# taz.de -- Europawahl in Bremen: „Die Grundausrichtung ändern“ | |
> Sofia Leonidakis hat eine „eigene Vision“ von Europa: Sie will mehr | |
> soziale Rechte, offene Grenzen und eine Ukraine-Politik, die des | |
> Friedensnobelpreises würdig ist. | |
Bild: Will ins EU-Parlament: Sofia Leonidakis (Die Linke) | |
taz: Frau Leonidakis, dass die EU „neoliberal, militaristisch und | |
undemokratisch“ sei, sollte ganz vorn ins Europawahlprogramm der Linken. | |
Was wollen Sie bloß in Brüssel? | |
Sofia Leonidakis: Ich will Europa verändern – nicht nur im Parlament. Ich | |
will eine Schnittstelle sein, um Forderungen linker Bewegung ins Parlament | |
zu tragen, Informationen herauszutragen und an bestimmten Stellen | |
einzugreifen. | |
Wo wollen Sie eingreifen? | |
Etwa bei der Arbeitszeitrichtlinie, die gerade neu verhandelt wird. Da geht | |
es unter anderem darum, ob Höchstarbeitszeiten von bis zu 78 Wochenstunden | |
zulässig werden. Aber das Parlament selbst wird nicht stoppen können, dass | |
die EU neoliberal, militaristisch und weitgehend undemokratisch ist. | |
Das würden Sie schon so sagen? | |
Ja. Das ist in den Grundverträgen der EU angelegt: die vier Grundfreiheiten | |
sind vor allem Wirtschaftsfreiheiten. | |
Zahlreiche EU-Richtlinien – etwa zum Verbraucherschutz – beschränken die | |
Wirtschaft. | |
Das sind meistens kosmetische Korrekturen. Die Grundausrichtung der EU aber | |
würde sich nur ändern, wenn man den Wirtschaftsfreiheiten starke soziale | |
Rechte entgegensetzte. | |
Die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung ist ein Ziel der EU. | |
Ja, auch die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität der | |
Generationen, der Schutz der Kinderrechte sind in den Verträgen verankert. | |
Aber? | |
Das sind hehre Ziele, die längst nicht so differenziert ausformuliert | |
wurden, wie etwa die Warenverkehrsfreiheit. Einen Schutz vor Armut und | |
soziale Grundrechte, die es in vielen Mitgliedsländern nicht gibt, auf | |
europäischer Ebene zu implementieren, würde die Legitimität der EU stärken. | |
Ist es ein Problem, dass Sie als Abgeordnete auch Europa repräsentieren | |
würden? | |
Die Frage ist, für welches Europa man eine Repräsentantin ist und da habe | |
ich eine eigene Vision: die eines sozialen Europas. | |
Die Linke fordert, Europas Grenzen zu öffnen. Ist das realistisch? | |
Allein die Grenzen zu öffnen, funktioniert natürlich nicht. Das | |
Dublin-System muss weg. Zur Zeit landen Geflüchtete in den Staaten an den | |
EU-Außengrenzen und bleiben dort. Griechenland kann fundamentale Rechte wie | |
Krankenbehandlung oder Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr | |
gewährleisten. Das sehen auch die anderen EU-Staaten: Frontex und | |
Abschiebeknäste sind deren Lösung – und das ist keine Lösung. | |
Aber es wird nach wie vor darauf gesetzt… | |
Eine hundertprozentige Abschottung funktioniert nicht. Es wird immer | |
Migration geben, sie wird nur gefährlicher, wenn das Grenzregime aufrüstet. | |
Wir brauchen die Möglichkeit, legal in die EU zu reisen. | |
Würde der Druck auf die Sozialsysteme nicht zunehmen? | |
Das ist eine berechtigte Befürchtung, wenn alles bleibt, wie es ist. | |
Arbeitsverbote müssen abgeschafft und die Sozialsysteme auskömmlich und | |
gerecht finanziert werden. Ein erster Schritt wäre, dass die EU nicht mehr | |
aktiv in anderen Ländern die Lebensgrundlagen zerstört: Exportsubventionen | |
für Lebensmittel sollten gestoppt und Waffenexporte verboten werden. | |
Welche Rolle spielt für Sie Bremen in Europa? | |
Keine gute: Bremen ist Rüstungshochburg. Mindestens fünf lokale | |
Rüstungsunternehmen sind Europa und Global-Player – auch, was die | |
Aufrüstung der Außengrenzen angeht, bei der Weltraum-Überwachung, dem | |
Marissa-Verband, dem Copernicus-Programm… | |
… dem EU-Programm für Beobachtungs-Satelliten… | |
… die Infrastruktur, auf die Frontex zurückgreift, wird auch in Bremen | |
hergestellt. | |
Und die Bremer Arbeitsplätze? | |
Anstelle von Rüstungsgütern kann man auch für die zivile Schiff, Luft und | |
Raumfahrt produzieren. | |
Als Halb-Griechin, die in Bremen lebt, haben Sie mit zwei maroden | |
Haushalten zu tun. Verbinden Sie das? | |
Arbeitslosigkeit und Kinderarmut etwa sind Parallelen. Ich bin motiviert, | |
die Systematik aufzuzeigen. | |
Welche? | |
In der EU steht Wettbewerb über allem. In seinem Namen werden überall | |
Unternehmenssteuern gesenkt und Sozialleistungen gekürzt. In einem solchen | |
Konkurrenzsystem gibt es immer Verlierer. Dass es Unterschiede zwischen den | |
Regionen in Europa gibt, ist keine Neuigkeit. Dass die Bundesregierung ein | |
europäisches Armutsbekämpfungsprogramm blockiert, ist daher völlig | |
unverständlich. | |
Nationalisten beschweren sich, dass „wir“ für „die Pleite der Griechen“ | |
zahlen müssten. Was entgegnen Sie denen? | |
Fakt ist: Nur sechs Prozent der Kredite sind in den griechischen | |
Staatshaushalt geflossen, der Rest ging direkt an die Gläubiger – an | |
Banken, Investmentfonds, darunter viele Institutionen aus Deutschland. Es | |
ist nicht so, dass die Deutschen die Griechen gerettet haben. Es war eine | |
Umverteilung von unten nach oben. | |
Die Krim-Krise ist europäisches Top-Thema. Sind Sie eine Putin-Versteherin? | |
Nicht wirklich. Aber: Bislang wurde der Zeigefinger immer auf Putin | |
gerichtet und betont, dass er der Völkerrechtsbrecher und Aggressor ist. | |
Ist er das nicht? | |
Doch, aber auch die EU hat schon einseitige Abspaltungen, die nach dem | |
Völkerrecht unzulässig sind, befürwortet, etwa beim Kosovo. Es wird also | |
mit zweierlei Maß gemessen. Was aber noch schlimmer ist: Die EU hat | |
kurzsichtig gehandelt und mit den Verhandlungen des Assoziierungsabkommens | |
zur Spaltung der Ukraine beigetragen. | |
Soll die Ukraine nicht Teil der EU werden? | |
Die EU will sich gen Osten erweitern. Bei der Ukraine wurde dabei in Kauf | |
genommen, dass faschistische Kräfte an Macht gewannen und nun Zugriff auf | |
die Sicherheitskräfte haben und dass eine Kriseneskalation droht. Der Preis | |
ist mir zu hoch. | |
Wie sollte die Politik der EU nun aussehen? | |
Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Man hätte Putin vorher einbinden | |
müssen. Jetzt kann man nur noch deeskalieren und diplomatisch verhandeln – | |
Sanktionen gehören nicht dazu. Ich finde, die EU muss sich den | |
Friedensnobelpreis noch verdienen. | |
21 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
## TAGS | |
Europawahl 2014 | |
Griechenland | |
Ukraine | |
Bremen | |
Die Linke | |
Europawahl 2014 | |
Europawahl 2014 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
TV-Duelle vor der Europawahl: Nationale Sonderwege | |
ARD und ZDF planen im Hauptprogramm nur TV-Duelle mit den Spitzenkandidaten | |
der großen Parteien. Dagegen regt sich Widerstand. Die Sender winken ab. | |
CSU-Europawahlkampf: Viele Abers, kein klares Ja | |
Horst Seehofers „Europaplan“ sorgt für Kritik in der CDU. Der CSU-Chef | |
wolle mit europakritischen Tönen nach Stimmen am rechten Rand fischen. |