# taz.de -- taz-Publikumspreis beim Open Mike 2014: Feierabend | |
> „Morgen bin ich tot“ – „Das hättest du gerne“: der Text des Gewinn… | |
> taz-Publikumspreises beim Open Mike 2014. | |
Bild: Im Hospiz hat Lev gelernt, wie die Welt funktioniert und was Leben bedeut… | |
Manche Leben haben Überlänge. Besser werden sie dadurch nicht. Nur teurer.“ | |
Günni zieht den roten Faden der Klospülung und beobachtet, wie Lev seinen | |
Kulturbeutel ordnet. | |
„Du meinst wie Kinofilme?“, fragt Lev, geht auf ihn zu und hebt Günni von | |
der Kloschüssel. | |
„Ja, Kurt Cobain zum Beispiel. Er hat es richtig gemacht und einen | |
grandiosen Kurzfilm abgeliefert. Kawumm mit siebenundzwanzig. Ich werde | |
zweiundsiebzig.“ | |
„Hast dich gut gehalten.“ | |
„Halt die Fresse. Siehst du, wie faltig mein Arsch ist? Sogar mein Arsch? | |
Und meine Hände. Ich kann mir nicht mal einen runterholen. Wer keine Kohle | |
hat, um als gelifteter Greis auf Viagra zu enden, mit blonden | |
Botox-Schlampen auf dem Schoß, wozu soll der alt werden? Wie alt bist du?“ | |
„Zweiundzwanzig.“ | |
„Na, da hast du noch fünf Jahre.“ | |
„Bei Britney Spears wäre siebenundzwanzig schon zu spät gewesen.“ | |
„Kenn ich nicht. Nicht so fest mit dem Scheißökopapier.“ | |
Sorry, Günni. Rasieren?“ | |
„Geh ich auf eine Hochzeit? Beim Flaschensammeln helfen meine Stoppeln. Sag | |
mal, hast du was zum Rauchen da?“ | |
„Morgen, ich mach jetzt Schluss.“ | |
„Morgen bin ich tot.“ | |
„Das hättest du gerne, Günni. Ich wasch dich morgen früh, dann rasiere ich | |
dich und dann ziehen wir einen durch.“ | |
Lev macht Günni eine Schleife an den Bund der Jogginghose. | |
„Hau ab, du Penner.“ Günni bringt ihn in langsamen Schritten zur Tür und | |
gibt ihm einen Klaps auf den Hintern. | |
Lev schaut, dass er unbemerkt in die Umkleide kommt, er will heute kein | |
weinerliches „Herr Doktor, helfen Sie mir!“ hören, kein „Kannst du schne… | |
noch, bevor du gehst …“ von der Stationsleitung. Günni ist ein guter | |
Abschluss nach all den Scheintoten, die an einem Tag zusammenkommen. | |
Das Sterben selbst ist öde, wenn man sich nicht erschießt. Es dauert ewig | |
und immer, wenn man denkt, das war jetzt das letzte Röcheln, kommt noch ein | |
Schnarcher hinterher oder ein Klacklaut aus der Kehle. Manchmal gehen die | |
Augen auf und die Vitalfunktionen sind wieder in Ordnung. Das kann Stunden | |
dauern und der Rest der Arbeit bleibt liegen. Es ist angeblich pietätlos, | |
schon mal die Schränke zu räumen und die Sachen zu packen, bevor jemand | |
gestorben ist. Dabei wäre das mal ein sinnvoller Ansatz des | |
Qualitätsmanagements. Es ist ja nicht so, als ob man mit dem Tod nicht | |
rechnen könnte. | |
Für Angehörige ist das Warten die Hölle. Wie mit diesen Leuten auf Partys, | |
die sich immer wieder verabschieden und dann doch nicht gehen. Für Lev ist | |
es einfach nur langweilig. Er hat nichts gegen die Sterbenden. Gut, die | |
meisten waren mal Nazis, und wer sich einen Platz in dem Hospiz, für das er | |
arbeitet, leisten kann, hat bestimmt Dreck am Stecken. Die Kosten für die | |
Unterbringung selbst trägt die Kasse, aber die Warteliste ist lang. Wenn | |
man eine Spende drauflegt, geht es schneller. | |
Zeit kann man nicht kaufen, wenn man im Sterben liegt, also kauft man sich | |
einen Platz, um es zu Ende zu bringen. Mit Blick auf die Weinberge. Und | |
terracottagelbe Wände. Wärme und Freundlichkeit auf den letzten Schritten | |
des Weges. | |
Wenn Lev die Nachmittagsschicht hat, ist er großzügig mit den Sedativa, | |
dann gibt es kein Hin und Her und es sieht netter aus, wenn die Leute | |
entschlafen. Nachts ist das egal. Da ist Lev meist allein mit den | |
Todgeweihten. Er ist dankbar für jeden polnischen Abgang. Augen zu und gut | |
ist. | |
Die Patienten, Lev soll sie Klienten nennen, denen die Demenz das Gehirn | |
noch nicht völlig zerschossen hat, labern zu jeder Tageszeit. In | |
zermürbender Langsamkeit, so schnell es eben geht mit einem Lungenflügel | |
oder nach der dritten Chemo, aber sie labern. Das muss man sich dann | |
wochenlang anhören und nicken und lächeln, obwohl man nichts versteht, wie | |
in der Disko. Sie erzählen vom Krieg, von ihren unerfüllten Lieben und | |
Träumen, von ihren Fehlern. Die ganze Zeit reiten sie auf irgendeinem | |
Fehler herum, für den sie nach dem Tod bezahlen müssen. „Die hoffen auf | |
Rabatt oder mildernde Umstände, wenn sie nur oft genug bereuen, was sie | |
verkackt haben“, hat Günni mal gesagt. | |
Lev zieht manchmal die Augenbrauen hoch, wenn er sich die Geschichten | |
anhört, aber nicht so, dass die Leute es mitbekommen. Er rollt nie mit den | |
Augen. Seine Chefin Gitte macht das und dann schaut sie ihn an, zuckt mit | |
den Schultern und macht die Scheibenwischergeste. Die landet hier auch | |
bald. Von verbittert und schrumpelig zu schrumpelig und tot kann es ganz | |
schnell gehen. | |
Alt zu sein ist eine einzige Katastrophe. Mit künstlichem Darmausgang, | |
Rheuma und Freiheitsrechten wie in Guantánamo macht das Aufstehen nicht | |
mehr so viel Spaß. Das Hospiz St. Gangolf wurde in den Neunzigern | |
gegründet, um Menschen zu erlauben, in Würde zu sterben. Ehrlich und | |
geborgen. Im Kreis von Angehörigen und kompetenten Trauerbegleitern. | |
Manchmal träumt Lev, dass er am Fließband steht. Die Alten fahren an ihm | |
vorbei. Er drückt auf einen Knopf, sie werden abgeduscht. Ein weiterer | |
Knopfdruck und sie bekommen eine Infusion. Er zieht einen Hebel, unter | |
ihnen öffnet sich eine Falltür. Die Falltür schließt und anstelle der Alten | |
fährt ein Teelicht auf dem Fließband weiter. | |
Im Hospiz hat Lev gelernt, wie die Welt funktioniert und was Leben | |
bedeutet. | |
Entweder ein Mensch ist dumm genug, um sich glücklich zu fühlen, oder | |
stumpf genug, sich Ignoranz zu leisten. Alles andere ist eine Qual. Vor | |
allem, wenn man den richtigen Zeitpunkt für den Abgang verpasst. Es gibt | |
ein Methadonprogramm. Wenn man glaubt, das Richtige zu tun, auch wenn es | |
aussichtslos ist, lässt sich das Leben ertragen. | |
„Aussichtslos ist fast alles, was man anpackt. Das liegt am einzigen | |
natürlichen Feind des Menschen, dem Menschen selbst“, hat Herr Ludwig | |
gesagt und der muss es wissen, denn er ist Professor für Philosophie und | |
Ehrenbürger. Herr Ludwig hat seinen Abgang in mühevoller Kleinarbeit mit | |
Silvaner vorbereitet. Seine Leber hat das erstaunlich lange ausgehalten. | |
Für jemanden, der nicht mehr lange zu leben hat, sieht er verdammt gelassen | |
aus. Er liegt auf der Wachstation, erst war er Günnis Zimmergenosse. Herr | |
Ludwig ist einer von den Guten. Sein Vater hat Juden versteckt. Drei Stück. | |
Die Welt ist ungerecht. Auf der ganzen Welt entwürdigen Menschen andere | |
Menschen. Seit Jahrtausenden. Man kann das nicht ignorieren, solange die | |
Welt so läuft. Außer man ist dumm oder stumpf genug. Oder ein | |
Überzeugungstäter. Wie Schwester Hiltrud. Lev hat sie bis gestern betreut, | |
sie war siebenundneunzig Jahre alt und hat ihr ganzes Leben Afrikaner | |
missioniert. Die wollte nicht aufhören und hat ihm noch an ihrem Todestag | |
Briefe diktiert. Als ob die Leute in Afrika keine anderen Probleme hätten. | |
Bibelzitate und Durchhalteparolen. Ein Brief klang kitschiger als der | |
andere. Lev nahm einige inhaltliche Korrekturen vor, was gar nicht so | |
leicht war, bei seinen Englischkenntnissen. Jeder der vierzehn Briefe, die | |
er für sie schrieb, endete mit denselben Worten. And don’t forget who | |
fucked your future. Stand up for your rights! With best wishes Sister | |
Hiltrud. Auf den Umschlag ihres letzten Briefes schrieb Lev: This is the | |
last letter from Sister Hiltrud. She is in heaven now, or in hell. At least | |
she is fucking dead. | |
Er hat ihn noch eine Nacht liegen lassen, weil er nicht sicher war, ob er | |
die kleinen Kinder mit den Kulleraugen, die er beim Schreiben der Briefe | |
immer vor sich sah, traumatisieren könnte. Er kann. | |
Lev hat sich hastig umgezogen, das Hospiz verlassen und hält die Post in | |
den Händen. Der nächste Briefkasten liegt auf dem Weg zum Mainufer, wo sein | |
Kumpel Boss mit einem Kasten Bier auf ihn wartet. Boss hängt durch in | |
letzter Zeit. Seine Eltern sind unterwegs, und wenn keiner ihm drohend über | |
die Schulter blickt, lässt er sich gehen. Er rasiert sich nicht, sitzt | |
Stunden vor dem Fernseher oder der Spielkonsole und schreibt wirklich | |
schlechte Songtexte, die er mit seiner Gitarre begleitet. Vor allem, wenn | |
er bekifft ist und den Jim Morrison in sich zu entdecken glaubt. | |
Lev findet ihn auf der bröckelnden Backsteinmauer am Kai sitzend, die | |
Gitarre in der Hand, den Blick auf die Leute am gegenüberliegenden Ufer | |
gerichtet, die sich, so hat Boss es in sein rotes Büchlein notiert, „wie | |
Ameisen ihren Weg durch die von Grillvolk belagerte Wiese bahnen“. Er legt | |
die Gitarre beiseite. Lev erzählt von seinem Tag. Boss von seiner | |
Selbstfindungsphase, in der er sich seit dem Abitur befindet. Bei Lev heißt | |
das Totenstarre, bei Derya Deutschenproblem. | |
Sie überrascht Lev und Boss von hinten, quetscht sich zwischen sie auf die | |
Mauer und nimmt ihre Sonnenbrille ab, um damit ihre Bierflasche zu öffnen. | |
„Original Türkisch Ray Ban“, verkündet sie dabei, prostet in die Luft und | |
holt unter ihrem Kopftuch eine selbstgedrehte Zigarette hervor. Boss gibt | |
ihr Feuer. Er ist der Einzige, der ihr Feuer geben darf. Im Sinne der | |
türkisch-griechischen Freundschaft. Sie ist die Einzige, die etwas mit | |
Boss’ Liedermacherversuchen anfangen kann. Sie findet sie lustig, was für | |
Boss besser klingt als scheiße. Nur findet Derya alles lustig. Oder süß. | |
Die alte Frau zum Beispiel, die unter den Augen der drei ihren Mann am | |
Alten Hafen im Rollstuhl spazieren fährt. Hin und her. Sie kamen etwa | |
zeitgleich mit Derya. | |
Die alte Frau ist zierlich und ihr Mann wirkt schon im Sitzen wie ein | |
Walross mit Koteletten und gezwirbelten Bart. Seine Frau muss sich mit | |
aller Kraft gegen den Rollstuhl stemmen, um zu wenden. Alle fünfzig Meter | |
tut sie das. Heute ist nicht viel los auf der Uferpromenade, weil sich alle | |
gegenüber im Gras sonnen. So muss sie nicht auch noch Radfahrern oder | |
Skatern ausweichen. Man sieht den Schweiß auf ihrer Stirn glänzen. | |
„Das sind noch Beziehungen, das ist noch Liebe. Meine Großeltern sind auch | |
so.“ Derya klopft den Jungs auf die Oberschenkel. | |
„Ach ja? Dein Opa ist also ein fetter Sack, der brüllt: ’Bist du noch ganz | |
sauber? Dreh mich um, ich sehe die Festung nimmer?‘“ | |
„Lev hat recht. Der Typ ist ein Tyrann. Seine Frau schiebt ihn gleich in | |
den Main.“ | |
„Macht mir nicht immer alles kaputt. Überhaupt, was geht heute mit dir, | |
Boss? Du hast morgen Geburtstag, guck nicht so grimmig.“ Derya zieht an dem | |
Stummel, der von ihrer Zigarette übrig geblieben ist. Sie hält ihn zwischen | |
Daumen und Zeigefinger geklemmt, wie sie es sich mit dreizehn angewöhnt | |
hat. Die Sonne ist kaum noch zu sehen. Der Himmel über ihr leuchtet rot. | |
„Morgen wird ein schöner Tag“, seufzt Derya, „und ich habe zwei Klausure… | |
„Es gibt Leute, die arbeiten“, raunt Boss. | |
„Das sagt der Richtige. Als ob du schon mal gearbeitet hättest, Mister | |
Beamtenkind. Geh Kuchen backen, ich werde hungrig sein.“ | |
Der Proletarier in Boss, der eigentlich Charalambos heißt, lässt seine | |
leere grüne Bierflasche hinter sich an der Wand zersplittern und geht. | |
„Da ist Pfand drauf, du Depp. Der Günni sammelt doch!“, ruft Derya ihm | |
hinterher. Boss steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert, ohne | |
sich noch einmal umzudrehen, Richtung Brücke. | |
Lev öffnet seine dritte Flasche mit Deryas Feuerzeug. | |
„Paula hat gestern Schluss gemacht, darum ist er so drauf.“ | |
„Schon wieder? Wieso sagst du das nicht eher? Ich hätte ihn nicht so | |
angefuckt.“ | |
„Als ob du auf so was Rücksicht nehmen würdest“, spottet er und nimmt noch | |
einen großen Schluck. | |
„Ich konnte sie nie leiden.“ | |
„Sie hat gesagt, sie will nicht länger mit einem Fisch zusammen sein.“ | |
„Schlampe. Was soll das heißen? Auch noch vor seinem Geburtstag. Was | |
schenkst du ihm?“ | |
„Einen unvergesslichen Abend.“ | |
„Geht ihr in den Puff?“ | |
„Besser. Viel besser.“ | |
„Da, Lev, dein Handy klingelt.“ | |
„Kein Bock.“ | |
„Bier?“ | |
„Hab noch.“ | |
„Ficken?“ | |
„Nur, wenn du das Tuch anbehältst.“ | |
Das Handy vibriert wieder. Derya nimmt es, kurz bevor es vor lauter | |
Vibrationsalarm von der Mauer fällt, und geht ran. | |
„Hallo, die heiße Helga am Apparat. Wie kann ich dich … Was? Oh!“ | |
„Was?“ Lev verzieht das Gesicht und streckt die Hand nach dem Telefon aus. | |
Derya gibt es ihm. | |
Lev spricht polnisch, wird laut, legt auf. | |
„Warum hat deine Mutter geweint?“ | |
Lev sieht sie nicht an, er blickt auf das Wasser. | |
Er nimmt sich noch ein Bier und steht auf. | |
„Den Kasten holt Günni später“, sagt er und taumelt mit der Flasche in | |
Richtung Ufer. | |
„Sag mal, was los ist!“ | |
„Meine Beine sind eingeschlafen.“ | |
„Lev! Alter!“ | |
„Was, wenn das hier alles ist?“ | |
„Du weißt, dass es nicht alles ist.“ | |
„Lass die Märchen, ich habe Feierabend.“ | |
Lev entfernt sich und sieht Derya nicht mehr grinsen. | |
„Ach ja, das Geschenk ist da!“, ruft er, ohne sich umzudrehen. | |
Jetzt grinst er auch. | |
28 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Gerasimos Bekas | |
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