# taz.de -- Voraussagen beim Elfmeterschießen: Keeper machen Zockerfehler | |
> Torhüter denken beim Elfmeterschießen wie Roulettespieler. Ihr Verhalten | |
> ist kalkulierbar. Wenn das die Schützen wüssten… | |
Bild: Hielt im Elferschießen des WM-Halbfinals gegen Argentinien keinen einzig… | |
Eine miserable Quote: England hat bei Welt- und Europameisterschaften sechs | |
von sieben Elfmeterschießen verloren. Die erste Niederlage dieser Art | |
verfolgten 1990 fast 50 Prozent aller Engländer. Spätestens seitdem leidet | |
die Nation. | |
Der Gegner im WM-Halbfinale in Italien war Deutschland, und Stürmer Gary | |
Lineker prägte den berühmten Satz vom Fußball, der ein einfaches Spiel ist, | |
bei dem am Ende immer die Deutschen gewinnen. Das bestätigte sich im | |
EM-Halbfinale 1996. | |
Englische Akademiker wollen helfen, das Trauma zu überwinden. Die | |
Kognitionswissenschaftler Erman Misirlisoy und Patrick Haggard vom | |
University College London haben sich der Problematik angenommen und | |
Erstaunliches herausgefunden: Torhüter machen typische Zockerfehler. | |
In der im Fachblatt [1][Current Biology erschienenen Studie] wurden alle 37 | |
Elfmeterschießen bei Welt- und Europameisterschaften zwischen 1976 und 2012 | |
ausgewertet. Insgesamt wurden dabei 361 Elfer getreten. Bei den zahlreichen | |
Arbeiten zum Thema wurden bisher vor allem Elfmeter aus dem Spiel heraus | |
untersucht oder das Einzelereignis „Duell Spieler gegen Torwart“. | |
## Der Spielertrugschluss | |
Misirlisoy und Haggard haben das Augenmerk auf das Duell eines einzelnen | |
Individuums (des Torwarts) mit einer Gruppe von Individuen (den Schützen) | |
gelegt und die Schüsse als Serie betrachtet. Die Kognitionswissenschaftler | |
entdeckten einen Effekt, der sich am besten an Roulettespielern erklären | |
lässt: Je häufiger hintereinander Schwarz fällt, desto größer ist die | |
Erwartung des Spielers, dass die nächste Zahl Rot ist. Diese Erwartung | |
steigt, je länger die Serie ist. | |
Die Wahrscheinlichkeit für Schwarz und Rot ist aber bei jedem neuen | |
Durchgang die gleiche. Der sogenannte Spielertrugschluss trifft auch auf | |
einen Torhüter zu, der entscheiden muss, in welche Ecke er springt. Anders | |
als die Schützen, die sich beim Elfmeterschießen nicht um die Schüsse ihrer | |
Vorgänger kümmern, weiß der Keeper genau, in welche Ecken die Schützen seit | |
Beginn des Ausscheidungswettbewerbes geschossen haben. | |
Und hier zeigt sich, dass der Keeper – genau wie der Roulettezocker –, dem | |
Spielertrugschluss unterliegt. Während sich der Torwart bei der Seitenwahl | |
beim ersten Schuss noch daran orientiert, ob der Schütze Rechts- oder | |
Linksfuß ist, überwiegt in der Folge der Spielertrugschluss. | |
## Kognitive Asymmetrie | |
Je länger eine Serie dauert, desto größer ist die Erwartung, dass die Serie | |
endet. Die Wahrscheinlichkeit für einen Richtungswechsel, wenn die Schützen | |
jeweils die gleiche Ecke wählen, steigt rasant. Nach drei Elfern in die | |
eine Ecke liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Torhüter beim vierten | |
für die andere entscheidet, bereits bei 95 Prozent. | |
Das Verhalten der Schützen ist wesentlich schlechter vorherzusagen. Die | |
besitzen nur ein biografisches Gedächtnis für eigene Elfmeter. Was die | |
Teamkollegen machen, interessiert sie nicht. Auch was der Torwart macht, | |
interessiert sie nicht. Ein Fehler, da der Keeper voraussagbare | |
Verhaltensmuster zeigt, die die Schützen nutzen könnten. | |
## Voreil für das Kollektiv | |
Allen könnten die Ergebnisse der Kognitionswissenschaftler nutzen. Torhüter | |
könnten eine zufällige Wahl der Sprungecke trainieren. Für die Schützen | |
lässt sich der Effekt noch besser nutzen: Das Kollektiv hat einen | |
beachtlichen strategischen Vorteil gegenüber dem Torwart. Wichtig ist | |
nicht, darauf zu achten, in welche Ecke der Keeper beim letzten Elfer | |
gesprungen ist, sondern in welche die vorausgegangenen Schützen geschossen | |
haben. | |
Gareth Southgate, Englands einziger Fehlschütze 1996 beim 5:6 im | |
EM-Halbfinale gegen Deutschland, nimmt seinen folgenreichen Fehlschuss | |
mittlerweile gelassen. In einem Werbespot beweist er ein erstaunliches Maß | |
an Selbstironie. Er rennt beim Verlassen eines Fastfood-Restaurants gegen | |
einen Pfeiler im Raum. Kommentar: „Oh, diesmal hat er sogar den Pfosten | |
getroffen.“ | |
Wir hoffen, dass die Engländer mit den bahnbrechenden Erkenntnissen von | |
Misirlisoy und Patrick Haggard das nächste Duell vom Punkt für sich | |
entscheiden mögen. | |
4 Aug 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.cell.com/current-biology/pdfExtended/S0960-9822(14)00839-2 | |
## AUTOREN | |
Patrick Loewenstein | |
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