# taz.de -- Digitales Lernen in Polen: Schulbücher ersetzen! | |
> Die polnische Regierung verteilt eine kostenlose Schulfibel und | |
> massenhaft Computer. Die Schulbuchverlage befürchten Umsatzeinbrüche. | |
Bild: Stapelweise Schulbücher? Damit ist es in Polen bald vorbei. | |
WARSCHAU taz | Polens Schüler gehen online – von der ersten Klasse bis zum | |
Abitur. Knapp fünf Millionen Schüler der staatlichen Schulen sollen ab dem | |
1. September an Computern lernen. | |
Die Europäische Union stellt für das polnische Projekt „Digitale Schule“ | |
eine Milliarde Euro zur Verfügung. Geld, welches Polens liberalkonservative | |
Regierung in Tablets und Computer investiert, in die Entwicklung von | |
digitalen Büchern und die Fortbildung von Lehrern. | |
Noch laufen die Pilotprojekte an rund 400 Schulen und Tausende Lehrer | |
klicken sich durch die neue virtuelle Schulwelt. Doch der Start für die | |
Revolution rückt näher. Kurz vor den polnischen Parlamentswahlen im Herbst | |
soll die „digitale Schule“ fertig sein. | |
## Opposition erwartet gewaltigen Flop | |
Dass sich die Faszination des Neuen und die kostenlos an Familien | |
verteilten Tablets positiv auf das Wahlergebnis der regierenden | |
Bürgerplattform auswirken könnten, hat die Opposition im Land allerdings | |
noch nicht bemerkt. Ihre Kritik richtet sich bislang auf das angebliche | |
Chaos in der Vorbereitung des ambitionierten Projekts, auf die | |
unzureichende Schulung der Lehrer und die angebliche Verschwendung von | |
EU-Zuschüssen für einen zu erwartenden Flop. | |
Beinahe sprachlos steht die Opposition vor dem parallel laufenden Projekt | |
des polnischen Bildungsministeriums, in Polen wieder die Lehrmittelfreiheit | |
einzuführen, also Schulbücher kostenlos an die Schüler und Schülerinnen | |
auszuleihen. | |
Auf den ersten Blick sieht auch alles ganz wunderbar aus. Bereits in diesem | |
Schuljahr bekamen die rund 500.000 Erstklässler in ganz Polen „Unsere | |
Fibel“ kostenlos ausgehändigt. Das sind vier zu einem Buch zusammengefasste | |
Hefte, die alle Fächer von Sachkunde über Mathematik bis Lesen vereinen. | |
Schüler der Klassen eins bis acht sollen künftig nach diesem Standardwerk | |
lernen. Sie bekommen das für ihre Klassenstufe gültige Einheitsschulbuch | |
leihweise und umsonst von den Schulen oder können es für 20 Zloty – | |
umgerechnet 5 Euro – kaufen. | |
Bisher mussten die Eltern das Zehnfache für die sogenannte Box bezahlen, | |
die mit 20 Lern- und Lehrheften, zwei Mappen mit Bastelmaterial sowie DVDs | |
mit Computeranimationen und Hörspielen bestückt war. Kaum ein Lehrer nutzte | |
das gesamte Angebot, so dass sich viele Eltern über das „zu viel gezahlte | |
Geld“ ärgerten. | |
Die von der Regierung vorgeschriebene Fibel kommt mit deutlich weniger | |
Heften aus und ist praktisch umsonst. Lediglich die Bücher für die | |
Fremdsprachen können Lehrer und Eltern weiterhin frei auf dem Markt | |
auswählen. | |
Mit umgerechnet 250 Millionen Euro Umsatz im Jahr stand der Schulbuchmarkt | |
in Polen bislang an zweiter Stelle hinter dem Markt für Fachbücher und | |
wissenschaftliche Werke und vor der Belletristik. Kein Wunder, dass die | |
schärfste Kritik am kostenlosen Einheitsschulbuch für alle Kinder von den | |
Schulbuchverlagen kommt. Sie befürchten gewaltige Umsatzeinbrüche. | |
## Schulbuchverleger sind verbittert | |
In seiner Studie „Die Regierung verstaatlicht den Schulbuchmarkt“ | |
prognostizierte das Warsaw Enterprise Institute bereits 2014 das Schrumpfen | |
des polnischen Buchmarkts um rund ein Drittel. Neben kleineren Verlagen | |
würden wohl auch etliche Buchläden in Konkurs gehen, da viele Eltern, die | |
beim Kauf der Schulbücher für die Kinder oft auch einen Roman oder einen | |
Krimi für sich selbst erstanden, dies in Zukunft nicht mehr tun würden. | |
„Natürlich sind wir verbittert“, sagt Jerzy Garlicki, der Chef des | |
traditionsreichen Schulbuchverlags WSiP. „Wir haben sehr viel in die | |
Entwicklung der Schulbücher investiert, gerade auch in diejenigen für die | |
Kleinsten.“ Ohne eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung und dem | |
Bildungsministerium könne kein Schulbuchverlag existieren. „Wir haben die | |
sich ständig ändernden Curricula umgesetzt, immer wieder unsere Bücher | |
überarbeitet. Plötzlich sagt das Ministerium: ’Jetzt geben wir selbst ein | |
Schulbuch raus‘, und lässt dieses an allen staatlichen Schulen verteilen.“ | |
Vor zwei Jahren noch erhielt die WSiP-Box „Tropiciele“, übersetzt: „Die | |
Spürnasen“, einen Preis für das beste europäische Schulbuch für Kinder im | |
Alter von 6 bis 9 Jahren. Garlicki zuckt mit den Schultern: „Statt den | |
polnischen Kindern das Beste vom Besten in Europa zu offerieren, | |
entwickelte das Bildungsministerium während des laufenden Schuljahrs eine | |
eigene Schulbuchbilligvariante mit gerade mal vier Heften – ohne Übungen, | |
Bastelmaterial und CD-Roms.“ | |
In dem neuen Schulbuch gibt es stattdessen nur noch Links ins Internet. So | |
will Polens Regierung schon die Grundschüler ans digitale Lernen | |
heranführen. | |
## Alle Oberstufenbücher online | |
In der Oberstufe, ab Klasse 9, sollen die Schüler dann irgendwann gar kein | |
Buch aus Pappe und Papier mehr in die Hand nehmen. Derzeit werden 64 | |
Schulbücher für die Oberstufe digitalisiert. Ab 1. September stehen sie im | |
Netz und können heruntergeladen werden. Ob die Lehrer sie benutzen, bleibt | |
ihnen überlassen. Die Regierung plant aber, dass die papiernen Schulbücher | |
irgendwann ausgemustert werden. | |
Nach dem ersten Schock über das kostenlose Schulbuch und die digitale | |
Schule haben sich nun auch Polens Schulbuchverlage auf eine Doppelstrategie | |
verlegt. Sie bieten mehr und mehr digitale Schulbücher an, außerdem Übungen | |
und Lernspiele im Internet. Auch die klassischen Schulbücher auf Papier | |
sind noch im Programm, allerdings oft mit zusätzlichen Übungen und Tests im | |
Internet. Auch die polnischen Schulbuchverlage handeln offenbar nach der | |
Devise: „Polak potrafi!“ – Ein Pole schafft das!“ | |
Dass es überhaupt noch eine Papierversion des Schulbuchs gibt, obwohl doch | |
schon nach den Sommerferien alle polnischen Kinder in einer „digitalen | |
Klasse“ lernen sollen, dürfte mit dem Stand der Technik zusammenhängen. | |
Selbst in der Hauptstadt Warschau bricht das Internet immer wieder | |
zusammen, wenn es regnet oder die Leitungen überlastet sind. Bis es wieder | |
funktioniert, dauert es oft zwei bis drei Tage, manchmal auch eine ganze | |
Woche. Das „interaktive Lernen“ am Computer muss dann aufgeschoben und das | |
gute alte Schulbuch wieder aus dem Ranzen gezogen werden. | |
22 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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