipp dankbar.“ | |
Das Amtsgericht prüft den Fall weitere drei Monate. Und antwortet: „Können | |
Sie dartun/nachweisen, dass Sie Bemühungen angestrengt haben, für den | |
infrage stehenden Tag neue Termine zu bekommen? Können Sie | |
dartun/nachweisen, warum Sie in der frei gewordenen Zeit nicht andere | |
Tätigkeiten entsprechend Ihrer Gewerbeanmeldung ausgeübt haben? Haben Sie | |
sich um solche Tätigkeiten bemüht? Haben Sie darüber Nachweise?“ | |
Dies ist der Brief, den Melanie Knies dreimal lesen muss, um zu merken, | |
dass das Gericht es ernst meint. | |
## Jetzt mal eine Gegenfrage | |
Sie fragt jetzt zurück: Was habe die Bearbeitung des Falles bisher | |
gekostet, ist der Aufwand der Sache angemessen, wird so wohl der Stau bei | |
der Bearbeitung solcher Anträge abgearbeitet? Und: „Glauben Sie, dass Sie | |
mit der Vorgehensweise dem Image der öffentlichen Hand dienen?“ | |
Ihre wichtigste Frage aber: „Welche weiteren Bemühungen möchten Sie denn | |
gerne wie dargetan bekommen?“ Immerhin liegt die Angelegenheit zu diesem | |
Zeitpunkt schon fast ein halbes Jahr zurück. Wie soll sie da noch | |
nachweisen, mit wem sie damals telefoniert hat? | |
Diesmal kommt die Antwort vom Gericht bereits nach zehn Tagen: „Leider | |
haben Sie die von mir gestellten Fragen, […] um deren Beantwortung ich Sie | |
gebeten hatte, erneut nicht beantwortet. Ich gebe Ihnen Gelegenheit, mir | |
die entsprechenden Nachweise binnen zehn Tagen einzureichen.“ Würde sie dem | |
nicht nachkommen, „werde ich nach Aktenlage entscheiden“. | |
Melanie Knies schreibt zurück: „Ich habe Ihnen sage und schreibe sechs | |
durchnummerierte Fragen geschickt, von denen Sie nicht eine einzige | |
beantwortet haben. Ich gebe Ihnen Gelegenheit, mir die entsprechenden | |
Antworten binnen einer Woche einzureichen. Sollten Sie dem erneut nicht | |
nachkommen, werde ich nach Gemütslage entscheiden.“ | |
## Widerspruch? Geht nicht | |
Am Amtsgericht verfasst nun die zuständige Richterin einen drei Seiten | |
langen, förmlichen Beschluss mit Wappen und allem: „Auch wenn es für die | |
Antragstellerin ärgerlich ist, dass ihr durch die Terminabsage der in | |
Aussicht gestellte hohe Tagesverdienst entgangen ist, war es ihr zuzumuten, | |
den Tag mit anderen Tätigkeiten entsprechend ihrer beruflichen | |
Selbstständigkeit zu füllen oder sich für die verbleibende Zeit Tätigkeiten | |
aus den anderen Bereichen ihrer Selbstständigkeit zu suchen.“ | |
Außerdem sei Melanie Knies „mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sie | |
Nachweise dafür beibringen muss, dass sie in der Zeit ab Erhalt der | |
Umladung hinreichende Anstrengungen unternommen hat, die frei gewordene | |
Zeit durch andere Tätigkeiten im Rahmen ihrer Gewerbeausübung auszufüllen.“ | |
Ein Widerspruch ist unmöglich: „Dieser Beschluss ist unanfechtbar.“ | |
Die taz fragt bei Gerichtssprecher Tobias Kaehne an: Welche Nachweise würde | |
das Gericht akzeptieren? Und sollte nicht gleich zu Beginn in den | |
„Wichtigen Hinweisen“ für Zeugen darauf hingewiesen werden, solche | |
Nachweise aufzubewahren? | |
Tobias Kaehne antwortet: „Welche Nachweise nötig sind, lässt sich nicht | |
pauschal beantworten. Das hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Aus diesem | |
Grunde dürfte es auch nicht weiterhelfen, weitere Hinweise in die Formulare | |
aufzunehmen.“ | |
Man kommt sich vor wie in einem Roman von Kafka. Dort wird ein Angeklagter | |
immer wieder vor Gericht gerufen. Aber niemand will ihm sagen, was ihm | |
überhaupt vorgeworfen wird. Hier werden immer wieder „Nachweise“ verlangt, | |
aber niemand kann sagen, was das eigentlich sein soll. | |
Melanie Knies sagt, sie werde sich in Zukunft gut überlegen, ob sie sich | |
bei einem kleineren Verkehrsunfall noch einmal als Zeugin zur Verfügung | |
stellt. | |
2 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://blogs.taz.de/hausblog/files/2014/01/knies-briefe.pdf | |
## AUTOREN | |
Sebastian Heiser | |
## TAGS | |
Amtsgericht | |
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