# taz.de -- Erinnerung unter Haushaltsvorbehalt: Wo einst der Hochofen stand | |
> Die Geschichtswerkstatt in Lübeck-Herrenwyk zeichnet Facetten eines | |
> Stadtteils nach, der einst als das „Ruhrgebiet Lübecks“ galt. | |
Bild: Das Museum ist im alten Werkskaufhaus untergebracht. | |
LÜBECK taz | Nach Herrenwyk kommt man nicht einfach so. Man muss hinkommen | |
wollen. Nimmt dazu die Autobahn Richtung Lübeck und fährt dann kurz weiter | |
die Bundesstraße 75, und wenn man denkt, man ist längst vorbeigefahren, | |
kommt ein Wegweiser. | |
Dabei war [1][Herrenwyk] mal der Nabel der Lübecker Welt. Hier standen | |
sechs Hochöfen, eine Kokserei, Zement- und Kraftwerk samt | |
Zulieferbetrieben. Und natürlich die Verladestationen an der Trave. Denn | |
aus dem Eisenerz, das aus Nordeuropa und Russland anlandete, wurde hier | |
Roheisen gefertigt. | |
Eine Karte zeigt diese Handelswege gleich im Eingangsbereich des | |
Herrenwyker [2][Museums], das es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die | |
Geschichte des Hochofenwerkes zu berichten. Denn das war einst Lübecks | |
größter Arbeitgeber. | |
Alles begann, als 1905 Lübecker Bürger ihr Geld zusammenlegten und die | |
Errichtung eines Hochofenwerkes beschlossen, das zwei Jahre später in | |
Betrieb ging. Und weil Herrenwyk gerade mal drei Dutzend Einwohner hatte, | |
mussten Arbeitskräfte her: Aus den Kohlerevieren Polens wurden sie | |
angeworben, auch aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet. | |
## Die Nazis übernehmen | |
Am Ende arbeiteten 2.300 Menschen im Werk, und aus der ländlichen wurde | |
eine pulsierende Wirtschaftsregion mit einer auch architektonisch | |
einheitlichen Werkssiedlung, die noch steht. In den Wohnungen wurden | |
Arbeitern mit ihren Familien 55 Quadratmeter zugestanden, den Meistern 90 | |
und leitenden Angestellten 112. Der Direktor hatte eine standesgemäße | |
Direktorenvilla. | |
Politisch lag Herrenwyk lange in den Händen der Sozialdemokratie. Bis die | |
Nationalsozialisten übernahmen und den jüdischen Generaldirektor Moritz | |
Neumark entließen. Er wurde in Theresienstadt ermordet. | |
1936 kam mit Rangenberg eine weitere Siedlung aus kleinen Reihenhäusern | |
hinzu. 1937 übernahm Friedrich Flick das Werk. 1942 errichtete man ein | |
umzäuntes Lager für 500 Zwangsarbeiter für den kriegswichtigen Betrieb. | |
Weitere Lager folgten – auch darüber berichtet die Ausstellung ausführlich | |
und kundig. | |
Sie residiert im einstigen Werkskaufhaus, was ein echter Clou ist: denn so, | |
wie in dem Museum nun die Geschichte des Ortes komprimiert dargestellt | |
wird, war das Werkskaufhaus lange wichtiger Bestandteil des | |
gesellschaftlichen Lebens in Herrenwyk. Hier konnte man alles kaufen, was | |
man täglich brauchte: Milch und Hühnerfutter, Wurst und Kaninchendraht, | |
Nägel, Knöpfe und Gardinenstoffe. | |
Nach dem Krieg fuhr das Werk seine Produktion bald wieder an, war zunächst | |
gut im Geschäft, wovon auch die Arbeiterschaft profitierte: Wo früher | |
Hühner pickten, liegt man nun am Samstag auf der Gartenliege. Das einstige | |
Zwangsarbeiterlager dient jetzt als Unterkunft für die anzuwerbenden | |
„Gastarbeiter“, später wohnten hier Sozialhilfeempfänger. | |
Doch in den 70ern begann die Stahlkrise, der man wenig entgegensetzen | |
konnte: Die Aktionäre hatten Gewinne abgeschöpft, ohne zu investieren. | |
Schließlich war das Werk nicht mehr konkurrenzfähig, zuletzt arbeiteten | |
noch 800 Arbeiter an den Hochöfen – von einst 2.300. 1981 war Schluss. Doch | |
mit dem Ende der klassischen Industrie wurde die Industriekultur entdeckt. | |
Und so, wie sich in Hamburg 1980 ein Museumsverein gründete, aus dem ab | |
1982 das Museum der Arbeit hervorging, wurde man auch in Herrenwyk aktiv: | |
Die ehemaligen Arbeiter brachten mit, was ihr Leben ausgemacht hatte; | |
weitere Exponate fanden sich in den stillgelegten Werkshallen und | |
Bürotrakten – von Lochkarten bis zur Stechuhr. | |
Beides – Gegenstände der Alltagskultur und die Technik des Werkes – | |
bildeten bald den Grundstock der Dauerausstellung. Denn da die Akteure ihr | |
Anschauungsmaterial nicht einfach einlagern wollten, gründen sie einen | |
Museumsverein: Ein „Museum für Kunst- und Kulturgeschichte“. Heute heißt | |
das Museum „Industriemuseum Geschichtswerkstatt Herrenwyk“ und meint | |
beides: ein Technikmuseum zu sein und eine Geschichtswerkstatt, in der auch | |
erklärt wird, wie ein Hochofen funktionierte. | |
## Auf der Streichliste | |
Das hat man in den vergangenen Jahren recht erfolgreich praktiziert, | |
trotzdem stand das Haus immer wieder auf der Streichliste des Lübecker | |
Senats – zuletzt im Herbst. Die Idee diesmal: Man könne das Museum ganz dem | |
Förderverein übertragen. | |
Helga Martens, die den 170-köpfigen Förderverein leitet, kann über solche | |
Ideen nur den Kopf schütteln: „Als gemeinnütziger Verein dürfen wir gar | |
keinen Wirtschaftsbetrieb führen – was ein Museum ja immer auch ist.“ Auch | |
handele es sich bei den anderthalb Stellen im Museum ohnehin um städtische | |
Angestellte. Zum Glück sahen das am Ende auch die Lübecker Parteien so und | |
wiesen den Vorschlag des Bürgermeisters zurück. | |
Doch Martens denkt weiter. Sie findet, dass in das Museum investiert werden | |
müsste: „Die Dauerausstellung müsste überarbeitet und besonders auf ihre | |
mediale Präsenz hin neu gestaltet werden“, sagt sie. Zugleich sieht sie | |
auch thematisch eine neue Weichenstellung und schaut nach draußen zur | |
Trave: Dort, wo man jahrzehntelang die meist hochgiftigen Schadstoffe, die | |
bei der Eisenproduktion anfielen, gelagert hat, liegt heute ein | |
Naturschutzgebiet samt Rad- und Wanderweg. | |
Martens sagt: „Wie Industrie de-industrialisiert wurde und wie gleichzeitig | |
der Stahl nun mit riesigen Containerschiffen aus China zu uns kommt, mit | |
allen Folgen für die Meere und das Klima: Das in unserem Museum zu zeigen | |
und so ein neues Kapital aufzuschlagen, das ist doch spannend, oder?“ | |
28 Mar 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Herrenwyk | |
[2] http://geschichtswerkstatt-herrenwyk.de/ | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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