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# taz.de -- Polnischer Historiker über den 1. September: „Erinnerung ist noc…
> Vor 75 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Wlodzimierz
> Borodziej über den Versuch, eine Erinnerungskultur in seinem Land zu
> etablieren.
Bild: Blick auf die Truppenparade der Wehrmacht am 5. Oktober 1939 in Warschau.
taz: Herr Borodziej, erinnert man sich in Polen am 1. September an den
Beginn des deutschen Terrors oder an den Hitler-Stalin-Pakt und den Beginn
der bis 1989 währenden sowjetischen Vorherrschaft?
Wlodzimierz Borodziej: Als erstes gilt 1939 als Zusammenbruch der polnische
Republik, die seit 1918 existierte. Diese Republik war der erste polnische
Staat seit 123 Jahren. Am 1. September 1939 wurde er zerstört. Dieses Datum
ist mit dem deutschen Überfall verbunden, der sowjetische Einmarsch wird
mit dem 17. September verknüpft, als die Rote Armee die polnische Ostgrenze
überquerte. Der 17. September ist seit dem Sturz des kommunistischen
Regimes 1989 Gedenktag und dem 1. September ebenbürtig.
Die deutsche und sowjetische Besetzung wird gleichrangig erinnert?
Ja. Wobei insbesondere die deutsche Besatzung, der Vernichtungskrieg, als
Bruch mit europäischen Normen gilt, die Attacke aus dem Osten als Beginn
der Sowjetisierung Polens. Die Erinnerung ist regional verschieden, West-
und Zentralpolen litt unter der Wehrmacht, Ostpolen unter der Roten Armee.
In Andrzej Wajdas Film „Katyn“ aus dem Jahr 2007 gibt es eine Szene, die
dies emblematisch zeigt: polnische Flüchtlinge von Westen und von Osten
treffen sich auf einer Brücke.
Gibt es eine differenzierte Erinnerungskultur in Polen in Bezug auf 1939?
Ja – mit Grenzen und Leerstellen. Die Erinnerung ist noch immer selektiv.
Ein Posener hat den September anders erlebt als ein Lemberger. Unter das
Regime der Roten Armee fielen nicht nur Polen, sondern auch Weißrussen,
Ukrainer, Juden. Die nichtpolnischen Opfer des Einmarsches sind im
polnischen Kollektivgedächtnis schlicht nicht präsent, was übrigens
umgekehrt genauso gilt.
Versteht man 1939 als Angriff des Totalitarismus – oder eher in der
geopolitischen Tradition des 19. Jahrhunderts als Überfall unliebsamer
Nachbarn?
Damals sah man den Krieg als Fortsetzung der polnischen Teilungen. Die
Idee, den Überfall als Angriff des Totalitarismus zu deuten, entstand im
Exil nach 1945 und im Kalten Krieg. Sie ist nach 1989 zum Konsens geworden,
den die Linke und die Rechte in Polen teilen. Demnach ist die polnische
Republik damals stellvertretend für das demokratische Europa von den beiden
totalitären Diktaturen unterworfen worden. 1944 hat man im Warschauer
Aufstand vergeblich für Freiheit gekämpft, 1989 erfolgreich für die
Demokratie. So sieht die polnische Selbstdeutung aus.
Inwiefern widerspricht die polnische Interpretation von 1939 ein
Dreivierteljahrhundert danach der russischen? Es gibt russische Historiker
und Medien, die von einer Mitschuld Polens am Zweiten Weltkrieg reden –
weil Polen eine Anti-Hitler-Allianz verhindert habe …
Diese These kursierte erstmals 1934, unter anderem in französischen
Zeitungen. Sie wurde von Moskau aus lanciert. Polen hatte mit Hitler 1934
einen Nichtangriffspakt geschlossen, den Hitler 1939 aufkündigte. Laut der
sowjetischen Auslandspropaganda, die diese Fälschung in Westeuropa streute,
gab es ein geheimes deutsch-polnisches Zusatzprotokoll. Diese Legende hat
2009 ein russischer Geheimdienstgeneral a. D. aufgewärmt. Er wollte damit
zeigen, dass die im geheimen deutsch-sowjetischen Zusatzprotokoll fixierte
Aufteilung Polens zwischen Berlin und Moskau also nur eine Reaktion war.
Der anderen, in den letzten Jahren ebenfalls aufgewärmten Legende zufolge
war der polnische Außenminister gar deutscher Spion. So viel zur polnischen
Mitschuld.
Polen versuchte in den 1930er Jahren allerdings eine europäische Großmacht
zu werden …
Weil man zu Recht annahm, sich nur so gegen die bolschewistischen und
nationalsozialistischen Nachbarn behaupten zu können. „Versuchte“ ist das
entscheidende Wort in Ihrer Frage.
Putin hat 2009 den Hitler-Stalin-Pakt verurteilt, aber auch gesagt: Nach
dem Münchener Abkommen von 1938 habe Stalin zu Recht befürchtet, dass der
Westen einem Krieg NS-Deutschlands gegen die Sowjetunion wohlwollend
gegenüberstand. Ist das historisch zutreffend oder der Versuch, den
Hitler-Stalin-Pakt samt Aufteilung Polens durch die Hintertür zu
rechtfertigen?
Putins Rede am 1. September 2009 war bemerkenswert. Sie war in der Tonart
anders als die sonstigen Erklärungen Moskaus zum Molotow-Ribbentrop-Pakt –
und im Kern doch gleich.
Inwiefern?
Weil Putin der machtpolitischen Logik folgte: Weil der Westen Hitler in der
Tschechoslowakei-Frage nachgab, durfte Stalin mit Hitler paktieren. Rein
machiavellistisch gesehen, ist das konsequent. In München 1938 wurde Stalin
aus Europa herausgedrängt, mit dem Zusatzprotokoll und der Besetzung
Ostpolens kehrte er nach Europa zurück. Das erinnert an Putins Rede vom 18.
März 2014 über die Krim. Dort findet sich genau die gleichen Logik.
Erstens: Was die USA machen, dürfen wir auch. Zweitens müssen wir uns um
unsere Sicherheit kümmern, weil wir vom Westen bedroht werden.
Also gibt es auch 2014 noch einen fundamentalen Dissens zwischen Warschau
und Moskau in Bezug auf 1939?
Durchaus. Moskau hat jahrzehntelang bestritten, dass das geheime
Zusatzprotokoll überhaupt existiert. Das kann Putin nicht mehr tun. Nun
stellt er es als nachvollziehbar dar. Es gibt russische Historiker, die die
Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs genau so beschreiben wie ihre
deutschen, britischen oder polnischen Kollegen. Deren Bücher dürfen in
Russland auch erscheinen. Aber die staatliche Version ist eine andere.
Die CDU-Politikerin Erika Steinbach hat mal gesagt, dass Polen im Frühjahr
1939 mobilgemacht hat, was Hitlers Überfall in milderes Licht tauchen
sollte. Klingt so das deutsche Pendant zu Putin?
Das kann man so sehen. Steinbach steht damit in einer langen deutschen
Nachkriegstradition. Die Vertriebenenverbände vertraten in den 50er und
60er Jahren die Auffassung, dass die deutsche Minderheit in Polen so
schrecklich unterdrückt wurde, dass das Deutsche Reich dies als Provokation
auffassen und eingreifen musste. Wenn Ernst Nolte im Spiegel mit dem Satz
zitiert wird, man müsse den Anteil Polens und Großbritanniens am
Kriegsausbruch „stärker gewichten“, meint er ja dasselbe.
Das sind 2014 in Deutschland Minderheitenpositionen …
… und werden solche bleiben.
2009 hat der damalige Präsident Lech Kaczynski den Mord an Tausenden
polnischen Offizieren durch die Sowjets in Katyn mit dem Holocaust
verglichen. Sind solche Relativierungen des Holocausts typisch für die
polnische Rechte?
Die Sache ist etwas komplizierter. Kaczynski sagte: Die Juden wurden
ermordet, weil sie Juden waren, die polnischen Offiziere, weil sie
polnische Offiziere waren. Und beides sei ein Völkermord gewesen.
Das ist eine rhetorische Gleichsetzung.
Jein. Kaczynski war, wie viele polnische Rechte, kein Antisemit. Die
polnische Rechte fordert seit Jahren, Katyn juristisch als Völkermord
einzuordnen – nicht als Kriegsverbrechen. Der Sinn dieses Satzes ist es,
Katyn als Symbol für das Leiden Polens auf eine Ebene mit dem Holocaust zu
heben, also auf die Ebene mit der Chiffre für das universelle Böse.
Weil Polen, laut einer berühmten Formel aus dem 19. Jahrhundert, noch immer
„Jesus unter den Völkern“ sein will? Braucht Polen nach 25 Jahren
Demokratie die Geschichte noch als Projektionsfläche, um sich als
Opferkollektiv zu spiegeln?
Das hält sich in einem Teil der Öffentlichkeit hartnäckig. Die polnische
Rechte ist nach wie vor der Meinung, dass Polen etwas ganz Besonderes sei,
weil es sich so oft für Europa, die Menschheit und das Christentum geopfert
hat. Die Liberalen können damit hingegen seit Langem nichts anfangen.
Ist das ein Stadt-Land-Gefälle?
Nein, es gibt viele urbane rechte Intellektuelle.
Jung/alt?
Nein, leider auch nicht.
Es gab die Hoffnung, dass die Nachfrage nach historischen Opfermythologien
mit der Erlebnisgeneration des Weltkrieges verschwinden würde.
Das war eine Illusion. Wir haben in den frühen 1990er Jahren gedacht, dass
Wohlstand, Demokratie und die EU eine Angleichung, eine Konvergenz der
europäischen Erinnerungskulturen mit sich bringen würden. Das ist nicht
passiert. Und auch der Generationenwechsel hat wenig genutzt. Die
Funktionäre der Opferlobbygruppen sind meist jünger als ich.
Gibt es einen Ausweg aus der Logik der Opferkonkurrenz?
Nein. Mir scheint, dass die kollektiven Gedächtnisse überall um die eigenen
Opfer kreisen. In Deutschland ist das noch am ehesten gebrochen. Aber ein
multiperspektivisches Erinnern, das die Opfer der anderen als gleichwertig
anerkennt, bleibt in Europa selten.
Am 1. September um 19 Uhr diskutiert Borodziej im Audimax der
Humboldt-Universität zu Berlin mit den Historikern Ulrich Herbert und Nick
Stargardt über 75 Jahre Kriegsbeginn.
1 Sep 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Polen
Deutschland
Wehrmacht
Russland
Ukraine
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