# taz.de -- Brasilien: Traumsucher am Strand | |
> Es gibt ihn immer wieder neu: den Traum vom Aussteigerleben. Bei der | |
> Inkiri-Gemeinschaft am goldgelben Sandstrand in Piracanga. | |
Bild: Die Gemeinschaft unter Palmen in Piracanga. | |
Wenn mir vor zwei Jahren einer gesagt hätte, ich würde einmal in einer | |
Kommune leben - den hätte ich für verrückt erklärt". Peter Winter lacht, | |
ein bisschen auch über sich selbst. Dann sagt er: "Jetzt lebe ich in einer | |
Kommune, anders kann man das ja kaum nennen." | |
Peter ist groß und grauhaarig, hat blaue Augen und ein Bäuchlein. Er trägt | |
Bermudas und Turnschuhe - während die meisten hier in selbst genähten | |
Gewändern und barfuß unterwegs sind. Der 56-jährige Österreicher war in | |
Portugal im Finanzbereich einer Eventagentur tätig. Jetzt lebt er in der | |
Inkiri-Gemeinschaft in Piracanga und wacht morgens mit Vogelgesang und dem | |
Rauschen des Windes in den Palmwedeln auf. Statt einer eigenen Wohnung | |
bewohnt er ein Schlafzimmer in einem geliehenen Haus. Um sieben Uhr morgens | |
stapft er über einen Sandpfad ins Büro, das er in einer Kammer neben der | |
Gemeinschaftsküche eingerichtet hat. | |
Wer nach Piracanga kommt, landet in einer Szenerie, die man sich zur | |
Illustration des Paradieses kaum besser erfinden könnte. Der türkisblaue | |
Atlantik trifft weiß schäumend auf den goldgelben Sandstrand, parallel zur | |
Küste fließt gemächlich ein breiter, seichter Fluss. Am Flussufer stehen | |
Cashewbäume und Kokospalmen, wachsen Bromelien und Hibiskus. Sandpfade | |
verbinden eine Handvoll mit Palmwedeln gedeckte Gebäude. Entspannte junge | |
Menschen und Kinder liegen im Sand oder baden im Fluss. Niemand erhebt die | |
Stimme. Kein Schimpfwort ist zu hören. | |
## Das spirituelle Leben | |
Grundlage der Inkiri-Gemeinschaft ist die Idee, dass jeder Mensch auf der | |
Welt ist, um seinen von Gott gewollten Traum zu verwirklichen. Die meisten | |
Menschen kennen ihren Traum nicht, da sie nicht mit dem göttlichen Anteil | |
ihres Selbst in Verbindung stehen, glauben die Inkiri. Täten sie das, würde | |
das menschliche Zusammenleben friedlicher, glücklicher und erfüllter. | |
Angelina, Portugiesin und Gründerin der Kommune, leitete mit ihrem | |
Gefährten Gabriel ein ganzheitliches Heilungszentrum an der Algarve, als | |
sie vor mehr als zehn Jahren von einem Strand, einem Fluss und Palmen | |
träumte - und spürte, an diesem Ort würde sie ihre Idee vom spirituell | |
erweckten Leben in einer Gemeinschaft verwirklichen. Jahre danach reiste | |
sie durch Brasilien, um sich irgendwo niederzulassen. Irgendwann fuhren sie | |
mit einem Boot übers raue Meer bis an einen Strand. "Und dann bin ich in | |
Tränen ausgebrochen", sagt Angelina, "denn das war der Ort aus meinem | |
Traum!" | |
## Verschwende nicht deine Energie | |
In Piracanga soll jeder tun, wovon er träumt. Die freie Schule ist der | |
Traum von Ivana aus Uruguay. Ein Spezialist für nachhaltige Waldnutzung | |
leitet ein Aufforstungsprojekt. Und ein Fotograf kümmert sich um den | |
Abtransport des irdischen Mülls. Bei einem Leben direkt am Strand, in einem | |
Landstrich, in dem es nie kälter wird als 18 Grad, scheint man das Paradies | |
leichter zu finden als anderswo. | |
Etwa 80 Menschen leben in Piracanga, das Lesen von Auren ist ihr zentrales | |
Werkzeug - um ihren Traum zu erkennen, für die eigene Entwicklung, das | |
Lösen von Konflikten, die Entwicklung der Gemeinschaft. Amélia macht es | |
vor. In einem weiß gestrichenen Raum setzt sich die dunkelhaarige Frau etwa | |
einen Meter vor ihr Gegenüber, schließt die Augen und konzentriert sich. | |
Jetzt wird sie den Energiekörper erspüren, der den materiellen Körper | |
farbig leuchtend umgibt. "Ich sehe eine Rose", sprudelt es aus ihr heraus, | |
dann geht es um Arbeit, Partnerschaft und das Verhältnis zu sich selbst. | |
"Ich übersetze nur", sagt sie, "was dein höheres Selbst dir zu sagen hat." | |
Dessen Botschaften können so vage sein, wie "Konzentriere dich im | |
Beruflichen auf das Positive!", oder konkret, wie "Verschwende nicht deine | |
Energie, um dich mit deiner Ex zu treffen!". Nachdem Amélia eine Stunde zu | |
ihrem Gast über dessen Innerstes gesprochen hat, läuft sie über den | |
Sandpfad davon. | |
Die innige Verbindung beim Aura-Lesen ist heute eine Besonderheit der | |
Inkiri-Gemeinschaft, sagen deren Mitglieder. Anfangs war in Piracanga eine | |
Art Luxuswohnprojekt in exklusiver Strandlage entstanden, das mit | |
spiritueller Suche nicht viel zu tun hatte. Wie in jedem Dorf blühten | |
Intrigen - bis sich die Ecovila 2011 in zwei Gruppierungen gespalten hatte: | |
Die eine bestand aus dem Kreis um die Gründerin, die andere aus dem Rest. | |
Dann gründeten die einen die Kommune Inkiri und beschrieben deren Ziele in | |
einem Buch mit dem Titel "Willkommen in der neuen Welt". Darin leben alle | |
glücklich, tanzen, singen und genießen das Leben. Eine der Autorinnen ist | |
Amélia, die Aura-Leserin. | |
Die 36-Jährige aus Rio de Janeiro hatte 2009 mit ihrem Freund einen Tag in | |
der Ecovila verbracht und reiste ab, weil ihr "alles zu abgelegen war". | |
Nach 30 Kilometern drehten sie um. Seitdem leben sie in der Kommune. | |
"Nichts ist mehr, wie es war - nur mein Freund ist derselbe." Amélia lacht. | |
In Rio war sie Mitinhaberin einer Eventagentur und irgendwie unzufrieden. | |
Jetzt sagt sie: "Bei meinem ersten Aura-Reading-Kurs habe ich gemerkt, dass | |
ich das den Rest meines Lebens machen will." Dafür nahm sie Jahre ohne | |
Kühlschrank in Kauf, weil die Solarenergieanlage nicht genug Strom | |
lieferte. Die schwankende Internetverbindung. Die endlosen Arbeitstage, | |
weil ständig neue Events zu planen sind. | |
## Es gären Reibereien | |
Über Schattenseiten von Piracanga möchte kaum jemand sprechen. Eine | |
Ausnahme ist Daniel, Musiker aus dem Süden Brasiliens, der einen Ort zum | |
Leben für sich und seine Familie suchte. Sie mieteten sich ein Häuschen, | |
wurden zu Abendessen und Vollmondfeiern eingeladen und fühlten sich schnell | |
zu Hause. "Manche glauben wirklich, allein mit ihrem Beispiel die Welt | |
verändern zu können", sagt der 32-Jährige heute. "Aber bald haben wir | |
gemerkt, dass unter der strahlenden Oberfläche viele Reibereien gärten." | |
Allerlei Undurchsichtigkeiten hat Daniel ebenfalls entdeckt. Etwa, dass die | |
Privatfinanzen der Gründer mit denen der Firma vermischt seien, die das | |
Zentrum betreibt. Was für den Vater besonders schwer wog: "Die Freie Schule | |
verfolgt die pädagogische Linie nicht, die sie angeblich inspiriert. Sie | |
ist vor allem ein Ort, an dem man seine Kinder abgeben kann, um an Kursen | |
teilzunehmen." Die Inkiri-Kinder lernten nicht einmal Lesen und Schreiben, | |
heißt es in den umliegenden Orten. "Zum Leben in der Normalität sind die | |
gar nicht in der Lage", schimpft eine Anwohnerin. "Unsere Kinder werden | |
nicht in Schablonen gepresst", hält Schulleiterin Ivana dagegen. "Sie | |
lernen so spielerisch lesen, dass wir gar nicht merken, wie das vor sich | |
geht!" | |
Untätig oder uninteressiert wirkt niemand im spirituellen Dorf. Haben sie | |
alle ihren Traum gefunden? Peter kümmert sich auch hier um Finanzen und | |
Organisation. Wie er in Portugal war, ist schwer zu sagen, hier lacht er | |
mehr, als bei einem Verwalter zu erwarten ist. Bis heute beschäftigt er | |
sich öfter mit Handy und Internet als mit Vorträgen zur Entwicklung der | |
Selbsterkenntnis. "Ich war mit Angélina und Gabriel befreundet", erzählt | |
er, "und besuchte die beiden in Brasilien." Für ein, zwei Monate machte er | |
Ferien am Ende der Welt. Dann bot ihm Angélina einen Job in der Verwaltung | |
an. Für ein Jahr würde es in Brasilien wohl auszuhalten sein. Peter redet | |
nicht mehr von Abreise. Obwohl die Kommune einen bescheidenen Einheitslohn | |
eingeführt hat. Peter rechnet vor: Er zahlt keine Miete. Das Mittagessen | |
ist gratis, und "fürs restliche Essen brauche ich 20 Prozent meines | |
Einkommens". | |
Wie alle Neuzugänge hat Peter den Prozess durchlaufen: ein 14-tägiges | |
Retreat in Hütten am Strand, bei dem die Leute keine Nahrung zu sich | |
nehmen. Die Inkiri glauben: Durch den Prozess kann der Körper Krankheiten | |
verbrennen und der Mensch erkennen, welches sein Traum und wie dieser zu | |
erreichen ist. Einmal täglich sprechen die Prozessierenden mit dem | |
geistigen Führer über ihre Erlebnisse. "Ich habe mir für jeden Tag des | |
Prozesses ein Buch mitgenommen", erinnert sich Peter und lacht wieder. "Ich | |
konnte mich nicht anders allein beschäftigen. Gelesen habe ich nur | |
eineinhalb Bücher." | |
Am späten Nachmittag färbt die sinkende Sonne den Fluss golden. Zwischen | |
Cashewbäumen sind auf einem Holzdeck Sitzkissen verteilt, zwei Mädchen | |
verkaufen das halbgefrorene Mus aus der Acai-Palmfrucht und | |
Vollwert-Schokoladenkuchen. Während es dämmert, füllt sich das Deck. Ein | |
paar Kinder klettern auf den Tisch, die Erwachsenen unterhalten sich | |
gedämpft, die Stimmung wirkt friedlich und entspannt. Nebenan beginnt in | |
der Rundhütte ein Workshop zum Thema Aura-Reading. | |
10 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Christine Wollowski | |
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