# taz.de -- Die Wahrheit: So nah, so fern | |
> Schwabinger Krawall: Der Vorsatz, einen Blumenstock zu verschenken, artet | |
> im Millionendorf München schon mal zu einer gefühlten Weltreise aus. | |
Am Montag hat Frau Hammler beschlossen, es sei wieder an der Zeit, die | |
Tante in Pasing zu besuchen. Da sei er ja gespannt, hat ihr Mann gesagt und | |
einen kurzen Blick über den Rand der Zeitung geworfen. Am Dienstag hat Frau | |
Hammler ein Töpfchen mit Blumen besorgt und dann wie üblich beim Blick auf | |
den Stadtplan geschimpft, wie furchtbar kompliziert es sei, von Schwabing | |
nach Pasing zu kommen. | |
Früher habe sie mit dem Rad eine halbe Stunde gebraucht, heute mit U- und | |
S-Bahn eine Stunde. Dann solle sie halt mit dem Rad fahren, hat ihr Mann | |
gesagt. Unmöglich, hat sie entgegnet, denn das sei heute, wo die ganze | |
Stadt aus Schnellstraßen und Autobahnen bestehe, lebensgefährlich. | |
Abends war Frau Hammler wieder daheim. Als ihr Mann gefragt hat, wie es der | |
Tante gehe, hat sie „Keine Ahnung“ gemurmelt und den Blumentopf auf den | |
Tisch gestellt. Morgen werde sie es noch einmal probieren. Am Mittwoch ist | |
sie noch früher losgegangen, aber der Erfolg war derselbe: Abends kehrte | |
sie mit ihrem Blumentopf nach Hause zurück und war gereizt. | |
Am Donnerstag hat sie morgens eine Servicenummer angerufen und gefragt, ob, | |
wann und wie eine S-Bahn fahre, und erfahren, dies sei bei dem derzeitigen | |
Wetter nur unmöglich vorauszusagen. Grundsätzlich fahre jedoch immer eine | |
S-Bahn. In ihrer Verzweiflung hat Frau Hammler behauptet, sie sei Pendlerin | |
und müsse ja irgendwie zur Arbeit kommen, und zur Antwort bekommen: | |
„Bändlörin! Wäs söll d’nn ich sog’n, wö ich jäde zähn Doge vön Dr… | |
einbändle!“ | |
Am Samstag sagt Herr Hammler zu seiner Frau, die am Küchentisch vor dem | |
Blumentöpfchen und ihrer vierten Tasse Kaffee sitzt und mit den Fingern | |
trommelt, sie solle halt mit dem Taxi fahren. Frau Hammler entgegnet, ein | |
Taxi könne man sich seit der Rentenbesteuerung nur einmal im Jahr leisten, | |
zudem sei die Tante noch nicht einmal eine Erbtante und sowieso werde das | |
Wetter ja nun jeden Tag wärmer. | |
Am Montag beschließt Frau Hammler, mit der Trambahn zu fahren. Leider | |
erfährt sie durch einen Aushang an der Haltestelle, aufgrund dringender | |
Bauarbeiten verkehre eine solche nicht, sondern werde durch einen Bus | |
ersetzt. Busfahren traut sich Frau Hammler schon lange nicht mehr, weil ihr | |
davon immer schlecht wird, seit die Busfahrer durch den gestrafften | |
Fahrplan gezwungen sind, wie Formel-1-Piloten durch die Stadt zu rasen. | |
Am Mittwoch ist das Wetter so schön, dass Frau Hammler meint, einen | |
weiteren Versuch mit der S-Bahn wagen zu können. Diesmal streiken jedoch | |
die Fahrer. Am Bahnhof bekommt sie von einem hohen Beamten einen | |
Plastikbecher mit lauwarmem Kaffee ausgehändigt und kehrt unverrichteter | |
Dinge zurück. | |
Am Freitag kramt Frau Hammler aus ihrem Schreibkästchen eine Ansichtskarte | |
vom Italienurlaub 1985, schreibt der Tante schöne Grüße drauf und | |
verspricht, sich sofort zu melden, wenn sie in acht Wochen aus dem Urlaub | |
zurück sei. Dann gießt sie das Blumenstöckchen und stellt es aufs | |
Fensterbrett zwischen die zwei Töpfchen von Oktober und Januar. | |
6 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Michael Sailer | |
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