# taz.de -- Gut Ding will Eile haben | |
> Das niedersächsische Ausstellungsprojekt „Tempo. Tempo! Tempo?“ widmet | |
> sich an drei Orten Aspekten des Themas Geschwindigkeit. Nicht überall | |
> gelingt die kritische Distanz | |
Bild: Flugzeug mit Knall: In Einbeck ist man stolz, den Starfighter präsentier… | |
Von Jens Fischer | |
Zwar tickt Zeit in Einsteins Relativitätstheorie und im alltäglichen Gefühl | |
mal schneller und mal langsamer. Aber im realen Leben läuft sie nur stoisch | |
im Gleichmaß der nie erreichten Zukunft entgegen. Deshalb muss der Mensch | |
sich selbst aufrüsten, wenn er nach Beschleunigung strebt. Und hat dabei in | |
den letzten Jahrhunderten ordentlich Fahrt aufgenommen: Gehen, segeln, | |
reiten, mit Dampfantrieb und Elektrizität fahrend voranbrausen, mit | |
Verbrennungsmotoren auch fliegen – an diesem Rausch der Schnelligkeit | |
scheiterten bisher alle Bremsmanöver der bedächtigeren Wesen. Der | |
französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio – er regte die | |
Gründung der Dromologie als eine eigene Disziplin an – prognostizierte, die | |
allumfassende Beschleunigung würde in rasenden Stillstand übergehen. Den | |
erleben wir heute als Verlust von Zeit und Raum zugunsten digitaler | |
Allgegenwärtigkeit. | |
Kritisch beleuchten will das die Ausstellung „Tempo. Tempo! Tempo?“, für | |
die sich drei niedersächsische Kulturinstitutionen zusammengeschlossen | |
haben. Im „PS.Speicher“, einem historischen Lagerhaus in Einbeck, Landkreis | |
Northeim, werden neben 400 zwei-, drei-, vierrädrigen Oldtimern als | |
Dauerexponate einige technische Aspekte der Geschwindigkeitsevolution | |
fokussiert. Im idyllischen Schloss Derneburg, Landkreis Hildesheim, hat von | |
den 1970er-Jahren bis 2006 der Maler Georg Baselitz gelebt. Dann verkaufte | |
er das Anwesen an den Hedgefonds-Manager Andrew Hall. Dessen Stiftung | |
stellt dort nun zeitgenössische Kunst aus, momentan unter anderem 60 Werke | |
zur Temposucht und -faszination. | |
Das Landesmuseum Hannover schließlich liefert die wissenschaftliche Basis, | |
soziale und ökonomische Aspekte sowie das populärphilosophische Raunen zum | |
Thema. Ein Nachbau des Newton’schen Apfels verweist auf die | |
Beschleunigungskraft jeder Materie im Gravitationsfeld der Erde. | |
Meteoritengestein symbolisiert kosmische Raserei, ist es doch mit 1 Million | |
Stundenkilometern (km/h) auf unseren Planeten geknallt. Eine Schabe liegt | |
tot hinter Glas, damit etwas zur Relativität des Tempos mitgeteilt werden | |
kann: 50 km/h Fluggeschwindigkeit erreicht sie, von ihren vier Zentimetern | |
Körperlänge aus hochgerechnet auf die 1,80-Meter-Perspektive des | |
Betrachters würde das 300 km/h bedeuten. Es gibt schier endlos weitere | |
solcher Angaben mit Wow!-Effekt. Eine Ente ist uns mit ihrer | |
Watschelgemütlichkeit bekannt. Im Museum steht neben einem ausgestopften | |
Exemplar zu lesen, dass sie 100 km/h schnell fliegen könne. Ein Chamäleon | |
schleudere seine Zunge mit 100 km/h den frisch vom Blatt geleckten | |
Lebensmitteln entgegen. Eine Population von Kolibakterien verdoppele sich | |
binnen 20 Minuten. Ein Riesenbambus wachse 70 Zentimeter pro Tag. Auf zu | |
den gemalten Naturgewalten – angewehte Windmühlen und von Sturmrasanz | |
zerzaustes Meer. Ein anderes Bild zeigt den in aller Ruhe gewachsenen | |
Schweizer Rosenlaui-Gletscher im Jahr 1853, ein Foto porträtiert ihn in | |
seiner rasant dahinschmelzenden Abmagerungskur 2014. | |
Das Konzept der Ausstellung ist schlicht: Zu jedem der verwirrend vielen | |
Aspekte des beschleunigten Lebens wird etwas aus der Kunst-, Archäologie-, | |
Münz-, Ethnologie- oder naturhistorischen Sammlung geholt und mit einem | |
Erklärtext verbunden. Nach Tieren, Pflanzen und unbelebter Natur wird | |
schließlich die Hauptthese der Schau präsentiert. | |
Alle Lebewesen haben sich evolutionär die optimale | |
Überlebensgeschwindigkeit zugelegt, sind entweder Sprinter oder | |
Ausdauerläufer, nur der immer noch so schlecht wie im Neolithikum | |
angepasste Mensch müsse mit Schlauheit sein Fluchttempo vor Fressfeinden | |
und Eroberungstempo immer neuer Lebensräume erhöhen. Gut verständlich und | |
sachlich-seriös ist das in aller Betulichkeit aufbereitet und in einem sehr | |
dunklen Raum inszeniert. Allerdings mit klarer Dramaturgie: Am Ende des | |
Rundgangs wird zum Träumen eingeladen vom Leben fernab frivoler | |
Geschwindigkeit der Moderne. Liegestühle sind zum Entschleunigen und ein | |
Koala als Vorbild aufgestellt, schläft er doch bis zu 20 Stunden am Tag. | |
Gegenüber hängt Max Liebermanns „Biergarten“ (1915), um den Wunsch nach | |
einem humaneren Zeitsinn zu wecken. | |
Die Ausstellung in Einbeck ist heller, bunter, offener, moderner, kompakter | |
– und ergibt sich mit ihren km/h-Angaben fast unkritisch der | |
Schneller-höher-weiter-Leidenschaft. Die „Evolution of Speed“ beginnt im | |
„PS-Speicher“ zwar noch mit einer Holzdraisine, 15 km/h, gefolgt von einer | |
100 Jahre alten Lok, 25 km/h. | |
Aber wenige Meter weiter können Autoposer schon einen Bugatti Veyron 16.4 | |
Super Sport streicheln, 431 km/h, präsentiert mit Metal-Musik wie auf der | |
Automobilmesse. Auch ein Starfighter steht in voller Größe herum, 2.259 | |
km/h. Besucher:innen dürfen zudem Motorrädern, der Innovationsleiche VW | |
Nardo sowie klassischen Rennwagen und Fetischen der Drag-Racing-Szene in | |
die glänzenden Eingeweide schauen. | |
Thematisiert wird, wie der Mensch mit seinem Cyborgisierungswillen im Kokon | |
der Tempomaschinen ein symbiotischer Teil von ihnen wird. Und dass es dabei | |
vor allem um einen Superheldenkick geht. Also um die Macht über Maschinen, | |
bei denen mit kleinsten Bewegungen von Fuß oder Hand Kräfte freizusetzen | |
sind, die die Leistung des eigenen Körpers um das Tausendfache | |
übersteigern. Was schnell mal mit persönlicher Freiheit verwechselt wird. | |
Dass der Beschleunigungsimperativ für Natur und Menschenleben wenig | |
erquicklich, Tempolimit das Gebot der Stunde ist, ist nur nebenbei erwähnt, | |
denn der „technische Fortschritt mit automatisierten Fahrassistenzsystemen“ | |
werde das Problem schon einhegen. Das ging 1894 in die deutschen | |
Polizeiannalen ein. Damals wurde ein Fahrer verwarnt, weil er „durch Dörfer | |
und Städte viel zu rasch gefahren war“. Maximal zugelassen waren in | |
Ortschaften 6 km/h. Ein entsprechender Strafzettel ist als Putzigkeit von | |
vorvorgestern ausgestellt. | |
Dabei wäre auch das ein prima Ausgangspunkt, den heiligen | |
Schnelligkeitskult mal grundsätzlich zu betrachten. Ob der Mensch in eine | |
glorreiche Zukunft rast? Oder ist die Flucht in Geschwindigkeitsrekorde ein | |
Versuch, sich aus der Zeit zu katapultieren, die uns unausweichlich zum | |
Tode führt? | |
Landesmuseum, Willy-Brandt-Allee 5, Hannover, täglich außer montags, 10–18 | |
Uhr | |
PS.Speicher, Tiedexer Tor 3, Einbeck, Di–Fr, 11–17 Uhr, Sa und So, 10–18 | |
Uhr | |
Kunstmuseum Schloss Derneburg, Sa und So, 11–17 Uhr Jeweils bis 4. 2. 24 | |
24 Nov 2023 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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