| # taz.de -- Tod einer Stadt | |
| > San Francisco verkommt zum Experimentierfeld der Techmilliardäre aus dem | |
| > Silicon Valley | |
| Bild: Lucas Oertel, Rakete, 2020, Holz, Tempera, 120 × 370 × 4 cm | |
| von Rebecca Solnit | |
| Ein Auto ohne Fahrer ist ein unheimlicher Anblick – aus der Perspektive als | |
| Fußgängerin, aber noch viel mehr, wenn ich in San Francisco mit dem Fahrrad | |
| unterwegs bin. Radle ich eine Weile neben einem solchen Gefährt, kann ich | |
| vom Sattel aus das schaurige Spektakel eines Lenkrads beobachten, das sich | |
| wie von Geisterhand dreht. | |
| Diese Autos gondeln durch San Francisco, obwohl die lokalen Behörden | |
| dagegen sind und die Stadt sogar den Staat Kalifornien verklagt hat, weil | |
| er Firmen gestattet, Straßen als Teststrecken zu nutzen. Regelmäßig | |
| berichten Feuerwehrleute, dass fahrerlose Autos versuchen auf | |
| Löschschläuchen zu parken. Und vergangenen Juni hat ein selbstfahrendes | |
| Auto verhindert, dass die Rettungswagen zu den Verletzten einer Schießerei | |
| durchkamen. | |
| Im Oktober wurde ein Unfallopfer, das nach der Karambolage mit einem | |
| normalen Auto noch auf der Straße lag, von einem fahrerlosen Wagen der | |
| General-Motors-Tochter Cruise erfasst. Die Frau wurde sechs Meter weit | |
| mitgeschleift. Das Fahrzeug konnte nicht erkennen, dass ein Mensch unter | |
| ihm lag. Um die Frau zu befreien, mussten die Rettungskräfte das Auto | |
| anheben. Nach diesem Unfall hat Cruise seine 950 selbstfahrenden Autos aus | |
| dem Verkehr gezogen. Waymo, ein Ableger des Google-Mutterkonzerns Alphabet, | |
| schickt seine Fahrzeuge weiterhin auf die Straße. | |
| Fahrerlose Autos werden häufig auch „autonom“ genannt – aber Autofahren … | |
| keine autonome, sondern eine kooperative Tätigkeit. Wer am Steuer sitzt, | |
| muss mit anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Ich zum Beispiel mache, | |
| egal ob zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto, Handzeichen und achte auf die | |
| Signale der anderen. Am Flughafen von San Francisco gibt es Schilder, die | |
| dazu auffordern, vor dem Überqueren der Straße mit den | |
| Autofahrer:innen in Blickkontakt zu treten. Doch in einem | |
| selbstfahrenden Auto sitzt niemand, mit dem ich in Blickkontakt treten | |
| könnte. | |
| Wenn es um den Nutzen von selbstfahrenden Autos geht, führen die Betreiber | |
| gern ins Feld, dass menschliches Versagen eliminiert werde. Außerdem | |
| ermögliche es Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sich ohne fremde | |
| Hilfe fortzubewegen. Ehrlicher wäre es zu sagen, dass sie die Kosten für | |
| den Fahrer sparen. Seit der Einführung der „Spinning Jenny“ diente jede Art | |
| von Automatisierung als Mittel der Profitmaximierung. Nur aus diesem Grund | |
| gibt es das Self-Check-in-System am Flughafen, Selbstbedienungskassen im | |
| Supermarkt und Drugstores, intelligente Kameras auf mautpflichtigen Straßen | |
| oder Sprachautomaten in Service-Hotlines. | |
| Mit dem Ergebnis, dass es heute sehr viel weniger alltägliche Gelegenheiten | |
| für persönliche Kontakte gibt. In den USA und anderswo leiden die Menschen | |
| unter pandemischer Einsamkeit und Isolation. Vivek Murthy, der Leiter des | |
| öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA (Surgeon General of the United | |
| States), spricht von einer regelrechten Krise, deren Ursachen mit dem | |
| Internet, Smartphones und sozialen Medien zu tun haben. | |
| Gesundheitsgefährdend seien beispielsweise Technologien, „die Kontakte von | |
| Person zu Person ersetzen, unsere Aufmerksamkeit monopolisieren, die | |
| Qualität unserer Interaktionen beeinträchtigen und sogar unser | |
| Selbstvertrauen schwächen“. | |
| Die Coronapandemie hat die Tendenz zur Vereinsamung verschlimmert, aber | |
| manche Technologien haben vorher schon viele Anlässe, sich zu treffen, | |
| hinfällig gemacht. Nicht selten werden echte menschliche Begegnungen von | |
| der Techindustrie sogar als gefährlich, ineffektiv, unerfreulich oder | |
| lästig dargestellt – als ginge es uns immer nur darum, so produktiv wie | |
| möglich zu sein. Und deshalb müssen auch alle Faktoren, die die | |
| Produktivität hemmen könnten, beseitigt werden. Auf dieser Klaviatur | |
| spielten viele der neuen Unternehmen, die in den 1990er Jahren erstmals ins | |
| Onlineshopping und andere Geschäfte mit digitalen Dienstleistungen | |
| eingestiegen sind. | |
| Diese Entwicklung hat sowohl die Stadtlandschaften als auch die menschliche | |
| Psyche verändert. Die American Booksellers Association hat ermittelt, dass | |
| allein 2021 in den USA 136 000 unabhängige Buchhandlungen mit einer | |
| Verkaufsfläche von insgesamt 1,1 Milliarden Quadratmetern aufgeben mussten | |
| – wegen Umsatzeinbußen zugunsten von Amazon. Viele Arbeitsplätze sind | |
| dadurch verloren gegangen, aber auch Beziehungen zu Menschen und Orten. | |
| Im Internet mag ein Buch vielleicht billiger oder die Auswahl an | |
| Briefumschlägen größer sein, aber in einem Geschäft kann man eine Beziehung | |
| zum Inhaber entwickeln, mit anderen Kund:innen ins Gespräch kommen, | |
| zufällig einen Freund oder eine Nachbarin treffen. Der zwischenmenschliche | |
| Austausch ist eine nichtwarenförmige Leistung, die zusätzlich zu den Waren | |
| angeboten wird. | |
| In ihrem urbanistischen Manifest „The Death and Life of Great American | |
| Cities“ (1961) schrieb die Architekturkritikerin Jane Jacobs über die | |
| „Augen auf den Straßen“: Fußgänger und Flaneure sorgen nicht nur dafür, | |
| dass der öffentliche Raum sicher bleibt, sondern auch einladend und | |
| gesellig. Heutzutage habe ich das Empfinden, dass sich in meiner Stadt so | |
| etwas wie ein „großer Rückzug“ vollzieht: Die Menschen haben ihre Augen | |
| nicht mehr auf der Straße, sondern anderswo – meist auf ihren Smartphones. | |
| Geschieht vor ihren Augen ein Verbrechen, filmen sie es womöglich – oder | |
| sie kriegen es gar nicht mit. Viele schrecken zurück, wenn eine fremde | |
| Person sie anspricht, oder tun so, als hätte die Kontaktaufnahme gar nicht | |
| stattgefunden. Ich selber vermeide inzwischen jene kleinen Interaktionen, | |
| die in New Orleans – und auch in New York – freundlich erwidert werden. | |
| Ich bin 1980 nach San Francisco gezogen, als die Straßen und Bars voller | |
| Leben waren, es aber jenseits von Little Italy im Viertel North Beach nur | |
| wenige Cafés gab. Die entstanden erst in den beiden folgenden Jahrzehnten. | |
| In die Cafés ging man zum Abhängen, um ein Buch zu lesen, mit | |
| Zufallsbekanntschaften zu plaudern oder auch einfach nur, um das Leben zu | |
| beobachten. Seit der Jahrtausendwende sah man in Cafés nur noch überwiegend | |
| junge, weiße Gäste stumm auf ihre Apple-Geräte starren, als säßen sie in | |
| einem Großraumbüro. Doch selbst diese Phase scheint gerade an ihre Ende zu | |
| kommen. | |
| Denn die nächste Phase hat bereits begonnen – in der man den Gästen | |
| austreiben will, längere Zeit im Café zu verweilen. Im April 2023 | |
| publizierte die Gastronomiezeitschrift Eater eine Story unter der | |
| Überschrift „2023 wollen die Cafés von San Francisco dich ums Verrecken | |
| loswerden.“ Die Betreiber räumen Tische und Stühle weg und setzen | |
| ausschließlich auf Take Away – auch weil sie nicht mehr wollen, dass ihre | |
| Räume als kostenlose Büros zweckentfremdet werden. | |
| Kulturelle, soziale und religiöse Begegnungsstätten mussten schließen oder | |
| umziehen. Filmfestivals haben die Stadt verlassen, Theater, Galerien und | |
| Secondhand-Läden haben zugemacht. Traditionsgeschäfte konnten die Miete | |
| nicht mehr zahlen, darunter die erste von Schwarzen betriebene Buchhandlung | |
| der USA. Und all das, während die Vermögenskonzentration in beispiellosem | |
| Tempo zunimmt. | |
| Obwohl San Francisco Ende der 1990er Jahre das Epizentrum des Dotcom-Booms | |
| war (bis die Blase im März 2000 platzte), war das Silicon Valley bis Anfang | |
| der 2010er Jahre eher mit der Stadt San José assoziiert, die am Südende der | |
| San Francisco Bay liegt. Doch als Facebook, Google und Apple 2012 begannen, | |
| luxuriöse Shuttlebusse einzusetzen, um ihren Angestellten den täglichen | |
| Stau zu ersparen, zogen sehr viele von ihnen nach San | |
| Francisco.[1]Mittlerweile ist die Stadt vollständig vom Valley annektiert. | |
| Die Angestellten der Techbranche wollen an einem dynamischen, vielseitigen | |
| Ort leben, doch ihre Produkte schaffen das Gegenteil davon. Viele von ihnen | |
| halten sich für Außenseiter, gar als Teil einer Gegenkultur, doch sie | |
| verdingen sich bei Konzernen, die längst Kultur, Politik und Wirtschaft | |
| beherrschen. Dass Apple in einer Garage irgendwo bei San José gegründet | |
| wurde, ändert nichts daran, dass das Unternehmen mit einem Börsenwert von 3 | |
| Billionen US-Dollar heute das wertvollste Unternehmen der Welt ist. | |
| In den vergangenen Jahrzehnten hat San Francisco eine ganze Reihe lokaler | |
| und nationaler Wirtschaftskrisen überlebt. Doch was sich aktuell abspielt, | |
| kann man nur als „Doom Loop“, als einen unabwendbaren Teufelskreis, | |
| beschreiben. Die Coronapandemie hat ganze Büroetagen leergefegt und viele | |
| Geschäfte in den Ruin getrieben. Das hat zum Teil mit den Entlassungen im | |
| Techsektor zu tun, aber auch damit, dass viele Angestellte mittlerweile | |
| komplett von zu Hause arbeiten und die Region verlassen haben. | |
| Mehr noch als der Bevölkerungsrückgang und die Verödung der Innenstadt hat | |
| allerdings der reduzierte zwischenmenschliche Kontakt die Stimmung in der | |
| Stadt verändert. San Francisco ist nach wie vor das urbane Zentrum der Bay | |
| Area, doch die Art, wie die Menschen hier leben, wirkt zunehmend suburban: | |
| Fremden geht man möglichst aus dem Weg, Überraschungen werden gemieden. | |
| In den Medien wird San Francisco in den letzten Jahren oft als Sündenpfuhl | |
| oder Brutstätte des Verbrechens bezeichnet, was wiederum beweisen soll, | |
| dass die progressive Kommunalpolitik gescheitert ist. Vor allem rechte | |
| Medien verbreiten ständig Storys über Kriminalität, Obdachlosigkeit und die | |
| Opioidkrise (die seit Jahren und beileibe nicht nur hier grassiert, mit | |
| vielen Opfern aus der weißen Mittelschicht[2]). Mit solchen Narrativen | |
| pflegen konservative Kreise – darunter viele Techbosse – ihre Forderung | |
| nach einem „War on Crime“ wie in den 1980er und 1990er Jahre zu begründen: | |
| mehr Polizisten, härtere Strafen und die Beschneidung von Grundrechten. | |
| In Wirklichkeit liegt die Zahl der Gewaltverbrechen in San Francisco | |
| niedriger als in vielen anderen US-Städten. Selbst Delikte wie Autos | |
| knacken oder Ladendiebstahl werden als alarmierende Anzeichen für einen | |
| drohenden gesellschaftlichen Kollaps angeführt. Großes Aufsehen erregte im | |
| Juni 2021 ein Video, in dem ein junger, Schwarzer Mann in einer Drogerie | |
| einen Müllsack mit Waren vollstopft und auf einem Fahrrad abhaut. Mehrere | |
| Einzelhandelsketten begründeten die Schließung ihrer Filialen im | |
| Stadtzentrum mit der Diebstahlquote. Doch dann stellte sich heraus, dass | |
| der eigentliche Grund zu geringe Einnahmen und andere geschäftliche | |
| Probleme waren. | |
| Dennoch hat sich die Vorstellung, dass San Francisco in der Gesetzlosigkeit | |
| versinkt, in den Köpfen festgesetzt. Das zeigt sich exemplarisch an dem | |
| viel diskutierten „Fall Bob Lee“. In den Morgenstunden des 4. April 2023 | |
| wurde der bekannte Techmanager – der für Google und zuletzt für das | |
| Krypto-Start-up MobileCoin gearbeitet hatte – erstochen aufgefunden. Sehr | |
| schnell kam die Behauptung auf, Lees Ermordung sei Teil einer | |
| Verbrechensserie, die enthemmten Tätern aus der Unterschicht zugeschrieben | |
| wurde. | |
| So behauptete Elon Musk auf Twitter, trotz der „schrecklichen | |
| Gewaltverbrechen in SF“ würde man die Täter nach ihrer Festnahme „häufig | |
| sofort wieder freilassen“. Und der Risikokapital-Investor Matt Ocko wütete | |
| gegen den früheren Bezirksstaatsanwalt von San Francisco: Diesem „Chesa | |
| Boudin und dem verbrecherfreundlichen Stadtrat, der jahrelang ein | |
| gesetzloses SF hingenommen hat, klebt buchstäblich das Blut von Bob an den | |
| Händen.“ | |
| Kurz darauf wurde allerdings ein Mann namens Nima Momeni des Mordes | |
| angeklagt. Momeni ist ebenfalls Techunternehmer und hatte den Abend mit | |
| seinem Kollegen verbracht. Lee starb mit Kokain und Ketamin im Blut; auch | |
| der mutmaßliche Mörder und seine Schwester sollen zur Tatzeit auf Drogen | |
| gewesen sein. Zumindest ein Teil dieser Drogen hatte offenbar ein Freund | |
| und Ex-Kollege von Lee namens Jeremy Boivin beschafft, der bereits 2021 mit | |
| jeweils einem Kilo Kokain und Crystal Meth verhaftet worden war. 2020 war | |
| er angeklagt, seine Haushälterin mit der „Vergewaltigungsdroge“ GHB sediert | |
| und anschließend missbraucht zu haben. | |
| Chesa Boudin, der Staatsanwalt im Fall Boivin, stellte fest, dass in den | |
| konservativen Kreisen von San Francisco die Ansicht vorherrsche, dass nur | |
| Arme Drogen nehmen. Tatsächlich sind Drogen gerade in der Techindustrie | |
| weit verbreitet. Offenbar auch beim mutmaßlichen Lee-Mörder; nach Aussagen | |
| eines Freundes hatte Nima Momeni ein Kokainproblem, „wie es in | |
| Managerkreisen der Bay Area normal ist“. Momenis Verteidiger dagegen lenkte | |
| den Verdacht auf einen obdachlosen Mann, der in der Nähe des Tatorts | |
| geschlafen hatte. Dabei hatte man Momenis DNA am Griff des Küchenmessers | |
| gefunden, mit dem Lee ermordet worden war. Das Messer passt zu einem Set | |
| aus der Küche von Momenis Schwester, die Lee und Momeni in ihrem | |
| Luxusapartment im Millennium Tower an jenem Abend besucht haben. | |
| Eine Überwachungskamera hat aufgezeichnet, wie die beiden den Tower | |
| verlassen und in Momenis BMW steigen; eine weitere filmte, wie sie ein paar | |
| Straßen weiter wieder ausgestiegen sind und Momeni kurz darauf allein | |
| zurückkommt und wegfährt. Lee taumelt ins Blickfeld einer anderen Kamera. | |
| Er schafft es, den Notruf zu wählen. Das Rettungsteam findet ihn blutend | |
| und bewusstlos auf dem Bürgersteig. Im Krankenhaus wird sein Tod | |
| festgestellt. | |
| Verbrechen in der Bay Area können auf verschiedene Weise beschrieben | |
| werden, und nicht von allen gibt es so dramatische Bilder: wenn etwa Sam | |
| Bankman-Fried aus Palo Alto, Gründer der Kryptobörse FTX, 8,6 Milliarden | |
| US-Dollar an Kundenguthaben beiseiteschafft, oder die Stanford-Absolventin | |
| Elizabeth Holmes 700 Millionen Dollar für ihre Biotechfirma Theranos | |
| eingesackt hat, deren Blutschnelltests dann nicht funktionierten. Die als | |
| „nächster Steve Jobs“ gefeierte Unternehmerin büßt seit Mai 2023 ihre | |
| elfjährige Haftstrafe in einem Bundesgefängnis in Texas ab. Bankman-Fried | |
| wurde am 28. März zu 25 Jahren verurteilt. | |
| Es handelt sich ganz ordinär um Diebstahl, doch der Reichtum, der im | |
| Silicon Valley angehäuft wurde, lässt die dort lebenden Milliardäre aus der | |
| Finanz- und Techbranche glauben, sie stünden über dem Gesetz. Das Geld | |
| scheint ihnen so sehr zu Kopf gestiegen zu sein, dass sie glauben, alles, | |
| was sie anpacken, gelinge. Bis hin zum Umbau der Gesellschaft nach ihren | |
| Vorstellungen. | |
| So finanzierten die Milliardäre William Oberndorf und David Sacks, ehemals | |
| PayPal, eine Kampagne, die im Juli 2022 zur Abberufung des kurz zuvor | |
| gewählten Bezirksstaatsanwalts Chesa Boudin führte. Insgesamt kamen 7 | |
| Millionen US-Dollar zusammen, 600 000 allein von Oberndorf. | |
| Zu den Boudin-Gegnern gehört auch der Risikokapital-Milliardär Ron Conway, | |
| der wie andere Superreiche San Francisco politisch auf Rechtskurs bringen | |
| will. Conway war bereits die treibende Kraft hinter einem 2010 von der | |
| Stadt verfügten Verbot, auf Bürgersteigen herumzusitzen – wodurch | |
| insbesondere Wohnungslose kriminalisiert werden. Für einen Großteil der | |
| Techelite sind Obdachlose nicht Menschen, denen es an allem fehlt, sondern | |
| nur ein Störfaktor. | |
| Wer Reichtum und Tugend in eins denkt, neigt dazu, Armut mit Laster | |
| gleichzusetzen, weshalb auch im Mordfall Bob Lee der Verdacht zuerst auf | |
| einen Obdachlosen fiel und nicht auf einen der Ihren. In ihrer | |
| Selbstwahrnehmung gehört die Techelite zu den Helden und Problemlösern; | |
| manchmal auch zu den Opfern – aber niemals zu den Bösen. | |
| Vielleicht fühlen sich diese Leute durch die Existenz der Unbehausten, die | |
| sich nicht zurückziehen zu können, so sehr bedroht, dass sie möglichst zu | |
| Hause bleiben und sich nur widerstrebend und mit mulmigem Gefühl in den | |
| öffentlichen Raum hinauswagen. Dabei hilft ihnen die Expansion der | |
| Lieferdienste, die es inzwischen normal macht, dass man nicht mehr ins | |
| Restaurant oder einkaufen gehen muss. | |
| Doch diese sogenannte Gig-Economy bedeutet nicht nur für die Beschäftigten, | |
| sondern auch für die Kund:innen eine menschliche Entfremdung. „Viele | |
| Leute verlangen, das Essen vor die Tür gestellt zu bekommen“, berichtete | |
| ein Lieferfahrer aus San Francisco schon 2016. „Die Kunden lieben Apps, bei | |
| denen die Arbeitenden anonym bleiben.“ Heute kann dir die „unsichtbare | |
| Hand“ des Markts tatsächlich einen Burrito bringen. | |
| Mit der Produktion exorbitanter Reichtümer zerrt uns der Techsektor in eine | |
| Art Feudalsystem zurück, in dem wenige Mächtige niemanden mehr Rechenschaft | |
| schulden. Nehmen wir Elon Musk. Der reichste Mensch der Welt hat mit der | |
| Übernahme von Twitter eine Plattform für rechtsextremes, rassistisches | |
| Gedankengut und Verschwörungstheorien etabliert. | |
| Im Ukrainekrieg kam Musks Starlink-Satellitentechnologie anfangs nur auf | |
| ukrainischer Seite zum Einsatz, neuerdings nutzen auch die russischen | |
| Truppen das System. „Es ist quasi das erste Mal, dass eine Zivilperson zum | |
| Schiedsrichter in einem Krieg zwischen zwei Staaten wird“, kommentierte | |
| Ronan Farrow im New Yorker. Das gelte auch für „den Grad der Abhängigkeit“ | |
| der USA von Musk – „auf vielerlei Gebieten von der Energiewende über die | |
| Zukunft der Transportsysteme bis zur Weltraumforschung“. | |
| Laut Farrow berichten Leute aus Musks Umfeld, dass dessen Ketamin-Konsum in | |
| den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Die Drogensucht erklärt | |
| womöglich auch – in Kombination mit der Tendenz, sich abzuschotten, und den | |
| immer hitzigeren Fehden mit der Presse – seine impulsiven Ausbrüche und | |
| chaotischen Entscheidungen. | |
| Noch so ein Fall ist Mark Zuckerberg. Der fünftreichste Mensch der Welt | |
| ignoriert bewusst die Rolle seiner Plattform Facebook bei | |
| Wahlbeeinflussungen in aller Welt, beim Genozid an den Rohingya in Myanmar | |
| oder Instagrams Anteil an psychischen Krisen unter Jugendlichen. | |
| Zuckerbergs Unternehmen hat kürzlich bei der Entwicklung des Metaversum, | |
| eines ambitionierten Virtual-Reality-Projekts, 46 Milliarden US-Dollar in | |
| den Sand gesetzt. „Sehr bald schon“, hatte er im September 2023 getönt, | |
| „ist es so weit, dass wir mit einigen Freunden real zusammensitzen und | |
| andere als digitale Avatare oder Hologramme dazukommen – und ihre | |
| Anwesenheit wird sich nicht weniger real anfühlen.“ Wie viele Technokraten | |
| vor ihm behauptet Zuckerberg also, dass sich menschlicher Kontakt | |
| problemlos durch Onlineverbindungen ersetzen lässt. | |
| ## Die Bay Area ist längst nicht mehr Avantgarde | |
| Und dann ist da noch Peter Thiel. Der PayPal-Gründer hat 10 Millionen | |
| US-Dollar für eine Zivilklage gegen die Klatschwebsite Gawker ausgegeben, | |
| die ihn 2016 als schwul outete. Man sollte daher meinen, dass sich dieser | |
| Mann für den Schutz der Privatsphäre engagiert. Doch Thiel ist auch der | |
| Gründer des Software-Anbieters Palantir, dessen Technologie das | |
| Heimatschutzministerium gegen illegale Einwanderung nutzt. Palantir hat | |
| zudem Cambridge Analytica geholfen, Facebook-Nutzerdaten für Trumps | |
| Wahlkampfteam abzuzweigen. Und der US-Auslandsgeheimdienst NSA konnte, wie | |
| von The Intercept berichtet wurde, mit Hilfe von Palantir sein globales | |
| Spionagenetzwerk optimieren. | |
| Dieselben Techbosse, deren Firmen unsere Privatsphäre notorisch verletzen, | |
| verteidigen entschlossen ihre eigene. Damit verkörpern sie genau die | |
| Haltung, die laut Frank Wilhoit die Essenz des Konservatismus ausmacht: „Es | |
| gibt Ingroups, die durch Gesetze geschützt, aber nicht gebunden sind, und | |
| Outgroups, die durch Gesetze gebunden, aber nicht geschützt sind.“ | |
| So träumt Musk vom Weltraumtourismus und von Kolonien auf anderen Planeten | |
| und Thiel von der Unsterblichkeit, als würden staatliche oder biologische | |
| Gesetze für sie nicht gelten. Zudem wollen sie offenbar auf ewig einen | |
| überdimensionalen Teil der globalen Ressourcen verbrauchen. | |
| Thiel hat 2009 sein libertäres Credo so formuliert: „Ich bin gegen | |
| konfiskatorische Steuern, totalitäre Kollektive und die Ideologie der | |
| Unausweichlichkeit des Todes.“ Außerdem glaube er nicht mehr daran, „dass | |
| Freiheit und Demokratie vereinbar sind“. Vor die Wahl gestellt, würde er | |
| sich wohl nicht für die Demokratie entscheiden. Denn Demokratie setzt | |
| gleiche Chancen auf politische Teilhabe voraus, extremer Reichtum aber | |
| bedeutet unermessliche Vorteile bei minimaler Verantwortung. | |
| Ich bin seit langem der Meinung, Demokratie bedeutet auch, dass man mit | |
| Fremden und andersdenkenden Menschen auskommen muss. Doch das Internet | |
| bewirkt, dass Menschen sich in Gruppen von Gleichgesinnten zusammentun, | |
| wobei die Anonymität im Netz enthemmt und den Hass gegen die vermeintlich | |
| anderen noch verstärkt. | |
| Die Auflösung sozialer Kontakte kann sogar zum Geschäftsmodell werden. Das | |
| gilt für das in San Francisco ansässige Unternehmen Airbnb, das auf der | |
| ganze Welt nachbarschaftliche Beziehungen zerstört, wenn Mietwohnungen in | |
| Ferienobjekte umgewandelt und gleichzeitig die Preise auf dem Wohnungsmarkt | |
| in die Höhe getrieben werden. Eine Freundin, die in der halbländlichen | |
| Gemeinde Joshua Tree östlich von Los Angeles lebt, hat in ihrer Umgebung | |
| nur noch Kurzzeit-Mieter und keine Nachbarn im traditionellen Wortsinn | |
| mehr. | |
| Die Techmogule leben vorzugsweise in Gated Communities, schicken ihre | |
| Kinder auf Privatschulen, besitzen Privatjets und Privatinseln. Wie die | |
| meisten Superreichen schotten sie sich gern ab. Dabei machen sie ihr Geld | |
| mit Technologien, die darauf angelegt sind, möglichst viele Informationen | |
| über uns abzugreifen, die aber zugleich unseren Rückzug aus | |
| gesellschaftlichen Zusammenhängen fördern. Mit dem Ergebnis, dass wir | |
| isolierter leben und zugleich weniger Privatsphäre haben als jemals zuvor. | |
| Meines Wissens bin ich keinem dieser Milliardäre bisher begegnet. Aber | |
| ich benutze zwangsläufig ihre Plattformen und bewege mich zwischen ihren | |
| Angestellten. Und ich lebe in einer Stadt – ja, in einer Welt, die sich | |
| durch das Tun dieser Milliardäre auf radikale Weise verändert hat. | |
| 2022 hat Jacob Silverman in der New Republic einen Essay über David Sacks | |
| und die neurechten Isolationisten publiziert. „Das symbolische Epizentrum | |
| dieser Bewegung ist San Francisco“, schreibt Silverman. „Aber im Grunde | |
| geht es um das Ende des umfassenden kalifornischen Traums. Die reichen | |
| Techies, die erleben, wie ihre geliebte Metropole verfällt und krasse | |
| Ungleichheit und soziales Elend um sich greifen, halten den Staat für tot. | |
| In ihrer Enttäuschung und Entfremdung – die sich mit der republikanischen | |
| Abscheu gegenüber liberalen Großstädten (und ihrer nichtweißen Bevölkerung) | |
| paaren – beschwören sie das Bild unwiderruflichen städtischen | |
| Verfalls.“[3]Damit verstärken sie das Lamento des Trump-Lagers, wonach die | |
| Städte – insbesondere in Kalifornien – dunkle, gefährliche Zonen sind, die | |
| eine harte Hand brauchen. | |
| Doch diese Leute haben San Francisco nie wirklich geliebt, jedenfalls nicht | |
| als Ort der Vielfalt und des freien Austauschs. Und nie haben sie sich zu | |
| der Verantwortung bekannt, die sie selbst für die dramatische ökonomische | |
| Ungleichheit, für die Wohnungskrise und die verzweifelte Lage der | |
| Obdachlosen tragen. | |
| Eine Gruppe dieser empörten Techmilliardäre hat neuerdings beschlossen, am | |
| nordöstlichen Rand der Bay Area eine komplett neue Stadt zu bauen. In aller | |
| Stille hat ein Konsortium namens Flannery Associates in Solano County über | |
| 20 000 Hektar Ackerland aufgekauft, für insgesamt 800 Millionen US-Dollar. | |
| Der Demokrat John Garamendi, der die Region im US-Repräsentantenhaus | |
| vertritt, berichtete in der Los Angeles Times, wie das Konsortium „Farmer | |
| mit Schweigeklauseln, Drohungen und Mafiamethoden dazu zwingt, ihr seit | |
| Generationen bebautes Land zu verkaufen“. | |
| Im August 2023 legten die Investoren ihre Pläne vor: Ihr Prospekt | |
| verspricht „eine neue Stadt mit Zehntausenden neuer Wohnungen, einer großen | |
| Solarenergiefarm, Obstplantagen mit mehr als einer Million Bäumen, dazu | |
| neue Parkanlagen und Freiflächen von insgesamt 4000 Hektar“. Auf ihrer | |
| Website findet man jedoch keine Antworten auf zentrale Fragen, etwa nach | |
| den Umweltkosten des gigantischen Bauprojekts; oder nach der | |
| Selbstverwaltung der neuen Stadt, deren Gründer und (mutmaßliche) | |
| Eigentümer zu einem elitären Zirkel gehören; oder inwiefern dieses | |
| Privatunternehmen an die öffentliche Infrastruktur angebunden werden soll. | |
| Nichts von alledem. Dafür präsentiert der Prospekt Bilder in Pastellfarben, | |
| auf denen Kinder auf baumgesäumten Straßen vor adretten Reihenhäusern | |
| spielen und Erwachsene mit brauner, schwarzer und weißer Haut auf einer | |
| Plaza sitzen oder Fahrrad fahren. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass | |
| die Investoren vorhaben, selbst in diesen Reihenhäusern zu wohnen, ihre | |
| Kinder auf der Straße spielen zu lassen oder neben der schwarzen Frau aus | |
| dem Prospekt im Zug zu sitzen. | |
| 2022 beschwerte sich Marc Andreessen, einer der Flannery-Investoren, über | |
| den Bau eines Mehrfamilienhauses in seinem mondänen Wohnort Atherton, wo | |
| ein Haus durchschnittlich 8 Millionen Dollar kostet. In einer E-Mail an die | |
| Stadtverwaltung forderte er, „umgehend“ alle Mehrfamilienhausprojekte aus | |
| dem Bebauungsplan zu streichen, denn diese würden den Wert der Immobilien | |
| und die Lebensqualität „massiv mindern“ sowie die Lärmbelästigung und den | |
| Verkehr „enorm steigern“. | |
| Für die Villenbesitzer sind Menschen, die in Wohnungen (oder Zelten) leben, | |
| nichts als Abschaum, den man nicht um sich haben will. Das Wort | |
| Wohnungskrise kennen sie nicht. Die Reichen wohnen im Grunde nirgendwo, sie | |
| sind Nomaden, die zwischen mehreren Wohnsitzen pendeln. Andreessen zum | |
| Beispiel gehört unter anderem noch ein 177 Millionen teures Anwesen in | |
| Malibu. Gegen das Projekt von Flannery Associates regte sich vor Ort | |
| allerdings heftiger Widerstand, und die Regierung des County hat erklärt, | |
| dass sie keine Ackerflächen in Bauland umwidmet. | |
| Ich weiß nicht, ob diese Milliardäre wissen, was eine Stadt ist. Aber ich | |
| weiß, dass sie ihren Reichtum benutzt haben, um die Vielfalt der Stadt, die | |
| seit 1980 mein Zuhause ist, zu zerstören: Sie haben das Wohnen unbezahlbar | |
| gemacht, die Armen dämonisiert, Lokalpolitiker zu ihren Marionetten gemacht | |
| und einen politischen Rechtsruck finanziert. | |
| Ich war stets stolz darauf, aus der Bay Area zu kommen. Sie war für mich | |
| ein freier und zugleich geschützter Ort. Hier nahm die Umweltbewegung ihren | |
| Anfang; sie war ein Zentrum der Experimentellen Poesie und der | |
| Antikriegsbewegung, der Geburtsort der Schwulenbewegung, des Kampfs für die | |
| Rechte von Indigenen und der Black Panthers. Es war eine Hochburg der | |
| Linken, die Schutz bot vor den Brutalitäten und dem Konformismus der | |
| amerikanischen Gesellschaft, eine Zuflucht für Dissidenten und Ausgegrenzte | |
| und ein Laboratorium neuer Ideen. | |
| Ein solches Laboratorium ist die Bay Area noch immer. Aber sie ist nicht | |
| mehr Avantgarde, sondern ein globales Machtzentrum, das die Welt – durch | |
| das Wirken einer neuen Superelite – auf eine Weise formt, die jeden Tag | |
| beängstigender wird. | |
| 1↑ Siehe [1][„Von Goldgräbern und Nerds“], LMd,Juni 2013. | |
| 2↑ Siehe Maxime Robin, [2][„Wenn der Arzt zum Dealer wird. In den USA sind | |
| rezeptpflichtige Opioide zur Einstiegsdroge geworden – ein Lagebericht aus | |
| Ohio“], LMd,Februar 2018. | |
| 3↑ Siehe Jacob Silverman, [3][„The Quiet Political Rise of David Sacks, | |
| Silicon Valley’s Prophet of Urban Doom“], The New Republic,18. Oktober | |
| 2022. | |
| Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
| Rebecca Solnit ist Schriftstellerin, Kulturhistorikerin und | |
| Umweltaktivistin; zuletzt erschien von ihr „Orwells Rosen“, Hamburg | |
| (Rowohlt) 2022. | |
| © London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd,Berlin | |
| 11 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!479263 | |
| [2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5480804 | |
| [3] https://newrepublic.com/article/168125/david-sacks-elon-musk-peter-thiel | |
| ## AUTOREN | |
| Rebecca Solnit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |