# taz.de -- Journalist über Verschwörungstheorien: „Keine Kontrolle über d… | |
> Die Menschen im Nahen Osten brauchen mehr Freiheit und Verantwortung. | |
> Dann sind sie auch gegen krude Welterklärungen immun, sagt Rami Khouri. | |
Bild: Wer schießt hier im irakischen Tikrit eine Rakete auf wen? Und vor allem… | |
taz: Herr Khouri, im Nahen Osten sind eine Menge Verschwörungstheorien im | |
Umlauf. Welche sind die bemerkenswertesten? | |
Rami Khouri: Verschwörungstheorien im Nahen Osten machen meist fremde | |
Mächte für irgendwelche konkreten Ereignisse verantwortlich. Zurzeit hören | |
Sie sehr oft, die Israelis und die Amerikaner hätten den Islamischen Staat | |
(IS) gegründet. Eine andere Verschwörungstheorie lautet, der | |
US-Geheimdienst CIA und Israel steckten hinter den 9/11-Anschlägen. Die | |
Leute haben dafür natürlich keine Beweise. Das ist eher ein bisschen wie | |
politisches Entertainment. | |
Woher kommen solche Ideen? | |
Ich weiß ja nicht, wie viele Leute wirklich an diese Ideen glauben. Ich | |
höre es hin und wieder, dass Amerikaner, Israelis oder Europäer hinter | |
allem Möglichen stecken. Ich denke, der Hauptgrund ist, dass es in der | |
arabischen Welt keine Freiheit gibt – keine Redefreiheit, keine | |
Pressefreiheit, in den Nachrichten wird nicht die Wahrheit erzählt. Wenn | |
also etwas passiert, legen sich die Leute mithilfe von Fantasie ihre | |
eigenen Erklärungen zurecht, warum dies oder das passiert. Es gibt aber | |
auch eine zweite Ebene: In den vergangenen 100 Jahren haben die Araber | |
viele Niederlagen eingesteckt – gegen Israel oder die USA. Und oftmals | |
haben ausländische Mächte tatsächlich hinter Ereignissen gesteckt, die als | |
negativ empfunden wurden: Denken Sie nur daran, wie der CIA und der | |
britische MI6 im Jahr 1953 den beliebten iranischen Premierminister | |
Mohammad Mossadegh gestürzt haben. | |
Dennoch: Warum stehen bis heute immer die ausländischen Regierungen unter | |
Verdacht und nicht die eigenen Unterdrücker? | |
In ihrem Umfeld können die Menschen meist nicht ihr eigenes Land | |
kritisieren, weil sie das direkt ins Gefängnis oder in eine Folterkammer | |
bringt. Die Menschen sind in ihren eigenen Gesellschaften machtlos. Sie | |
dürfen politisch nicht mitreden, niemanden zur Verantwortung ziehen, sie | |
werden nicht korrekt informiert. Darum fühlen sie sich hilflos und den | |
Wünschen Fremder ausgesetzt. Ausländer, wie Amerikaner, Briten, Türken, | |
Iraner oder Israelis zu kritisieren, ist da einfach leichter. | |
Wie reagieren Sie als Hochschullehrer, wenn Ihnen solche Theorien begegnen? | |
Das Einzige, was man tun kann, ist zu sagen: Zeigen Sie mir den Beweis. Sie | |
glauben, Israel steckt hinter diesem oder jenem? Ich kann es nicht | |
ausschließen, aber beweisen Sie das erst einmal, bevor Sie es behaupten. | |
Das nur zu glauben, reicht nicht. | |
Wie reagieren Ihre Studenten auf diesen Hinweis? | |
Sie haben natürlich keine Beweise. Meist sagen sie dann: „Das weiß doch | |
jeder.“ So eine Antwort ist schlicht der Aufschrei einer schwachen, | |
unwissenden, verletzlichen und hilflosen Person, die keine Kontrolle über | |
ihr eigenes Schicksal hat. Dieser Zustand gibt ihnen die Möglichkeit zu | |
fantasieren. Er befreit sie übrigens gleichzeitig davon, die Verantwortung | |
für das übernehmen zu müssen, was in ihrer eigenen Gesellschaft geschieht. | |
Sie haben auch eine amerikanische Staatsbürgerschaft. Begegnen Ihnen in den | |
USA auch Verschwörungstheorien? | |
Ich bin sicher, dass es welche gibt. Überall auf der Welt denken sich | |
Menschen bizarre Gründe für Dinge aus, die sie nicht erklären können. Aber | |
in den USA sind mir bis jetzt keine begegnet. | |
In der Sozialpsychologie werden Verschwörungstheorien mit dem Zustand der | |
Paranoia in Verbindung gebracht. Ist die arabische Welt paranoid? | |
Alles, was ich sagen kann: Das Gefühl, Opfer von Verschwörungen zu sein, | |
kommt ja nicht aus dem Nichts. Es kommt von einem geschichtlichen Erbe, in | |
dem israelische oder amerikanische Regierungsorganisationen sich viel | |
gegenüber arabischen Ländern oder dem Iran herausgenommen haben. Das sind | |
Tatsachen. Die Verschwörungstheorien beruhen also zum Teil schon auf | |
Erfahrungen der vergangenen 60, 70 Jahre. | |
Können Sie ein paar Beispiele nennen? | |
Einiges ist im Lauf der Jahre vor allem auf Wunsch fremder Mächte | |
geschehen. Das beginnt schon mit der Gründung vieler arabischer Staaten auf | |
Basis des Sykes-Picot-Abkommens von 1916. Dann gibt es dokumentierte Fälle | |
von Einmischungen ausländischer Geheimdienste, wie beim bereits genannten | |
Sturz von Mossadegh, regelmäßigen Zahlungen an das jordanische Königshaus | |
oder auch den Sturz von Saddam Hussein und die Teilnahme am Krieg in | |
Libyen, um Gaddafi zu stürzen. Das sind ein paar Beispiele. | |
Nun gibt es ja nicht nur Verschwörungstheorien, sondern auch echte | |
Verschwörungen: Zum Beispiel die Watergate-Verschwörung der | |
Nixon-Regierung. Gibt es einfache Kriterien, das eine vom anderen zu | |
unterscheiden? | |
Die Frage ist immer: Gibt es Beweise oder nicht? Im Fall von Watergate | |
können wir nachweisen, dass hier ein Verbrechen vertuscht werden sollte. | |
Dieses Verbrechen wurde aufgedeckt, und die Fakten liegen auf dem Tisch. | |
Das ist der Prozess, anders geht es nicht. | |
Was müsste passieren, damit solche Verschwörungstheorien einer | |
aufgeklärteren und mehr an Fakten orientierten Sichtweise Platz machen? | |
Die Menschen müssten mehr Macht bekommen – und mehr Verantwortung. Hätten | |
sie mehr Macht, als Bürger eines demokratischen Landes, eines Rechtsstaats, | |
in dem sie erleben, dass sie einfach vor Gericht ziehen können und dort | |
auch Recht zugesprochen bekommen, wenn sie im Recht sind, wenn es außerdem | |
Mechanismen gäbe, mit denen auch Regierungen zur Verantwortung gezogen | |
werden können – wenn alle diese Dinge sich langsam ändern, und die Menschen | |
das Gefühl bekommen, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben, dann würden | |
diese Verschwörungsvorstellungen zurückgehen. Dann können die Menschen die | |
Dinge selbst in die Hand nehmen und wüssten auch, dass sie selbst dafür | |
verantwortlich sind. | |
Die Lösung wäre also, was die Avantgarde der Aktivisten im Arabischen | |
Frühling zu erreichen versucht hatte? | |
Ja. Die Selbstermächtigung wäre wohl der wichtigste Faktor. Wir haben ja – | |
wie schon beschrieben – eine Geschichte der Einmischung von ausländischen | |
Mächten. Das wäre danach wohl immer noch so. Aber das Gefühl der | |
Hilflosigkeit und Passivität würde verschwinden. Jetzt haben die Menschen | |
das Gefühl, hilflose Objekte zu sein. Wenn sie in ihren eigenen | |
Gesellschaften nicht mehr so machtlos wären, wäre schon mal die Hälfte des | |
Weges geschafft. | |
29 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Kreutzer | |
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