| # taz.de -- Vor dem Referendum auf der Krim: Abwarten, wer Präsident wird | |
| > Vor dem Krim-Referendum verschärft sich die Lage. Manche hoffen auf | |
| > höhere Renten, andere fürchten sich vor Vertreibung. | |
| Bild: Niemand will auffallen: Spaziergang in Simferopol. | |
| SIMFEROPOL/CHARKIW/DNIPROPETROWSK taz | Am Sonntag stimmen die Menschen auf | |
| der Krim über ihre Zukunft ab. Und man merkt in den Tagen davor, wie die | |
| Nervosität wächst. In den meisten Geschäften und Cafés kann man nicht mehr | |
| mit EC-Karte bezahlen. Vor den Banken stehen Schlangen. Die Preise für | |
| Lebensmittel und Benzin sind gestiegen. Man bekommt keine fremden Währungen | |
| mehr. Auch die meisten Lieferungen auf die Krim bleiben an der Grenze | |
| stecken. Sicherheitskräfte untersuchen das Gepäck von jedem, der die | |
| Halbinsel im Süden der Ukraine betritt. | |
| Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, aber schon einen Tag nach dem | |
| Referendum sollen die Ticketpreise verdoppelt werden. Auf dem Flughafen | |
| landen nur noch Flugzeuge aus Moskau. | |
| Der Bürgermeister Simferopols, Wiktor Agejew, wirbt währenddessen bei | |
| staatlichen Unternehmen und in Schulen für das „bessere Leben in Russland“. | |
| Die Abgeordneten des Krimparlaments tun das Gleiche. Erst seit Kurzem | |
| allerdings sieht man in Hausfluren Aufrufe zum Referendum. Plakatwerbung | |
| gibt es kaum. In den sozialen Netzwerken und in den Kommentarspalten | |
| lokaler Onlineseiten findet dagegen ein regelrechter Krieg statt. Im Netz | |
| sind die Menschen in zwei Lager gespalten. Für Russland. Oder für die | |
| Ukraine. Die Aggressionen nehmen zu – auf beiden Seiten. | |
| Auf den Straßen Simferopols wird leiser diskutiert, niemand will groß | |
| auffallen. Die einen fürchten Faschisten, die „Banderowzy“, und meinen die | |
| pro-westlichen Demonstranten. Die anderen warnen vor betrunkenen Kosaken | |
| und meinen die Unterstützer des neuen, prorussischen Ministerpräsidenten | |
| auf der Krim, Sergei Axjonow. | |
| Über allem schwebt die Frage, was nach der Abstimmung passiert. Wie es mit | |
| der Krim, wie es mit der Ukraine weitergeht. | |
| Das russische Fernsehen liefert als Antwort klare Bilder: Bewaffnete | |
| „Faschisten“, Plünderungen. Das passiert, wenn die Krim der Ukraine | |
| überlassen wird, soll das wohl heißen. | |
| ## In einer unabhängigen Krim geboren | |
| Mehr als 500 Kilometer entfernt, an der Grenze zu Russland, im Osten der | |
| Ukraine, wirkt es nicht, als könnten diese Teile des Landes in kürzester | |
| Zeit von russischen Truppen besetzt werden. Auf den Märkten kann man Gemüse | |
| und Fleisch kaufen, abends flanieren verliebte Pärchen durch die Straßen. | |
| Aber auch hier sind viele besorgt. | |
| Über Telefonate mit Freunden und über das Internet versuchen viele | |
| herauszufinden, was wirklich los ist. Nur die Älteren, die noch zu | |
| Sowjetzeiten geboren wurden, glauben dem russischen Fernsehen. | |
| „Ich weiß, dass die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte mehrmals ihre Grenzen | |
| geändert hat“, sagt ein Geschichtsstudent in Charkiw. „Aber ich bin in | |
| einer unabhängigen Ukraine geboren und will, dass sie es auch bleibt.“ Er | |
| betrachtet die Ukraine als seine Heimat – auch wenn er Russisch spricht, | |
| nicht Ukrainisch. „In Kanada sprechen die Menschen auch Englisch und | |
| Französisch. Die haben damit kein Problem“, sagt er. Ein anderer Student | |
| ergänzt: „Wenn wir ein Teil Russlands werden, verlieren wir unsere | |
| Geschichte und werden zur schäbigen Provinz.“ Nur die Alten, glaubt er, | |
| würden hoffen, dass sie in Russland höhere Renten bekommen. | |
| Auf der Krim tun das auch einige. Neben den Rentnern wollen viele | |
| arbeitslose Jugendliche den Anschluss an Russland, auch wenn sie da noch | |
| nie waren. Betrunken und mit Bierflaschen in der Hand, rufen manche: | |
| „Russland, unsere Heimat!“ Andere protestieren mit blauen Luftballons für | |
| die Ukraine. | |
| Die Mehrheit der Krimbewohner allerdings erwartet weder von Russland noch | |
| von der Ukraine etwas Gutes. „Das Wichtigste ist, dass wir einen Krieg | |
| vermeiden“, finden viele. Und fragen sich, wie es mit der Gesetzgebung, den | |
| Ausbildungsmöglichkeiten und der medizinischen Versorgung weitergehen wird, | |
| sollte sich die Krim Russland anschließen. | |
| ## Die Akzeptanz für Russland wächst | |
| Je näher man an die russisch-ukrainische Grenze kommt, desto weniger | |
| kämpfen für die Unabhängigkeit der Ukraine. Im äußersten Osten, in der | |
| Heimat des geflüchteten Präsidenten Janukowitsch, sieht nur die Innenstadt | |
| von Donezk jetzt schon wie eine durchschnittliche europäische Großstadt | |
| aus. Dafür hat Rinat Achmetow gesorgt, der reichste Mensch der Ukraine. | |
| Außerhalb von Donezk und am Stadtrand wird die Gegend ärmer, leerer. Dort | |
| wächst die Akzeptanz für Russland. | |
| Am Donnerstagabend geraten prorussische und proeuropäische Demonstranten in | |
| Donezk aneinander. Ein Mann wird erstochen. Etliche sind verletzt. | |
| Der Mehrheit scheint es allerdings egal, wer Präsident wird und in welchem | |
| Land sie leben werden. Wichtig ist ihnen, dass die neuen oder alten | |
| Machthaber für anständige Löhne und Renten sorgen, für Wärme im Winter und | |
| medizinische Betreuung, dass sie die Straßen reparieren. | |
| Eine Kioskverkäuferin sagt: „Ich verdiene 180 Euro im Monat. Wozu brauche | |
| ich eine Ukraine, in der ich mir ständig den Kopf zerbrechen soll, wie ich | |
| mir von meinem Lohn Unterhosen leisten kann? Warum soll ich in ständiger | |
| Angst leben, dass ein Milizionär kommt und droht, meinen Kiosk zu | |
| schließen, wenn ich ihm keine Zigarettenschachtel spendiere?“ | |
| Dabei fällt es ihr schwer, die Vorteile eines Anschlusses an Russland zu | |
| benennen. Sie glaubt den Versprechen aus dem Fernsehen. Korruption und | |
| Elend haben sie müde gemacht. | |
| ## Viele Krimtataren flüchten aufs Landesinnere | |
| Maria Kusnezowa dreht die Frage des Krim-Referendums einfach einmal um: | |
| Warum, fragt sie, stimmt Russland nicht mit ab? „Wer hat eigentlich gesagt, | |
| dass die Russen die Krim aufnehmen wollen?“ Sie ist mit ihrem Mann erst vor | |
| Kurzem von Russland auf die Halbinsel gezogen. „Außer noch mehr innen- und | |
| außenpolitischer Probleme wird die Krim Russland nichts bringen“, sagt | |
| Kusnezowa. „Wenn der Kreml die Krim aber fallen lässt, was machen wir dann? | |
| Zurück zur Ukraine? Das ist lächerlich und bemitleidenswert.“ An eine | |
| unabhängige Krim glaubt sie nicht. | |
| Viele Krimtataren werden nicht zur Abstimmung gehen. Die meisten | |
| Angehörigen der muslimischen Minderheit fürchten um ihre Sicherheit. So wie | |
| der 54 Jahre alte Enwer Sejtumerow: „Wer gibt uns die Garantie, dass uns | |
| nichts geschehen wird?“ Viele Familie hätten die sowjetischen Deportationen | |
| durchgemacht. „Wir wollen das nicht noch einmal erleben.“ Er hat den | |
| Eindruck, alle hätten sie schon einmal im Stich gelassen. Kiew, aber auch | |
| die Regierung vor Ort. Sejtumerow leitet eine Bürgerwehr von Krimtataren, | |
| die auf den Straßen Simferopols patrouilliert. Wenn nötig, sagt er, „werden | |
| wir unsere Familien und Häuser mit Waffengewalt verteidigen“. | |
| Einige Krimtataren schicken sogar ihre Frauen und Kinder zu Verwandten im | |
| Rest der Ukraine. Der staatlichen Grenzbehörde zufolge verließen in den | |
| vergangenen Tagen um die 600 Menschen die Halbinsel – die meisten von ihnen | |
| Krimtataren. | |
| ## „Negative Informationen“ verboten | |
| Informationen fließen nur spärlich auf die Krim. Ukrainische Fernsehsender | |
| wurden abgeschaltet, und seit dem 12. März arbeiten auch die Radiostationen | |
| nicht mehr. Und das Parlament hat Bedingungen für eine Akkreditierung für | |
| Journalisten zur Teilnahme am Referendum veröffentlicht, die absolut nicht | |
| zu erfüllen sind. Dort gibt es einen Punkt, der die Verbreitung negativer | |
| Informationen über das Referendum verbietet. | |
| Am Freitag verlegte Russland mehr Soldaten auf die Krim und halten | |
| Militärübungen über dem Mittelmeer ab. Die Grenze zwischen dem Festland und | |
| der Halbinsel wird gut bewacht. Man nennt die Männer, die das tun, hier | |
| grüne Männchen. Soldaten ohne Abzeichen, die ein Russisch sprechen, wie es | |
| nur Russen aus Russland tun. Sie kontrollieren jetzt fast jeden | |
| Militärstützpunkt auf der Krim. | |
| Übersetzung: Irina Serdyuk und Ljuba Naminova | |
| 15 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Tatjana Kurmanowa | |
| Andrej Nesterko | |
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