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# taz.de -- Zeugnisse des Ausschlusses
> Das Arsenal zeigt ab heute online ein Sonderprogramm des Forums der
> Berlinale. In der Reihe „Fiktionsbescheinigung“ laufen frühe und aktuelle
> rassismuskritische Filme
Bild: Szene aus „In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teh…
Von Fabian Tietke
Drei Köpfe unter Handtüchern über Töpfe gebeugt. Über dem Küchentisch hä…
Ratlosigkeit, gemeinsam grübeln die drei Protagonisten nach dem Inhalieren,
wie die junge Regisseurin aus dem Iran es dem Dozenten an der deutschen
Filmhochschule recht machen soll. „Es gibt so viele Themen … Iran, Irak ……
Narges Kalhors an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen
entstandener „In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in
Teheran“ bricht erfreulich schnell mit dem Topos des „Was tun?“ von
Filmhochschulfilmen und entrollt eine Farce deutscher Orientfantasien, die
sie mit biografischen Einsprengseln bricht. Kalhor spielt ihre
Protagonistin selbst, wobei sich Fiktion und Realität der Biografien
kreuzen.
Ergänzt wird diese Collage durch märchenhafte Animationssequenzen,
Spielszenen und wiederholte Diskussionen mit dem Dozenten im Off-Ton über
das Gesehene. „In the Name of Scheherazade“ stellt beharrlich kleine Fehler
und Missverständnisse aus, macht den Film als (Zwischen-)Ergebnis eines
Prozesses sichtbar.
Kalhors Film ist Teil eines Sonderprogramms des Forums der Berlinale. Unter
dem Titel „Fiktionsbescheinigung“ haben die fünf Kurator_innen Enoka
Ayemba, Karina Griffith, Jacqueline Nsiah, Biene Pilavci und Can Sungu 16
Filme zusammengestellt, mit denen sie die Frage aufwerfen: „Wer findet
Einlass in die deutsche Kulturgeschichte, ins Kino und den Filmkanon, und
wer bleibt draußen?“
Die meisten der Filme sind parallel zur Berlinale im [1][Streamingangebot
des Arsenals] zu sehen und werden im August noch einmal im Freiluftkino des
Sinema transtopia zu sehen sein. Die Kuratoren erläutern den Titel selbst:
„‚Fiktionsbescheinigung‘ ist ein Begriff aus dem Amtsdeutsch. Wenn Mensch…
aus Nicht-EU-Ländern einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
stellen, dann erhalten sie für die Zeit, in der der Antrag geprüft wird,
eine solche Bescheinigung.“ Die Fiktionsbescheinigung ist das
verschriftlichte Zeugnis eines Ausschlusses, der eventuell irgendwann in
der Zukunft unter Umständen aufgehoben wird, wenn es denn der
Mehrheitsgesellschaft genehm ist.
Die Filmreihe stellt verstreute Ansätze zu rassismuskritischem Filmemachen
bis Ende der 1990er Jahre einer Auswahl aktueller Filme gegenüber. Bei der
Auswahl der älteren Filme folgt das Programm in Teilen früheren Reihen, in
denen sich eine Handvoll zentraler Filme und Filmemacherinnen
herauskristallisiert hat. Das trifft etwa auf die beiden Filme von Sema
Poyraz aus dem Programm zu. „Gölge“ ist Poyraz’ Abschlussfilm zu ihrem
Studium an der Film- und Fernsehakademie Berlin, den sie zusammen mit
Sofoklis Adamidis realisierte.
Der Film zeigt das Leben einer Schülerin in Kreuzberg. Die Tochter
türkischer Eltern flüchtet sich aus den beengten Verhältnissen immer wieder
in Traumwelten. Wenn es in der Balance aus Gesellschaftsbild und Poesie ein
deutsches Gegenstück zu Mehdi Charefs „Tee im Harem des Archimedes“ gibt,
dann ist es dieser Film. Dennoch ist „Gölge“ einer jener Filme, die es
trotz vieler Wiederentdeckungen noch immer nicht in den Kanon deutscher
Filme der 1980er Jahre geschafft haben.
Im Rahmen der Reihe zeigen sich erschreckende Verbindungslinien des
Rassismus. 1991 dreht Rahim Shirmahd „18 Minuten Zivilcourage“, einen Film
über den Mord an einem iranischen Geflüchteten in Tübingen. Kiomar Javadi
wird nach einem behaupteten Ladendiebstahl von Mitarbeitern der
Supermarktkette Pfannkuch, die später von Spar übernommen wurde,
umgebracht.
Die Mitarbeiter würgten Javadi 18 Minuten lang, ihre dabeistehenden
Kollegen verhinderten das Eingreifen einiger weniger und stießen mit ihrer
Tat anschließend bei der deutschen Justiz auf ebenso viel Verständnis wie
bei einem erheblichen Teil der Tübinger Bevölkerung. Die Gespräche mit
Passanten lassen einem das Blut gefrieren. Der Film rekonstruiert das Leben
Javadis und bettet es in das Leben Geflüchteter in der BRD der 1980er
Jahre. Aktuell gibt es in Tübingen Bestrebungen, eine Straße nach Javadi zu
benennen.
Wie aktuell, wie rar die Gegendarstellung ist, die der heute in Moabit
lebende Shirmahd Anfang der 1990er Jahre unternommen hat, wird im
Zusammenspiel mit Mala Reinhardts „Der zweite Anschlag“ deutlich. Reinhardt
spricht 2018 mit Angehörigen von Opfern rassistischer Anschläge: Rostock,
Mölln und des [2][NSU-Mords an Süleyman Taşköprü in Hamburg].
Der Titel des Films entstammt dem Gespräch mit Ibrahim Arslan, der 1992 den
rassistischen Brandanschlag in Mölln überlebt hat: „Der erste Anschlag ist
der nicht vermeidbare Anschlag. Das ist der Anschlag, der in dieser Nacht
passiert ist. Und dann gibt es den zweiten Anschlag, das ist der Anschlag
der Gesellschaft, der Medien, der Politiker, der Justiz. Und dieser
Anschlag ist bei weitem der schlimmere.“
Die parteiischen Interventionen von Shirmahd und Reinhardt rufen nicht nur
die konkreten Taten in Erinnerung, sie dokumentieren auch den
gesellschaftlichen Umgang mit diesen Taten über die Jahre hinweg. Vor allem
in Letzterem treffen sie sich mit „Bruderland ist abgebrannt“ von Angelika
Nguyen, der sich dem Leben vietnamesischer Vertragsarbeiter_innen nach dem
Fall der Mauer, nach den Mordversuchen von Rostock-Lichtenhagen und
inmitten des allgegenwärtigen Rassismus der Baseballschlägerjahre und der
Regierung Kohl widmet.
Andere Filme wie Wanjiru Kinyanjuis „Black in the Western World“ verweisen
auf die Probleme, denen sich Spurensuchen jenseits des Kanons schnell
gegenübersehen: Der Film liegt nur als analoge Filmkopie vor, ist deshalb
nicht Teil des Streamingangebots. Umso wichtiger bleiben Versuche wie die
Reihe „Fiktionsbescheinigung“, diese Filme der Unsichtbarkeit zu entreißen
und ihre aktuellen Entsprechungen gar nicht erst dem Vergessen anheimfallen
zu lassen.
„Fiktionsbescheinigung“, bis 30. Juni, [3][www.arsenal-3-berlin.de]
9 Jun 2021
## LINKS
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[3] https://www.arsenal-3-berlin.de/de/home
## AUTOREN
Fabian Tietke
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