# taz.de -- 639 Jahre langes Orgelstück: Frieden zum Quadrat | |
> Im sachsen-anhaltischen Halberstadt wird ein Orgelstück von Komponist | |
> John Cage über 639 Jahre aufgeführt. Unsinn oder Friedensbotschaft? | |
Bild: Lange Töne: Stück von John Cage. | |
HALBERSTADT taz | Da sind ein paar Leute ausgezogen, um einem schon | |
verstorbenen Komponisten ein Werk zu entlocken, das er sich zu Lebzeiten | |
gar nicht so ausgedacht hat. Das Werk heißt „As Slow As Possible“, und John | |
Cage hatte es zunächst als Klavierstück vorgelegt. Aber er wäre nicht Cage, | |
wenn er das Stück nicht auch für Deutung offengelassen hätte. | |
Der Titel ist gleichzeitig eine Tempoangabe, er regt dazu an, so langsam zu | |
spielen, dass jeder Akkord des Werks erst vollständig verklingen muss, | |
bevor der nächste Klang angeschlagen werden darf. So beträgt die | |
Aufführungsdauer des achtteiligen Stücks unter Berücksichtigung aller | |
Wiederholungen etwas mehr als eine Stunde. | |
Dem Organisten Gerd Zacher widmete Cage dann eine zweite Version für | |
Kirchenorgel mit dem Namen „Organ(2)“. Zacher brauchte etwas über 29 | |
Minuten für die Aufführung. Der Haken: Die Tempoangabe konnte nicht | |
eingehalten werden. Sie hätte aber auch nicht eingehalten werden können, | |
wenn Zacher um ein Vielfaches langsamer gespielt hätte. | |
Denn wann ist ein Orgelton endgültig verklungen? Entweder wenn die Taste | |
schnell wieder losgelassen wird, was der Tempoangabe widerspricht, oder | |
aber wenn das Instrument kaputtgeht oder sonst irgendwie die Luftzufuhr | |
unterbrochen wird durch Panne, Krieg, Weltuntergang. Eine Lösung wäre auch | |
gewesen, jemanden damit zu beauftragen, den Rest seines Lebens damit zu | |
verbringen, einen Klang zu spielen, bis – nein, das ist keine Lösung. Wie | |
man es auch drehen mag, es geht jedes Mal um ein ganzes Leben, was also | |
tun? | |
Da eine unbegrenzte Aufführungsdauer nicht sinnvoll erschien, nahm im Jahr | |
1997 ein Kuratorium als Referenzmaß 639 Jahre an, nämlich den Zeitabstand | |
vom Bau der ersten Großorgel der Welt von 1361 bis zum Jahr 2000. An John | |
Cages 88. Geburtstag, dem 5. September 2000, wollte man beginnen. Durch | |
diesen Beschluss soll das Ende der Aufführung im Jahr 2639 erfolgen. Auf | |
diese Weise hatte man der Ewigkeit ein nettes Stück abgetrotzt, ohne sich | |
gleich mit ihr anzulegen. Als Spielstätte dient das sachsen-anhaltische | |
Halberstadt, denn dort war auch jene erste Großorgel errichtet worden. | |
## Das Stück beginnt mit einer Pause | |
Man begann wegen Geldmangels mit einem Jahr Verspätung, etwas zu hören gab | |
es dann übrigens erst 2003, da das Stück mit einer Pause anfängt. Man hatte | |
also auch noch genug Zeit, um die benötigte Orgel zu bauen. | |
Es dauert zumeist Jahre, bis es einen Klangwechsel gibt. Der wird dann | |
unter großem Andrang gefeiert, das letzte Mal am 5. Oktober 2013, ein Event | |
für Halberstadt. | |
Das Projekt spaltet die Cage-Gemeinde in zwei Lager: solche, die das | |
Projekt für Unsinn erklären, unter ihnen der Erstinterpret Gerd Zacher. Sie | |
behaupten, man müsse ein Musikstück von Anfang bis Ende erleben, es ganz | |
hören dürfen; das erscheint nicht ganz abwegig. | |
Die Befürworter dagegen sagen, dass Cage derjenige war, der radikal und | |
sanft zugleich mit allen musikalischen Konventionen brechen konnte, dessen | |
Lächeln aber stets bezeugte, dass er es gut meinte mit der Musik und mit | |
seinem Publikum. | |
## Pakt mit 25 Generationen | |
Die Konsequenz einer solchen Aufführung: Man schließt einen Pakt mit | |
schätzungsweise 25 Generationen, die noch nicht einmal geboren sind – | |
unsinnig? Nein. Einen solchen Vertrag mit Ungeborenen macht man ja | |
schließlich auch durch die Errichtung eines Bauwerks, ungünstigstenfalls | |
eines Kernkraftwerks. | |
Diese 25 Generationen, die es braucht, um „Organ(2)“ aufführbar zu machen, | |
müssen zunächst gezeugt und zur Welt gebracht werden, in hoffentlich vielen | |
Fällen ein Glück bringendes Vorhaben. Dafür muss man schon 639 Jahre | |
Frieden halten, dann kann ein Super-GAU für das Konzert nicht eintreten. | |
Eine faszinierende Friedensbotschaft. | |
Für Halberstadt hat diese Zeit des Glücks bereits begonnen: Die | |
Besucherzahlen sind pro Jahr um 10.000 gestiegen, ein wachsender | |
Wirtschaftsfaktor. Das Konzert ist übrigens nur das eine: In der | |
Aufführungsstätte, der St. Burchardi-Kirche, einem früheren | |
Zisterzienserkloster, können Fans Devotionalien erwerben oder sich selbst | |
ein Denkmal setzen: Für eine Spende ab 1.000 Euro kann man ein Klangjahr | |
erwerben, was durch ein Namensschild auf einer Zeitreihe im Gebäude | |
dokumentiert wird. Es hängen schon viele dieser Schilder. Wem 1.000 Euro zu | |
teuer sind, der kann Souvenirs wie T-Shirts oder CDs kaufen. | |
Übrigens: Die Hälfte der Halberstädter Bevölkerung weiß, wer John Cage ist. | |
Von der Bewohnerschaft in anderen deutschen Städten kann man das wohl nicht | |
sagen. | |
21 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Michael Hoeldke | |
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