# taz.de -- Arzt über Internet-Medizin: „Notaufnahme ist super!“ | |
> Ein Gespräch mit dem Hamburger Arzt Johannes Wimmer über seine | |
> Drei-Minuten-Videos, Sex trotz künstlichen Hüftgelenks und einen | |
> österreichischen Bergbauern. | |
Bild: Lieber zehn Prozent Inhaltstiefe, aber für alle: Internetarzt Dr. Johann… | |
taz: Herr Wimmer, in der medizinischen Praxis sind Sie „Dr. Wimmer“, im | |
Netz aber „Dr. Johannes“.Wie kommt’s? | |
Johannes Wimmer: Die Idee für „Dr. Johannes“ kam, weil das der | |
Scherzbegriff ist, wenn Freunde, Bekannte oder Kollegen mal was brauchen. | |
Die sagen dann nicht: „Dr. Wimmer“, die sagen auch nicht „Johannes“, die | |
sagen „Dr. Johannes“. Mir gefällt das, denn es drückt die Nähe aus, die … | |
zwischen Arzt und Patient fehlt. So gesehen ist „Dr. Johannes“ für alle da | |
und nicht nur für die Nachbarn, für die ich nachts zur Notapotheke fahre, | |
weil die sagen: „Notaufnahme? Muss das sein?“ Und so möchte ich sein, ich | |
bin ja auch sehr ansprechbar über die sozialen Medien wie Twitter, | |
Facebook, und als „Dr. Johannes“ stelle ich mich auch auf meinem Videoblog | |
vor. Bei der Anrede „Dr. Wimmer“ fühle ich mich wie auf einem Podest, so | |
wahnsinnig weit weg. Und nur „Johannes“, das ist wiederum zu nah, denn es | |
geht ja schon ums Ärztliche, wenn mir jemand twittert. | |
Sie fahren für Ihre Nachbarn zur Notapotheke? | |
Ich mache das, was ich tue so, weil ich auch als Privatperson so bin. Ich | |
bin frei Schnauze und bin auch gerne für Leute da. Ich behandele ja andere | |
Menschen so, wie ich selber behandelt werden möchte. Ich versuche | |
allerdings, die Familie rauszuhalten. Für meine Frau ist diese | |
Öffentlichkeit, die ich suche, gar nichts. Aber unsere Dackel, die dürfen | |
mit aufs Foto. Gestern war bei einer unserer Töchter eine Mandel-OP, da | |
habe ich ein Foto gepostet, wie sie da liegt mit der Braunüle in der Hand, | |
einfach um das zu zeigen, und ich habe dazu auch geschrieben, wie ich mich | |
gefühlt habe: Als Arzt und Papa ist man manchmal nur Papa. Und ich schreibe | |
das auch, weil ich weiß, es kommt viel Nähe und Menschliches zurück. | |
Ärztliche Heilkunst und Internet, nicht jeder kriegt das zusammen. Wie | |
schaffen Sie das? | |
Vorneweg: Die Patientenreise beginnt heute online. Es zwickt was – und man | |
fragt Dr. Google, was das sein könnte. Und ganz typisch und menschlich: Die | |
Menschen suchen mich nachts um drei. Die können mich ja auch tagsüber | |
anrufen oder anschreiben. Aber sie sind dann unterwegs, wenn keiner da ist, | |
wenn es mit der Ablenkung nicht mehr klappt, wenn die Ängste groß sind. Und | |
dann freuen sie sich: Da spricht einer mit mir. Da ist einer da. Auch wenn | |
es ein Video ist. | |
Wollten Sie immer Arzt werden? | |
Ach, ich hab mich erst mal nicht getraut. Weil ich dachte, ich bin zu doof. | |
Ich hab mein Abitur mit Kunst- und Englischleistungskurs gerade so | |
hingebogen, alle Naturwissenschaften hatte ich vorher abgewählt. Aber | |
dieses Handwerk in der Medizin! Meine Mutter kommt von einem kleinen | |
Bauernhof im Münsterland, alle aus der Familie sind Handwerker und dieser | |
Lebensart des Anpackens, des Machens und auch mal etwas derbe sagen, dem | |
fühlte ich mich immer sehr verbunden – und nicht der akademischen Welt. Ich | |
hatte mich erst für Volkswirtschaft eingetragen und bin bei den Medizinern | |
nur so mitgeschluppt. Bis mir einer von den Medizinstudenten sagte: „Das, | |
was wir machen, kann auch ein Affe im Anzug. Du musst dich nur hinsetzen | |
und ackern und lernen.“ Das hab ich dann gemacht: Hab’ nächtelang Chemie | |
durchgeackert. War überhaupt nicht meins – aber ich habe mir gesagt: | |
Irgendwo ist das Licht. Das Licht am Ende des Tunnels! Chemie, Physik, | |
Anatomie, Biochemie – das sind Werkzeuge, die muss man können. Und so sage | |
ich das heute jungen Leuten: Ihr müsst das machen, was euch Spaß macht! Nur | |
dann setzt ihr euch mal eine Nacht lang hin oder büffelt eine Woche lang | |
für irgendwelche Prüfungen. | |
Und was hat Sie dann ins Internet gezogen? | |
Das kam aus einer gewissen Not heraus. Ich habe in Hamburg jahrelang in | |
verschiedenen Krankenhäusern und Praxen gearbeitet, unter anderem in einer | |
kleinen radiologischen Stadtteilpraxis in Barmbek. Da kamen so richtige | |
Barmbeker Typen, die auch mal über ihre Probleme sprechen wollten – aber | |
ich merkte: Ich habe gar keine Zeit. Obwohl ich bei einem Radiologen | |
gearbeitet habe, der sagte: „Ich schüttel jedem Patienten die Hand! Egal ob | |
privat oder nicht.“ Ich hab dann angefangen, den Leuten schnell zu | |
erklären, was ihr Problem ist, um ihnen dann zu sagen: „Wenn Sie zu Ihrem | |
behandelnden Arzt zurückgehen, stellen Sie ihm bitte diese und jene Frage.“ | |
Und irgendwann habe ich gemerkt: Ich erzähle ja immer das Gleiche. Was ich | |
sage, ist für 90 Prozent aller meiner Patienten gültig. Idealerweise würde | |
da ein Bildschirm hängen, wo all das schon mal erklärt wird. Und ich als | |
Arzt bin dann für die zehn Prozent zuständig, die bei jedem unterschiedlich | |
sind und habe genau dafür genug Zeit. Und diese medizinischen Grundlagen | |
versuche ich in meinem Video-Blog zu vermitteln, in Drei-Minuten-Videos. | |
Und Sie sind gleichzeitig in der realen Welt als Arzt tätig? | |
Im Prinzip ja, im Moment nicht. Ich habe bis November in einer kleinen | |
Hamburger Klinik gearbeitet, aber nun sind wir noch mal Eltern geworden, | |
und ich mache gerade Elternzeit. Unsere Kleine ist jetzt fünf Monate alt | |
und wenn es Richtung Kita geht, werde ich mir sicher neben meiner | |
Internetpraxis wieder einen Job suchen, denn ich vermisse das jetzt schon. | |
Meine Idealwoche sieht so aus: zwei, drei Tage in irgendeiner Klinik sein, | |
aber tagesaktuell arbeiten. Vielleicht Radiologie, doch so wie ich es will | |
und nicht irgendwo in einem Keller im Akkord die Röntgenbildern | |
runterrocken. Oder Notfallmedizin. Notaufnahme ist überhaupt super! | |
Notaufnahme ist super? | |
Es ist wahnsinnig intensiv und unmittelbar. Sie erleben das menschliche | |
Wesen pur. Ich bin in Südafrika in den Townships Notarzt gefahren, da war | |
das einzige, was ich bei mir hatte, eine Sauerstoffflasche. Also, du fährst | |
in ein Township, die Polizei biegt vorher ab, sagt nur: „Ihr fahrt da jetzt | |
rechts weiter, wir nicht und viel Glück.“ Und dann kommst du in eine | |
Wellblechhütte, da sitzen 30 Leute, in der Mitte das Familienoberhaupt, | |
eine ältere Frau auf einer Art Thron und und vor ihr ein Mädchen, das hat | |
gerade einen richtig schweren epileptischen Anfall. Und dann sagt man dir: | |
„Die ist vom Tokoloshe besessen.“ Tokoloshe, das ist so ein kleiner, | |
zwergähnlicher Teufel, deswegen schlafen die Menschen in leicht erhöhten | |
Betten, damit er sie nicht befallen kann. Ich wusste nur: Ich muss dieses | |
Mädchen entstigmatisieren! Damit sie aus dem Krankenhaus zurück in die | |
Familie kann; damit es nicht heißt: „Das ist eine Befallene!“ Ich hab dann | |
so getan, als hätte sie eine Verletzung und nicht einen Anfall; ich weiß | |
gar nicht mehr, wie ich das hingekriegt habe! Jedenfalls, das ist dann | |
richtig Medizin: Mit nix in der Hand die Situation akzeptieren, so wie sie | |
ist – und handeln. | |
Überhaupt nicht so dramatisch, dafür recht lustig ist Ihr aktuelles Video | |
zu Sex bei künstlichen Hüftgelenken. Was hat Sie zu diesem Thema geführt? | |
Mir tun die Menschen so leid! Es ist ein Scheißthema! Erst dürfen sie nach | |
der OP ewig nicht und wenn sie dann dürfen, dann dürfen sie nur in einer | |
Stellung und zwar für immer. Und es spricht keiner mit ihnen drüber! Dann | |
versuche ich doch lieber mit den Menschen darüber zu lachen, auch um ihnen | |
zu vermitteln: Lieber eingeschränkter Sex mit künstlicher Hüfte als gar | |
kein Sex, weil die Hüfte so weh tut. | |
Sie sprechen in Ihren Videos durch die Kamera ja nicht nur zu den | |
Patienten, sondern immer auch zu Ihren Kollegen … | |
Ich werde manchmal von Ärzteportalen wie Doc-Check oder Medscape angefragt. | |
Dann sage ich denen: Ich möchte nicht ein Video für den Arzt machen und | |
danach eines für den Patienten, sondern wenn, dann muss es für beide sein. | |
Der Gedanke ist ja: die Distanz verringern. Ich will, dass Ärzte und | |
Patienten zusammenkommen. Dafür hüpfe ich sonstwo rum, sei es bei | |
RTL-Explosiv oder auch im Tele-Shopping. Weil: Da ist die Frau in der Mark | |
Brandenburg, ganz hinten links. Die hat nur ihren Fernseher. Mit der | |
spricht keiner. Und wenn ich ihr etwas Medizinisches auf unterhaltsame | |
Weise erklären kann, etwa, was ein grippaler Infekt und was eine Grippe | |
ist, was spricht dagegen? Ich möchte lieber zehn Prozent Inhaltstiefe für | |
100 Prozent erklären, als 100 Prozent für zehn Prozent. Das muss man nicht | |
gut finden, wird auch kontrovers diskutiert, aber das ist mein Weg. Mein | |
Motto ist: Medizin ist Hausverstand! Deswegen muss es jeder verstehen und | |
dann kann es auch jeder anwenden. Es bringt doch nichts, wenn ich einem | |
Patienten mein Wissen auflade, der das nicht versteht, der hat ja nicht | |
Medizin studiert. Es gibt Untersuchungen, dass Patienten nur ein Drittel | |
des Gespräches mit ihrem Arzt verstehen. Ja, wie sollen sie dann dessen | |
Ratschläge umsetzen? | |
Ihre Videos sind von verblüffender Einfachheit: Sie sprechen in die Kamera | |
wie zu einer Person. Und Sie gehen auch mal kurz aus dem Bild, um eine | |
Skizze zu holen, kommen dann wieder, halten die ins Bild … | |
Ich nutze die Technik, aber ich mag sie nicht. Sie ist auch nicht wichtig. | |
Mein Stativ hab ich zur standesamtlichen Hochzeit vor ein paar Jahren | |
geschenkt gekriegt; als Kamera habe ich einen kleinen Camcorder, so ein | |
300-Euro-Ding, das man bei Ebay heute bestimmt für 40 Euro kriegt. | |
Wichtiger ist: Ich lese nicht ab. Ablesen ist ein Albtraum, man kommt da so | |
dröge rüber. Das Schlimme ist, wenn Sie die ersten Male in eine Kamera | |
sprechen, dann sprechen Sie wie ein Tagesschausprecher, ganz automatisch. | |
Und das muss man sich abtrainieren. Dass ich so frei sprechen kann wie in | |
dem Hüft-Video, das ist das erste Mal ein Video, wo ich sage: Damit bin ich | |
zufrieden. Da hatte ich einen guten Tag. Da war ich gelöst. | |
Mich hat Ihr Video sehr berührt, wo es um das Überbringen von schlechten | |
Nachrichten geht. Sie bekennen dort, dass Sie manchmal Rotz und Wasser | |
heulen, wenn vor Ihnen ein Patient sitzt, dem man nicht mehr wird helfen | |
können … | |
Wir sollten uns als Mediziner nicht wegdrehen, wenn es vielleicht mehr um | |
den Tod als um das Leben geht, auch wenn das viele Kollegen so machen. Wir | |
müssen versuchen, auch dann Worte zu finden, wenn es besonders schwer | |
fällt. Ich hab ja später in Wien studiert, war dort in der Uniklinik tätig | |
und zu uns kamen manchmal so richtig die Bergbauern. Ich erinnere, wir | |
hatten einen Patienten, der hatte ganz schlechte Chancen, wo man sich | |
fragen musste: OP – wollen wir die machen oder nicht? 75 Prozent | |
Letalitätschance. Da muss der Patient schon sagen, ob er es machen will | |
oder nicht. Aber der Mann konnte das nicht. Der war furchtbar | |
durcheinander, der hat überhaupt nichts mehr gecheckt, so ist das manchmal | |
und das geschieht nie aus bösem Willen. Und unser Chefarzt, schnieke | |
angezogen, goldene Knöpfe am weißen Kittel, was hat der gemacht? Der hat | |
den so richtig in den Arm genommen und in breitem Österreichisch gesagt: | |
„Geh, Hubert, hörst’: Was wir machen, ist ’ne harte Geschicht’; schaff… | |
einer aus vieren, aber bei dir packen wir’s! Soll’n wir’s machen?“ | |
Und? | |
„Ja, machen wir“, hat der Hubert gesagt. Und so muss es sein. | |
18 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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