# taz.de -- Göttliche Ausstellung: An den Wassern der Lethe | |
> In der Remise des Kunstvereins Braunschweig inszeniert Antonia Low die | |
> Skulpturen der vier Göttinnen Minerva, Vesta, Pax und Concordia aus dem | |
> Foyer der Villa Salve Hospes | |
Bild: Sieht aus, als hätte sie ein Klempner verlegt: Installation von Antonia … | |
BRAUNSCHWEIG taz | Es geht ums Vergessen. Das Vergessen, Lesmosyne oder | |
Lethe, das ist, ich glaube bei Hesiod oder so, die Quelle links der weißen | |
Zypresse, oder war es doch rechts? Und sie ist die Schwester der | |
Erinnerung, Mnemosyne, der Quelle auf der anderen Seite, Mutter aller | |
Musen, die den Menschen Glückseligkeit bringen, durch die Künste, Wahrheit, | |
und – oh diese vertrackten Griechen, immer haben sie alles schon gewusst! – | |
Vergessen. Also Lethe,Wasser vom unterirdischen Strom, gar selbst der Fluss | |
der Unterwelt, Inbegriff des verborgenen Ortes, unfassbar, unsichtbar bis | |
zum Moment der Entbergung – nur was bleibt von ihm danach? | |
Antonia Low, Künstlerin, deren Projekt „Pax und Concordia, wartend“ aktuell | |
in der Remise, also dem Seitengebäude des Braunschweiger Kunstvereins | |
geschieht, sucht seit Langem, und so beharrlich, dass man fast an eine | |
Obsession glauben könnte, nach verborgenen Orten. Wobei bereits die Suche | |
den Begriff des Ortes variiert und erweitert, – und der künstlerische | |
Zugriff ihn gerade da, wo er scheinbar ganz simpel ist, reichlich vertrackt | |
entfaltet: Etwa bei der 2012 entstandenen Arbeit „Longing For a White | |
Cube“. Für die hatte Low im Keller einer anglikanischen Durchschnittskirche | |
in Manchester eine Küche entdeckt. Deren Sichtbarkeit stellte sie her, | |
indem sie die Wände – paradoxal – hinter Rigips-Platten verbarg. Am Ende | |
hatte sich die versteckte Kochnische in einen klassischen White Cube | |
verwandelt, einen musealisierenden Show-Room, mit einem zum Exponat | |
geadelten 50er-Jahre-Küchenschränkchen. | |
Oder, anderes Beispiel, für „The Electric Return“ meißelte Low 2010 | |
sämtliche Kabelleitungen eines ehemaligen Ladens in Berlin aus den Wänden | |
hervor, die Adern des Raumes, seine verborgene Anatomie, deren Finessen und | |
innere Verästelungen an genau definierten Knotenpunkten durch Anschnitte | |
freigelegt, untersucht und hinter Glas präsentiert wurden. In Braunschweig | |
lehrte Low, Deutsch-Chinesin, in Liverpool geboren, in Dublin und Bonn | |
aufgewachsen und seit dem Studium am Londoner Goldsmith’s College in Berlin | |
ansässig, dank des Dorothea-Erxleben-Stipendiums in den letzten zwei Jahren | |
als Gastdozentin. | |
Von der Hochschule aus hat sie mit ihren Studierenden Exkursionen | |
unternommen, auch zum Beispiel, naheliegend, ins Sprengel-Museum Hannover. | |
Von dort brachte sie dann ein Schwarz-Weiß-Bild des Rück- und Schaltraums | |
von James Turrells Lichtinstallation „Dark Space“ mit. Das hat sie, auf | |
Tuch gedruckt, ihrer Installation „Unter über“ einverleibt, die auch den | |
Unterbau der Braunschweiger Kunsthochschule untersucht und ans Licht zerrt, | |
etwa in Gestalt reproduzierter Funktionsteile verborgener Betriebssysteme, | |
Schalter, Klinken, Stecker, auf denen die Kunst, wie wir sie heute sehen, | |
gleichsam – läuft. Um es mal mit einem wirklich harten Ausdruck zu | |
bezeichnen. | |
„Pax und Concordia, wartend“ bildet dazu ein korrespondierendes Gegenstück, | |
ist gleichsam die Schwester der anderen Arbeit, und auf den ersten Blick | |
könnte man sie für einen Bruch in der Reihe halten. In den Blick nimmt Low | |
hier vier Gipsstatuen aus den Nischen des kreisrunden, zweistöckigen | |
Vestibül der klassizistischen Villa Salve Hospes – und nicht jeder, der so | |
eine Götterplastik sieht, denkt sofort, aha, Pax-Frieden, eine | |
Personifikation, Minerva, Klugheit dito und Concordia, Eintracht und Vesta | |
irgendwie auch … | |
## Von mentalen Orten | |
Also jedenfalls alles Topoi, das heißt: mentale Orte, deren | |
Zusammenstellung noch dazu auf einen präzisen Platz des alten Rom verweist: | |
„An der appischen Strasse standen“ – entlang eines teils unterirdischen | |
Kanals – „die Tempel mehrerer Göttinnen welche daher den Namen ’Appiades… | |
erhielten“, resümiert Johann Andreas Rombergs „Conversations-Lexicon für | |
Bildende Kunst“ 1843 den damaligen Stand des Wissens. Und zwar seien das | |
„besonders“ jene vier gewesen plus Venus. Wobei man letztere in | |
Braunschweig bei der Villamöblierung lieber untern Tisch hat fallen lassen: | |
Bei Zeitgenossen hätte sie womöglich sonst eine – heute längst vergessene … | |
unerwünschten Konnotation wachgerufen. Die Via Appia war auch ein Ort, wo | |
in der Antike die Nutten standen, wartend. | |
Derartige, durch Historie gestörte Gebildetheit vergisst man allerdings | |
besser gleich wieder. Low arbeitet nicht so antiquarisch, die | |
gestalterischen Entscheidungen, die so präzise zu rekonstruierbaren | |
möglichen historischen Kontexten passen, so auf diese abgestimmt wirken, | |
trifft sie meist intuitiv. Und dabei geht es ihr ganz sicher nicht darum, | |
so etwas wie eine eigentliche Bedeutung der Konfektions-Göttinnen | |
freizulegen, die sie aus der Villa-Rotunde ins Seitengebäude transportiert | |
hat. | |
Ja nicht einmal das: Die Herstellung eines (oder gar des) Originalzustandes | |
ist ihr Hauptanliegen, obwohl doch die Restauratorin Anja Stadler in Lows | |
Auftrag genau exakt daran arbeitet. Was dieser Kooperation eine gewisse | |
Spannung verleiht: „Die Ziele“, sagt Low, „sind unterschiedlich“. Der | |
üblichen Hierarchisierung der Zustände – verweigert sie sich. Wo die | |
Restauratorin ein Endprodukt vor Augen haben mag, geht es ihr um die | |
Versenkung in den Prozess der Bereinigung von Spuren der Vergangenheit – | |
und um die konkreten Spuren, die dieser Prozess hinterlässt. | |
Low inszeniert sie, indem sie den Boden des weiß gekalkten Raums durch eine | |
riesige, mit einem Farbfoto des ursprünglichen Standorts bedruckte | |
Stoffbahn ausgelegt hat, auf der sich Stäube und Splitter sammeln und | |
abzeichnen. Sie versucht, den Prozess des Ablösens der aufgelagerten | |
Schichten, des Korrigierens von Fehlkorrekturen offenzulegen: Die eine | |
Göttin war mehrfach geflickt, ihr Gesicht hat jemand komplett verschoben | |
zusammengebastelt, der Hals ist verdreht. Und der kleine Finger sieht aus, | |
als hätte ihn ein Klempner schnell verlegt und drangekittet, um stümperhaft | |
einen Unfall zu vertuschen. | |
## Nur wer vergisst, lebt | |
In Faserschreiber-Zeichnungen auf DIN-A5-Ringbucheinlagen hält Low die | |
Zwischenschritte des Vorgangs fest. Die den Plastiken entnommenen | |
Gliedmaßen bahrt sie in einem gesonderten, dunklen Raum in Vitrinen auf wie | |
kostbarste Relikte, rare Sammlerstücke, aufgespießte Insekten mit | |
schillernden Panzern. Der größte Teil von ihnen wäre aus Sicht der | |
Restauratorin Abfall, Dreck. Das ist der Körper, der Gegenstand des | |
Vergessens. Man kann ihm beim Wachsen zusehen. Und nur wer vergisst, lebt. | |
„Der Mensch“, schreibt Nietzsche, „wunderte sich über sich selbst, das | |
Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen.“ | |
Beobachtung, die, ausgesprochen zeitgemäß in dem historischen Moment, in | |
dem es darum geht, sich das Recht auf Vergessen und Löschung aus dem | |
unerbittlichen Weltgedächtnisautomaten zu erstreiten, auf ein Bedürfnis von | |
wachsender Dringlichkeit hinweist, es als gestalterisches Problem | |
formuliert: Könnte denn das Vergessen eine Kulturtechnik sein? Ehrlich | |
gesagt – keine Ahnung. Aber Low, die den Blick auf es ermöglicht, indem sie | |
es in seiner Materialität freilegt, kommt dem frappierend nahe: Mindestens | |
ermöglicht sie, es zu denken. Und das macht ihre Kunst, die komplett am | |
Markt vorbei, ganz still, ganz leise, hochkonzentriert und doch fast | |
beiläufig daherkommt, zutiefst beeindruckend. | |
## Antonia Low, „Pax und Concordia, wartend“: bis 24. 8., Remise des | |
Kunstvereins Braunschweig | |
3 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Fotografie | |
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