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# taz.de -- Tod einer Stadt
> San Francisco verkommt zum Experimentierfeld der Techmilliardäre aus dem
> Silicon Valley
Bild: Lucas Oertel, Rakete, 2020, Holz, Tempera, 120 × 370 × 4 cm
von Rebecca Solnit
Ein Auto ohne Fahrer ist ein unheimlicher Anblick – aus der Perspektive als
Fußgängerin, aber noch viel mehr, wenn ich in San Francisco mit dem Fahrrad
unterwegs bin. Radle ich eine Weile neben einem solchen Gefährt, kann ich
vom Sattel aus das schaurige Spektakel eines Lenkrads beobachten, das sich
wie von Geisterhand dreht.
Diese Autos gondeln durch San Francisco, obwohl die lokalen Behörden
dagegen sind und die Stadt sogar den Staat Kalifornien verklagt hat, weil
er Firmen gestattet, Straßen als Teststrecken zu nutzen. Regelmäßig
berichten Feuerwehrleute, dass fahrerlose Autos versuchen auf
Löschschläuchen zu parken. Und vergangenen Juni hat ein selbstfahrendes
Auto verhindert, dass die Rettungswagen zu den Verletzten einer Schießerei
durchkamen.
Im Oktober wurde ein Unfallopfer, das nach der Karambolage mit einem
normalen Auto noch auf der Straße lag, von einem fahrerlosen Wagen der
General-Motors-Tochter Cruise erfasst. Die Frau wurde sechs Meter weit
mitgeschleift. Das Fahrzeug konnte nicht erkennen, dass ein Mensch unter
ihm lag. Um die Frau zu befreien, mussten die Rettungskräfte das Auto
anheben. Nach diesem Unfall hat Cruise seine 950 selbstfahrenden Autos aus
dem Verkehr gezogen. Waymo, ein Ableger des Google-Mutterkonzerns Alphabet,
schickt seine Fahrzeuge weiterhin auf die Straße.
Fahrerlose Autos werden häufig auch „autonom“ genannt – aber Autofahren …
keine autonome, sondern eine kooperative Tätigkeit. Wer am Steuer sitzt,
muss mit anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Ich zum Beispiel mache,
egal ob zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto, Handzeichen und achte auf die
Signale der anderen. Am Flughafen von San Francisco gibt es Schilder, die
dazu auffordern, vor dem Überqueren der Straße mit den
Autofahrer:innen in Blickkontakt zu treten. Doch in einem
selbstfahrenden Auto sitzt niemand, mit dem ich in Blickkontakt treten
könnte.
Wenn es um den Nutzen von selbstfahrenden Autos geht, führen die Betreiber
gern ins Feld, dass menschliches Versagen eliminiert werde. Außerdem
ermögliche es Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sich ohne fremde
Hilfe fortzubewegen. Ehrlicher wäre es zu sagen, dass sie die Kosten für
den Fahrer sparen. Seit der Einführung der „Spinning Jenny“ diente jede Art
von Automatisierung als Mittel der Profitmaximierung. Nur aus diesem Grund
gibt es das Self-Check-in-System am Flughafen, Selbstbedienungskassen im
Supermarkt und Drugstores, intelligente Kameras auf mautpflichtigen Straßen
oder Sprachautomaten in Service-Hotlines.
Mit dem Ergebnis, dass es heute sehr viel weniger alltägliche Gelegenheiten
für persönliche Kontakte gibt. In den USA und anderswo leiden die Menschen
unter pandemischer Einsamkeit und Isolation. Vivek Murthy, der Leiter des
öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA (Surgeon General of the United
States), spricht von einer regelrechten Krise, deren Ursachen mit dem
Internet, Smartphones und sozialen Medien zu tun haben.
Gesundheitsgefährdend seien beispielsweise Technologien, „die Kontakte von
Person zu Person ersetzen, unsere Aufmerksamkeit monopolisieren, die
Qualität unserer Interaktionen beeinträchtigen und sogar unser
Selbstvertrauen schwächen“.
Die Coronapandemie hat die Tendenz zur Vereinsamung verschlimmert, aber
manche Technologien haben vorher schon viele Anlässe, sich zu treffen,
hinfällig gemacht. Nicht selten werden echte menschliche Begegnungen von
der Techindustrie sogar als gefährlich, ineffektiv, unerfreulich oder
lästig dargestellt – als ginge es uns immer nur darum, so produktiv wie
möglich zu sein. Und deshalb müssen auch alle Faktoren, die die
Produktivität hemmen könnten, beseitigt werden. Auf dieser Klaviatur
spielten viele der neuen Unternehmen, die in den 1990er Jahren erstmals ins
Onlineshopping und andere Geschäfte mit digitalen Dienstleistungen
eingestiegen sind.
Diese Entwicklung hat sowohl die Stadtlandschaften als auch die menschliche
Psyche verändert. Die American Booksellers Association hat ermittelt, dass
allein 2021 in den USA 136 000 unabhängige Buchhandlungen mit einer
Verkaufsfläche von insgesamt 1,1 Milliarden Quadratmetern aufgeben mussten
– wegen Umsatzeinbußen zugunsten von Amazon. Viele Arbeitsplätze sind
dadurch verloren gegangen, aber auch Beziehungen zu Menschen und Orten.
Im Internet mag ein Buch vielleicht billiger oder die Auswahl an
Briefumschlägen größer sein, aber in einem Geschäft kann man eine Beziehung
zum Inhaber entwickeln, mit anderen Kund:innen ins Gespräch kommen,
zufällig einen Freund oder eine Nachbarin treffen. Der zwischenmenschliche
Austausch ist eine nichtwarenförmige Leistung, die zusätzlich zu den Waren
angeboten wird.
In ihrem urbanistischen Manifest „The Death and Life of Great American
Cities“ (1961) schrieb die Architekturkritikerin Jane Jacobs über die
„Augen auf den Straßen“: Fußgänger und Flaneure sorgen nicht nur dafür,
dass der öffentliche Raum sicher bleibt, sondern auch einladend und
gesellig. Heutzutage habe ich das Empfinden, dass sich in meiner Stadt so
etwas wie ein „großer Rückzug“ vollzieht: Die Menschen haben ihre Augen
nicht mehr auf der Straße, sondern anderswo – meist auf ihren Smartphones.
Geschieht vor ihren Augen ein Verbrechen, filmen sie es womöglich – oder
sie kriegen es gar nicht mit. Viele schrecken zurück, wenn eine fremde
Person sie anspricht, oder tun so, als hätte die Kontaktaufnahme gar nicht
stattgefunden. Ich selber vermeide inzwischen jene kleinen Interaktionen,
die in New Orleans – und auch in New York – freundlich erwidert werden.
Ich bin 1980 nach San Francisco gezogen, als die Straßen und Bars voller
Leben waren, es aber jenseits von Little Italy im Viertel North Beach nur
wenige Cafés gab. Die entstanden erst in den beiden folgenden Jahrzehnten.
In die Cafés ging man zum Abhängen, um ein Buch zu lesen, mit
Zufallsbekanntschaften zu plaudern oder auch einfach nur, um das Leben zu
beobachten. Seit der Jahrtausendwende sah man in Cafés nur noch überwiegend
junge, weiße Gäste stumm auf ihre Apple-Geräte starren, als säßen sie in
einem Großraumbüro. Doch selbst diese Phase scheint gerade an ihre Ende zu
kommen.
Denn die nächste Phase hat bereits begonnen – in der man den Gästen
austreiben will, längere Zeit im Café zu verweilen. Im April 2023
publizierte die Gastronomiezeitschrift Eater eine Story unter der
Überschrift „2023 wollen die Cafés von San Francisco dich ums Verrecken
loswerden.“ Die Betreiber räumen Tische und Stühle weg und setzen
ausschließlich auf Take Away – auch weil sie nicht mehr wollen, dass ihre
Räume als kostenlose Büros zweckentfremdet werden.
Kulturelle, soziale und religiöse Begegnungsstätten mussten schließen oder
umziehen. Filmfestivals haben die Stadt verlassen, Theater, Galerien und
Secondhand-Läden haben zugemacht. Traditionsgeschäfte konnten die Miete
nicht mehr zahlen, darunter die erste von Schwarzen betriebene Buchhandlung
der USA. Und all das, während die Vermögenskonzentration in beispiellosem
Tempo zunimmt.
Obwohl San Francisco Ende der 1990er Jahre das Epizentrum des Dotcom-Booms
war (bis die Blase im März 2000 platzte), war das Silicon Valley bis Anfang
der 2010er Jahre eher mit der Stadt San José assoziiert, die am Südende der
San Francisco Bay liegt. Doch als Facebook, Google und Apple 2012 begannen,
luxuriöse Shuttlebusse einzusetzen, um ihren Angestellten den täglichen
Stau zu ersparen, zogen sehr viele von ihnen nach San
Francisco.[1]Mittlerweile ist die Stadt vollständig vom Valley annektiert.
Die Angestellten der Techbranche wollen an einem dynamischen, vielseitigen
Ort leben, doch ihre Produkte schaffen das Gegenteil davon. Viele von ihnen
halten sich für Außenseiter, gar als Teil einer Gegenkultur, doch sie
verdingen sich bei Konzernen, die längst Kultur, Politik und Wirtschaft
beherrschen. Dass Apple in einer Garage irgendwo bei San José gegründet
wurde, ändert nichts daran, dass das Unternehmen mit einem Börsenwert von 3
Billionen US-Dollar heute das wertvollste Unternehmen der Welt ist.
In den vergangenen Jahrzehnten hat San Francisco eine ganze Reihe lokaler
und nationaler Wirtschaftskrisen überlebt. Doch was sich aktuell abspielt,
kann man nur als „Doom Loop“, als einen unabwendbaren Teufelskreis,
beschreiben. Die Coronapandemie hat ganze Büroetagen leergefegt und viele
Geschäfte in den Ruin getrieben. Das hat zum Teil mit den Entlassungen im
Techsektor zu tun, aber auch damit, dass viele Angestellte mittlerweile
komplett von zu Hause arbeiten und die Region verlassen haben.
Mehr noch als der Bevölkerungsrückgang und die Verödung der Innenstadt hat
allerdings der reduzierte zwischenmenschliche Kontakt die Stimmung in der
Stadt verändert. San Francisco ist nach wie vor das urbane Zentrum der Bay
Area, doch die Art, wie die Menschen hier leben, wirkt zunehmend suburban:
Fremden geht man möglichst aus dem Weg, Überraschungen werden gemieden.
In den Medien wird San Francisco in den letzten Jahren oft als Sündenpfuhl
oder Brutstätte des Verbrechens bezeichnet, was wiederum beweisen soll,
dass die progressive Kommunalpolitik gescheitert ist. Vor allem rechte
Medien verbreiten ständig Storys über Kriminalität, Obdachlosigkeit und die
Opioidkrise (die seit Jahren und beileibe nicht nur hier grassiert, mit
vielen Opfern aus der weißen Mittelschicht[2]). Mit solchen Narrativen
pflegen konservative Kreise – darunter viele Techbosse – ihre Forderung
nach einem „War on Crime“ wie in den 1980er und 1990er Jahre zu begründen:
mehr Polizisten, härtere Strafen und die Beschneidung von Grundrechten.
In Wirklichkeit liegt die Zahl der Gewaltverbrechen in San Francisco
niedriger als in vielen anderen US-Städten. Selbst Delikte wie Autos
knacken oder Ladendiebstahl werden als alarmierende Anzeichen für einen
drohenden gesellschaftlichen Kollaps angeführt. Großes Aufsehen erregte im
Juni 2021 ein Video, in dem ein junger, Schwarzer Mann in einer Drogerie
einen Müllsack mit Waren vollstopft und auf einem Fahrrad abhaut. Mehrere
Einzelhandelsketten begründeten die Schließung ihrer Filialen im
Stadtzentrum mit der Diebstahlquote. Doch dann stellte sich heraus, dass
der eigentliche Grund zu geringe Einnahmen und andere geschäftliche
Probleme waren.
Dennoch hat sich die Vorstellung, dass San Francisco in der Gesetzlosigkeit
versinkt, in den Köpfen festgesetzt. Das zeigt sich exemplarisch an dem
viel diskutierten „Fall Bob Lee“. In den Morgenstunden des 4. April 2023
wurde der bekannte Techmanager – der für Google und zuletzt für das
Krypto-Start-up MobileCoin gearbeitet hatte – erstochen aufgefunden. Sehr
schnell kam die Behauptung auf, Lees Ermordung sei Teil einer
Verbrechensserie, die enthemmten Tätern aus der Unterschicht zugeschrieben
wurde.
So behauptete Elon Musk auf Twitter, trotz der „schrecklichen
Gewaltverbrechen in SF“ würde man die Täter nach ihrer Festnahme „häufig
sofort wieder freilassen“. Und der Risikokapital-Investor Matt Ocko wütete
gegen den früheren Bezirksstaatsanwalt von San Francisco: Diesem „Chesa
Boudin und dem verbrecherfreundlichen Stadtrat, der jahrelang ein
gesetzloses SF hingenommen hat, klebt buchstäblich das Blut von Bob an den
Händen.“
Kurz darauf wurde allerdings ein Mann namens Nima Momeni des Mordes
angeklagt. Momeni ist ebenfalls Techunternehmer und hatte den Abend mit
seinem Kollegen verbracht. Lee starb mit Kokain und Ketamin im Blut; auch
der mutmaßliche Mörder und seine Schwester sollen zur Tatzeit auf Drogen
gewesen sein. Zumindest ein Teil dieser Drogen hatte offenbar ein Freund
und Ex-Kollege von Lee namens Jeremy Boivin beschafft, der bereits 2021 mit
jeweils einem Kilo Kokain und Crystal Meth verhaftet worden war. 2020 war
er angeklagt, seine Haushälterin mit der „Vergewaltigungsdroge“ GHB sediert
und anschließend missbraucht zu haben.
Chesa Boudin, der Staatsanwalt im Fall Boivin, stellte fest, dass in den
konservativen Kreisen von San Francisco die Ansicht vorherrsche, dass nur
Arme Drogen nehmen. Tatsächlich sind Drogen gerade in der Techindustrie
weit verbreitet. Offenbar auch beim mutmaßlichen Lee-Mörder; nach Aussagen
eines Freundes hatte Nima Momeni ein Kokainproblem, „wie es in
Managerkreisen der Bay Area normal ist“. Momenis Verteidiger dagegen lenkte
den Verdacht auf einen obdachlosen Mann, der in der Nähe des Tatorts
geschlafen hatte. Dabei hatte man Momenis DNA am Griff des Küchenmessers
gefunden, mit dem Lee ermordet worden war. Das Messer passt zu einem Set
aus der Küche von Momenis Schwester, die Lee und Momeni in ihrem
Luxusapartment im Millennium Tower an jenem Abend besucht haben.
Eine Überwachungskamera hat aufgezeichnet, wie die beiden den Tower
verlassen und in Momenis BMW steigen; eine weitere filmte, wie sie ein paar
Straßen weiter wieder ausgestiegen sind und Momeni kurz darauf allein
zurückkommt und wegfährt. Lee taumelt ins Blickfeld einer anderen Kamera.
Er schafft es, den Notruf zu wählen. Das Rettungsteam findet ihn blutend
und bewusstlos auf dem Bürgersteig. Im Krankenhaus wird sein Tod
festgestellt.
Verbrechen in der Bay Area können auf verschiedene Weise beschrieben
werden, und nicht von allen gibt es so dramatische Bilder: wenn etwa Sam
Bankman-Fried aus Palo Alto, Gründer der Kryptobörse FTX, 8,6 Milliarden
US-Dollar an Kundenguthaben beiseiteschafft, oder die Stanford-Absolventin
Elizabeth Holmes 700 Millionen Dollar für ihre Biotechfirma Theranos
eingesackt hat, deren Blutschnelltests dann nicht funktionierten. Die als
„nächster Steve Jobs“ gefeierte Unternehmerin büßt seit Mai 2023 ihre
elfjährige Haftstrafe in einem Bundesgefängnis in Texas ab. Bankman-Fried
wurde am 28. März zu 25 Jahren verurteilt.
Es handelt sich ganz ordinär um Diebstahl, doch der Reichtum, der im
Silicon Valley angehäuft wurde, lässt die dort lebenden Milliardäre aus der
Finanz- und Techbranche glauben, sie stünden über dem Gesetz. Das Geld
scheint ihnen so sehr zu Kopf gestiegen zu sein, dass sie glauben, alles,
was sie anpacken, gelinge. Bis hin zum Umbau der Gesellschaft nach ihren
Vorstellungen.
So finanzierten die Milliardäre William Oberndorf und David Sacks, ehemals
PayPal, eine Kampagne, die im Juli 2022 zur Abberufung des kurz zuvor
gewählten Bezirksstaatsanwalts Chesa Boudin führte. Insgesamt kamen 7
Millionen US-Dollar zusammen, 600 000 allein von Oberndorf.
Zu den Boudin-Gegnern gehört auch der Risikokapital-Milliardär Ron Conway,
der wie andere Superreiche San Francisco politisch auf Rechtskurs bringen
will. Conway war bereits die treibende Kraft hinter einem 2010 von der
Stadt verfügten Verbot, auf Bürgersteigen herumzusitzen – wodurch
insbesondere Wohnungslose kriminalisiert werden. Für einen Großteil der
Techelite sind Obdachlose nicht Menschen, denen es an allem fehlt, sondern
nur ein Störfaktor.
Wer Reichtum und Tugend in eins denkt, neigt dazu, Armut mit Laster
gleichzusetzen, weshalb auch im Mordfall Bob Lee der Verdacht zuerst auf
einen Obdachlosen fiel und nicht auf einen der Ihren. In ihrer
Selbstwahrnehmung gehört die Techelite zu den Helden und Problemlösern;
manchmal auch zu den Opfern – aber niemals zu den Bösen.
Vielleicht fühlen sich diese Leute durch die Existenz der Unbehausten, die
sich nicht zurückziehen zu können, so sehr bedroht, dass sie möglichst zu
Hause bleiben und sich nur widerstrebend und mit mulmigem Gefühl in den
öffentlichen Raum hinauswagen. Dabei hilft ihnen die Expansion der
Lieferdienste, die es inzwischen normal macht, dass man nicht mehr ins
Restaurant oder einkaufen gehen muss.
Doch diese sogenannte Gig-Economy bedeutet nicht nur für die Beschäftigten,
sondern auch für die Kund:innen eine menschliche Entfremdung. „Viele
Leute verlangen, das Essen vor die Tür gestellt zu bekommen“, berichtete
ein Lieferfahrer aus San Francisco schon 2016. „Die Kunden lieben Apps, bei
denen die Arbeitenden anonym bleiben.“ Heute kann dir die „unsichtbare
Hand“ des Markts tatsächlich einen Burrito bringen.
Mit der Produktion exorbitanter Reichtümer zerrt uns der Techsektor in eine
Art Feudalsystem zurück, in dem wenige Mächtige niemanden mehr Rechenschaft
schulden. Nehmen wir Elon Musk. Der reichste Mensch der Welt hat mit der
Übernahme von Twitter eine Plattform für rechtsextremes, rassistisches
Gedankengut und Verschwörungstheorien etabliert.
Im Ukrainekrieg kam Musks Starlink-Satellitentechnologie anfangs nur auf
ukrainischer Seite zum Einsatz, neuerdings nutzen auch die russischen
Truppen das System. „Es ist quasi das erste Mal, dass eine Zivilperson zum
Schiedsrichter in einem Krieg zwischen zwei Staaten wird“, kommentierte
Ronan Farrow im New Yorker. Das gelte auch für „den Grad der Abhängigkeit“
der USA von Musk – „auf vielerlei Gebieten von der Energiewende über die
Zukunft der Transportsysteme bis zur Weltraumforschung“.
Laut Farrow berichten Leute aus Musks Umfeld, dass dessen Ketamin-Konsum in
den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Die Drogensucht erklärt
womöglich auch – in Kombination mit der Tendenz, sich abzuschotten, und den
immer hitzigeren Fehden mit der Presse – seine impulsiven Ausbrüche und
chaotischen Entscheidungen.
Noch so ein Fall ist Mark Zuckerberg. Der fünftreichste Mensch der Welt
ignoriert bewusst die Rolle seiner Plattform Facebook bei
Wahlbeeinflussungen in aller Welt, beim Genozid an den Rohingya in Myanmar
oder Instagrams Anteil an psychischen Krisen unter Jugendlichen.
Zuckerbergs Unternehmen hat kürzlich bei der Entwicklung des Metaversum,
eines ambitionierten Virtual-Reality-Projekts, 46 Milliarden US-Dollar in
den Sand gesetzt. „Sehr bald schon“, hatte er im September 2023 getönt,
„ist es so weit, dass wir mit einigen Freunden real zusammensitzen und
andere als digitale Avatare oder Hologramme dazukommen – und ihre
Anwesenheit wird sich nicht weniger real anfühlen.“ Wie viele Technokraten
vor ihm behauptet Zuckerberg also, dass sich menschlicher Kontakt
problemlos durch Onlineverbindungen ersetzen lässt.
## Die Bay Area ist längst nicht mehr Avantgarde
Und dann ist da noch Peter Thiel. Der PayPal-Gründer hat 10 Millionen
US-Dollar für eine Zivilklage gegen die Klatschwebsite Gawker ausgegeben,
die ihn 2016 als schwul outete. Man sollte daher meinen, dass sich dieser
Mann für den Schutz der Privatsphäre engagiert. Doch Thiel ist auch der
Gründer des Software-Anbieters Palantir, dessen Technologie das
Heimatschutzministerium gegen illegale Einwanderung nutzt. Palantir hat
zudem Cambridge Analytica geholfen, Facebook-Nutzerdaten für Trumps
Wahlkampfteam abzuzweigen. Und der US-Auslandsgeheimdienst NSA konnte, wie
von The Intercept berichtet wurde, mit Hilfe von Palantir sein globales
Spionagenetzwerk optimieren.
Dieselben Techbosse, deren Firmen unsere Privatsphäre notorisch verletzen,
verteidigen entschlossen ihre eigene. Damit verkörpern sie genau die
Haltung, die laut Frank Wilhoit die Essenz des Konservatismus ausmacht: „Es
gibt Ingroups, die durch Gesetze geschützt, aber nicht gebunden sind, und
Outgroups, die durch Gesetze gebunden, aber nicht geschützt sind.“
So träumt Musk vom Weltraumtourismus und von Kolonien auf anderen Planeten
und Thiel von der Unsterblichkeit, als würden staatliche oder biologische
Gesetze für sie nicht gelten. Zudem wollen sie offenbar auf ewig einen
überdimensionalen Teil der globalen Ressourcen verbrauchen.
Thiel hat 2009 sein libertäres Credo so formuliert: „Ich bin gegen
konfiskatorische Steuern, totalitäre Kollektive und die Ideologie der
Unausweichlichkeit des Todes.“ Außerdem glaube er nicht mehr daran, „dass
Freiheit und Demokratie vereinbar sind“. Vor die Wahl gestellt, würde er
sich wohl nicht für die Demokratie entscheiden. Denn Demokratie setzt
gleiche Chancen auf politische Teilhabe voraus, extremer Reichtum aber
bedeutet unermessliche Vorteile bei minimaler Verantwortung.
Ich bin seit langem der Meinung, Demokratie bedeutet auch, dass man mit
Fremden und andersdenkenden Menschen auskommen muss. Doch das Internet
bewirkt, dass Menschen sich in Gruppen von Gleichgesinnten zusammentun,
wobei die Anonymität im Netz enthemmt und den Hass gegen die vermeintlich
anderen noch verstärkt.
Die Auflösung sozialer Kontakte kann sogar zum Geschäftsmodell werden. Das
gilt für das in San Francisco ansässige Unternehmen Airbnb, das auf der
ganze Welt nachbarschaftliche Beziehungen zerstört, wenn Mietwohnungen in
Ferienobjekte umgewandelt und gleichzeitig die Preise auf dem Wohnungsmarkt
in die Höhe getrieben werden. Eine Freundin, die in der halbländlichen
Gemeinde Joshua Tree östlich von Los Angeles lebt, hat in ihrer Umgebung
nur noch Kurzzeit-Mieter und keine Nachbarn im traditionellen Wortsinn
mehr.
Die Techmogule leben vorzugsweise in Gated Communities, schicken ihre
Kinder auf Privatschulen, besitzen Privatjets und Privatinseln. Wie die
meisten Superreichen schotten sie sich gern ab. Dabei machen sie ihr Geld
mit Technologien, die darauf angelegt sind, möglichst viele Informationen
über uns abzugreifen, die aber zugleich unseren Rückzug aus
gesellschaftlichen Zusammenhängen fördern. Mit dem Ergebnis, dass wir
isolierter leben und zugleich weniger Privatsphäre haben als jemals zuvor.
Meines Wissens bin ich keinem dieser Milliardäre bisher begegnet. Aber
ich benutze zwangsläufig ihre Plattformen und bewege mich zwischen ihren
Angestellten. Und ich lebe in einer Stadt – ja, in einer Welt, die sich
durch das Tun dieser Milliardäre auf radikale Weise verändert hat.
2022 hat Jacob Silverman in der New Republic einen Essay über David Sacks
und die neurechten Isolationisten publiziert. „Das symbolische Epizentrum
dieser Bewegung ist San Francisco“, schreibt Silverman. „Aber im Grunde
geht es um das Ende des umfassenden kalifornischen Traums. Die reichen
Techies, die erleben, wie ihre geliebte Metropole verfällt und krasse
Ungleichheit und soziales Elend um sich greifen, halten den Staat für tot.
In ihrer Enttäuschung und Entfremdung – die sich mit der republikanischen
Abscheu gegenüber liberalen Großstädten (und ihrer nichtweißen Bevölkerung)
paaren – beschwören sie das Bild unwiderruflichen städtischen
Verfalls.“[3]Damit verstärken sie das Lamento des Trump-Lagers, wonach die
Städte – insbesondere in Kalifornien – dunkle, gefährliche Zonen sind, die
eine harte Hand brauchen.
Doch diese Leute haben San Francisco nie wirklich geliebt, jedenfalls nicht
als Ort der Vielfalt und des freien Austauschs. Und nie haben sie sich zu
der Verantwortung bekannt, die sie selbst für die dramatische ökonomische
Ungleichheit, für die Wohnungskrise und die verzweifelte Lage der
Obdachlosen tragen.
Eine Gruppe dieser empörten Techmilliardäre hat neuerdings beschlossen, am
nordöstlichen Rand der Bay Area eine komplett neue Stadt zu bauen. In aller
Stille hat ein Konsortium namens Flannery Associates in Solano County über
20 000 Hektar Ackerland aufgekauft, für insgesamt 800 Millionen US-Dollar.
Der Demokrat John Garamendi, der die Region im US-Repräsentantenhaus
vertritt, berichtete in der Los Angeles Times, wie das Konsortium „Farmer
mit Schweigeklauseln, Drohungen und Mafiamethoden dazu zwingt, ihr seit
Generationen bebautes Land zu verkaufen“.
Im August 2023 legten die Investoren ihre Pläne vor: Ihr Prospekt
verspricht „eine neue Stadt mit Zehntausenden neuer Wohnungen, einer großen
Solarenergiefarm, Obstplantagen mit mehr als einer Million Bäumen, dazu
neue Parkanlagen und Freiflächen von insgesamt 4000 Hektar“. Auf ihrer
Website findet man jedoch keine Antworten auf zentrale Fragen, etwa nach
den Umweltkosten des gigantischen Bauprojekts; oder nach der
Selbstverwaltung der neuen Stadt, deren Gründer und (mutmaßliche)
Eigentümer zu einem elitären Zirkel gehören; oder inwiefern dieses
Privatunternehmen an die öffentliche Infrastruktur angebunden werden soll.
Nichts von alledem. Dafür präsentiert der Prospekt Bilder in Pastellfarben,
auf denen Kinder auf baumgesäumten Straßen vor adretten Reihenhäusern
spielen und Erwachsene mit brauner, schwarzer und weißer Haut auf einer
Plaza sitzen oder Fahrrad fahren. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass
die Investoren vorhaben, selbst in diesen Reihenhäusern zu wohnen, ihre
Kinder auf der Straße spielen zu lassen oder neben der schwarzen Frau aus
dem Prospekt im Zug zu sitzen.
2022 beschwerte sich Marc Andreessen, einer der Flannery-Investoren, über
den Bau eines Mehrfamilienhauses in seinem mondänen Wohnort Atherton, wo
ein Haus durchschnittlich 8 Millionen Dollar kostet. In einer E-Mail an die
Stadtverwaltung forderte er, „umgehend“ alle Mehrfamilienhausprojekte aus
dem Bebauungsplan zu streichen, denn diese würden den Wert der Immobilien
und die Lebensqualität „massiv mindern“ sowie die Lärmbelästigung und den
Verkehr „enorm steigern“.
Für die Villenbesitzer sind Menschen, die in Wohnungen (oder Zelten) leben,
nichts als Abschaum, den man nicht um sich haben will. Das Wort
Wohnungskrise kennen sie nicht. Die Reichen wohnen im Grunde nirgendwo, sie
sind Nomaden, die zwischen mehreren Wohnsitzen pendeln. Andreessen zum
Beispiel gehört unter anderem noch ein 177 Millionen teures Anwesen in
Malibu. Gegen das Projekt von Flannery Associates regte sich vor Ort
allerdings heftiger Widerstand, und die Regierung des County hat erklärt,
dass sie keine Ackerflächen in Bauland umwidmet.
Ich weiß nicht, ob diese Milliardäre wissen, was eine Stadt ist. Aber ich
weiß, dass sie ihren Reichtum benutzt haben, um die Vielfalt der Stadt, die
seit 1980 mein Zuhause ist, zu zerstören: Sie haben das Wohnen unbezahlbar
gemacht, die Armen dämonisiert, Lokalpolitiker zu ihren Marionetten gemacht
und einen politischen Rechtsruck finanziert.
Ich war stets stolz darauf, aus der Bay Area zu kommen. Sie war für mich
ein freier und zugleich geschützter Ort. Hier nahm die Umweltbewegung ihren
Anfang; sie war ein Zentrum der Experimentellen Poesie und der
Antikriegsbewegung, der Geburtsort der Schwulenbewegung, des Kampfs für die
Rechte von Indigenen und der Black Panthers. Es war eine Hochburg der
Linken, die Schutz bot vor den Brutalitäten und dem Konformismus der
amerikanischen Gesellschaft, eine Zuflucht für Dissidenten und Ausgegrenzte
und ein Laboratorium neuer Ideen.
Ein solches Laboratorium ist die Bay Area noch immer. Aber sie ist nicht
mehr Avantgarde, sondern ein globales Machtzentrum, das die Welt – durch
das Wirken einer neuen Superelite – auf eine Weise formt, die jeden Tag
beängstigender wird.
1↑ Siehe [1][„Von Goldgräbern und Nerds“], LMd,Juni 2013.
2↑ Siehe Maxime Robin, [2][„Wenn der Arzt zum Dealer wird. In den USA sind
rezeptpflichtige Opioide zur Einstiegsdroge geworden – ein Lagebericht aus
Ohio“], LMd,Februar 2018.
3↑ Siehe Jacob Silverman, [3][„The Quiet Political Rise of David Sacks,
Silicon Valley’s Prophet of Urban Doom“], The New Republic,18. Oktober
2022.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Rebecca Solnit ist Schriftstellerin, Kulturhistorikerin und
Umweltaktivistin; zuletzt erschien von ihr „Orwells Rosen“, Hamburg
(Rowohlt) 2022.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd,Berlin
11 Apr 2024
## LINKS
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!479263
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5480804
[3] https://newrepublic.com/article/168125/david-sacks-elon-musk-peter-thiel
## AUTOREN
Rebecca Solnit
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