# taz.de -- Dermatologe über beschriebene Hautleiden: „Bukowski hat seine Ak… | |
> In der Literatur wurden früher die Syphilis und heute das schwarze | |
> Melanom gnadenlos überbewertet. Der Bremer Dermatologe Friedrich Bahmer | |
> hat Erklärungen | |
Bild: Hautverrückt: Friedrich Bahmer. | |
taz: Herr Bahmer, welche Rolle nimmt die Dermatologie in der Literatur ein? | |
Friedrich Bahmer: Eine enorm große. Die US-Schriftstellerin Sylvia Plath | |
beispielsweise hat schon früh realisiert, wie wichtig die Haut nicht nur | |
als Hülle ist, sondern auch als psychisches Organ. Der französische | |
Psychiater Didier Anzieu hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Das | |
Haut-Ich“, das zeigt, welche wichtige Rolle die Haut für die psychische | |
Entwicklung, also für die Ich-Bildung, hat. | |
In der Schulmedizin werden Organe meistens isoliert betrachtet, abgekoppelt | |
von der Psyche. Wie kommt es, dass Sie das nicht tun, obwohl Sie doch auch | |
Schulmediziner sind? | |
Ich habe ein Jahr lang in London studiert, an der Medical School am St. | |
Bartholomew’s Hospital, und das war sehr prägend, weil schon damals das | |
dortige Ausbildungssystem in der Medizin viel besser war als in | |
Deutschland. Hier kommt der Bereich der Ganzheitlichkeit leider viel zu | |
kurz, dieser Aspekt spielt in der Ausbildung kaum eine Rolle. Auch die | |
Pharma-Wirtschaft sollten Ärzte besser und kritischer durchschauen lernen. | |
Ich gehöre der 68er-Generation an; damals haben wir uns mit diesem Thema | |
sehr beschäftigt, aber das ist heute leider nicht mehr so. | |
Ist eine Hauterkrankung die Ursache einer psychischen Erkrankung oder ist | |
sie eine Folge davon? | |
Das ist kein einfaches Ursache-Wirkung-Spiel. Früher hat man zum Beispiel | |
gedacht, wenn Mütter eine ambivalente Einstellung zum Neugeborenen haben, | |
dann befördert das die Neurodermitis des Babys. Aber dafür gibt es keine | |
substanziellen Beweise. Man muss sich ja auch die Frage stellen, wie die | |
Neurodermitis das Mutter-Kind-Verhältnis beeinflusst. Das ist ja | |
schließlich eine chronische Krankheit mit einem ständig schreienden Kind, | |
das nach ein paar Monaten anfängt, sich überall aufzukratzen – man kann | |
also kaum sagen, was Henne ist und was Ei. Bei der Schuppenflechte spielen | |
hingegen Persönlichkeitsaspekte eine Rolle. | |
Inwiefern? | |
Schuppenflechte-Patienten gelten als eher nachlässig, was die Behandlung | |
angeht. Sie zeigen das Verhalten, das man in der Psychologie „erlernte | |
Hilflosigkeit“ nennt. Diese Patienten tun sich schwer, positive Energie zu | |
generieren, sich Ziele zu setzen und Hürden zu nehmen. Das ist auch der | |
Grund, warum überdurchschnittlich viele Schuppenflechte-Patienten zum | |
Alkohol greifen. | |
Und das ist keine Folge der Erkrankung? | |
Man kann natürlich keine Schubladen aufmachen und sagen, alle Patienten | |
sind so, aber man kann davon ausgehen, dass sich die Genetik auch in der | |
Psyche zeigt. Die Schuppenflechte tritt ja häufig erst spät und nach | |
biografischen Einschnitten auf, während die Neurodermitis schon im | |
Säuglingsalter auftritt und im wahrsten Sinne des Wortes mit einer dünnen | |
Haut einhergeht. Und dann wiederum gibt es Erkrankungen wie zum Beispiel | |
Hautkrebs, die keine psychischen Ursachen haben, außer vielleicht – so wie | |
bei Ernest Hemingway – dass jemand süchtig ist nach Sonne. | |
Hat Hemingway nicht vielmehr die Sonne gesucht als Mittel gegen seine | |
Depressionen? | |
Hemingway war sehr auf Äußerlichkeiten fixiert und ein echter Fetischist. | |
In seinem posthum erschienenen Roman „Der Garten Eden“ wird braun gebrannte | |
Haut und blondes Haar zum einzigen Schönheitsmerkmal stilisiert. Die | |
Protagonisten Catherine und David, und damit meinte Hemingway ganz klar | |
sich und seine erste Frau, versuchen stets, in die Rolle des anderen zu | |
schlüpfen. Beide sind blond und braun gebrannt, Haut und Haare sind | |
identitätsstiftend. Dabei wusste er, wie gefährlich Sonne sein konnte: in | |
„Der alte Mann und das Meer“ schreibt er über ihre Auswirkungen auf die | |
menschliche Haut. | |
Nicht nur er hat Hautkrebs in der Literatur thematisiert – was reizt | |
Schriftsteller gerade am Thema Melanom? | |
Ich glaube, Hautkrebs hat in der Literatur den „Schwarzen Tod“, also die | |
Pest, abgelöst, seit diese sehr selten und heilbar geworden ist. Kurios | |
allerdings ist, dass das Melanom ebenfalls meist heilbar ist und viel | |
seltener zum Tode führt als allgemein behauptet wird. Dieser Glaube hat | |
bestimmt auch damit zu tun, dass der Tumor „schwarzer Hautkrebs“ genannt | |
wird, steht doch Schwarz für Sterben, Tod, Vergehen, Leiden. Sylvia Plath, | |
Charles Bukowski, Thomas C. Boyle, Stephen King, Charlotte Roche: Sie alle | |
haben sich mit dem Melanom beschäftigt. Interessant ist hier vor allem Jörg | |
Pönnighaus, ein Dermatologe und Lyriker. Er thematisierte besonders | |
psychoonkologische Aspekte wie die Gleichsetzung von Melanom und Tod, die | |
Gefühle der Patienten, wenn sie die Diagnose erhalten haben, aber auch die | |
Gefühle der behandelnden Ärzte. | |
Aber es sind doch auch Ärzte, nicht nur Schriftsteller oder der Volksmund, | |
die behaupten, das Melanom sei ganz besonders bösartig. | |
Leider ja, obwohl das Melanom bei frühzeitiger Diagnose eine | |
Zehn-Jahres-Überlebensrate von 90 Prozent hat. Viel gefährlicher sind das | |
Lungenkarzinom und der Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei denen die | |
Überlebensrate unter zehn Prozent beträgt. Ich habe manchmal den Eindruck, | |
dass manche Ärzte die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben und damit | |
sich und ihre Arbeit wichtig machen. Viele Ärzte gehen außerdem zu negativ | |
mit der Diagnose um, stimulieren zu wenig die Selbstheilungskräfte der | |
Patienten, reden viel zu selten davon, wie gut die Heilungschancen sind. | |
Eine andere Krankheit, mit der sich Schriftsteller gerne beschäftigen, ist | |
die Syphilis. | |
Die Syphilis wurde in der Literatur lange stark überhöht. Die Spätform der | |
Syphilis des Gehirns wurde sogar als genialisierend beschrieben. So in | |
Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo sich der Komponist Leverkühn absichtlich | |
infiziert, um musikalische Genialität zu erlangen. Verantwortlich für | |
diesen Irrglauben war der italienische Psychiater und Anthropologe Cesare | |
Lombroso, der am Schicksal des Dichters Nikolaus Lenau bewiesen haben | |
wollte, dass Syphilis genial macht – und dieser Glauben hat sich gehalten | |
bis ins frühe 20. Jahrhundert. | |
Gibt es noch mehr dermatologische Besonderheiten, die immer wieder in der | |
Literatur vorkommen? | |
Das plötzliche Ergrauen ist ein weiteres Beispiel. In „Die Füße im Feuer“ | |
von Conrad Ferdinand Meyer ist mir dieses Phänomen zum ersten Mal | |
aufgefallen. Erwähnt wird es im Talmud, bei Shakespeare, bei Walter Scott | |
und bei Eichendorff, auch Günter Grass hat darüber geschrieben. Zu Kennedys | |
40. Todestag stand in der Bildzeitung, dass die Ehefrau von Gouverneur | |
Connally nach Kennedys Ermordung über Nacht grau geworden sei. Es gibt | |
dieses Phänomen, aber es ist nicht so, dass das Haar grau wird, sondern | |
dass den Menschen, die ohnehin schon das eine oder andere graue Haar haben, | |
die nichtgrauen Haare ausfallen. Insofern ist es ziemlich unwahrscheinlich, | |
dass Shakespeares Heinrich IV., der ja schon mit zwanzig guillotiniert | |
wurde oder die 17-jährige Protagonistin aus dem „Krebsgang“ von Günter | |
Grass auch in Wirklichkeit „plötzlich ergraut“ wären. | |
Stehen beim Lesen für Sie dermatologische oder die literarischen Aspekte im | |
Vordergrund? | |
Trivialliteratur wie Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ lese ich eher aus | |
dermatologischem Interesse. In diesem Buch gibt es aus hautärztlicher Sicht | |
interessante Aspekte wie zum Beispiel den hierzulande grassierenden | |
Hygienewahn – Roche hat völlig recht mit dem, was sie da geschrieben hat. | |
Und dann gibt es Schriftsteller wie Charles Bukowski, der seine schwere | |
Akne, seinen Umgang mit Hautkrankheiten, seine Traumata und Auswirkungen | |
auf das eigene Empfinden immer wieder thematisiert hat – den schätze ich | |
darüber hinaus literarisch sehr und bin deshalb auch Mitglied der | |
Charles-Bukowski-Gesellschaft. Aber ich entdecke ja nicht nur in der | |
Literatur das Thema Haut und Haare, sondern auch in der Musik und in der | |
Kunst. | |
Zum Beispiel auf dem mittelalterlichen Gemälde der Kaufmannswitwe Gesche | |
Meyer im Bremer Focke-Museum … | |
Ja, auf dieses Bild hat mich ein Kollege aufmerksam gemacht, und nach | |
genauem Studium stand außer Zweifel, dass Gesche Meyer das | |
Parry-Romberg-Syndrom hatte. Dabei kommt es zu einer halbseitigen Atrophie | |
des Gesichts, also einem Gewebeschwund, sichtbar als Einsenkung an der | |
linken Stirnseite der Porträtierten. | |
Ihre dermatologische Spurensuche mutet fast ein wenig besessen an. | |
Da ist bestimmt was dran. Auch fotografisch habe ich mich mit dem Thema | |
beschäftigt: In Göttingen läuft gerade eine Ausstellung von mir mit | |
dermatologischen Bildern, die ich verfremdet habe. Der Untertitel lautet, | |
meinen mexikanischen Wurzeln entsprechend: „Dermatología, Dermatólogo, | |
Dermatolóco“. Ich bin also nicht nur Dermatologe, also Dermatólogo, sondern | |
auch dermatolóco – hautverrückt! | |
Nächster Vortrag von Friedrich Bahmer, „Schneeweiße Haare über Nacht: | |
Biologisches Faktum oder literarische Fiktion?“: 12. Februar, 18 Uhr, | |
Stadtbibliothek Bremen | |
27 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
## TAGS | |
Literatur | |
Bremen | |
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