| # taz.de -- Zeitloses Ungeheuer | |
| > So fremd war sich der Mensch selten: In Oldenburg inszeniert Luise Voigt | |
| > George Orwells Dystopie „1984“ | |
| Bild: Kaum Körperkontakt, reduzierte Bewegungen: Auch die Liebenden Julia und … | |
| Von Jan-Paul Koopmann | |
| Grau ist der Terrorstaat, meist dunkel und so sinnlich wie ein verwaschenes | |
| Unterhemd. Wo George Orwells Roman „1984“ noch mit den Gerüchen von | |
| gekochtem Kohl und nassen Fußmatten beginnt, herrscht im Oldenburgischen | |
| Staatstheater eine sterile Unwirklichkeit aus grauen Wänden, grauer | |
| Kleidung, kaltem Licht und monotonen Beats im Hintergrund. Aber nicht nur | |
| das riechende Gemüse fehlt unter der Regie von Luise Voigt – auch der Big | |
| Brother spielt hier höchstens eine Nebenrolle. | |
| Denn diese Televisoren etwa, die im Dauerbetrieb Privates senden und | |
| Propaganda empfangen – heute sind sie angesichts von Smartphones und | |
| digitalen Assistenten weder Zukunfts- noch Schreckensvision. Spannender ist | |
| die andere Hälfte der Geschichte: wie Propagandalügen Wirklichkeit | |
| konstruieren können. Der 70-jährige Roman dürfte sein zweites Comeback weit | |
| eher Donald Trumps „alternativen Fakten“ verdanken als der Angst vor | |
| Spitzeleien. | |
| Luise Voigts totalitärer Staat ist ein zeitloses Ungeheuer, entkoppelt von | |
| der Vergangenheit. Statt aufs Neue nach seiner Aktualität zu fragen, | |
| entwickelt das Stück einen klaustrophobischen Zustand gleichgeschalteter | |
| Menschen. Und das fesselt über drei Stunden in einer Intensität, die der | |
| von schon drei Generationen durchgekaute Stoff kaum noch erwarten ließ. So | |
| fremd war sich der Mensch selten. Weil im Überwachungsstaat keiner sagt, | |
| was er denkt, sprechen die Figuren meist aus dem Off, ihre Bewegungen sind | |
| streng choreografiert, uniform und überzeichnet: eine Maskerade für Denken | |
| und Gefühle. | |
| Da ist etwa die Liebesgeschichte von Winston Smith und seiner Genossin | |
| Julia, die Klaas Schramm und Franziska Werner so präzise wie herzerweichend | |
| spielen. Als sie intim werden, wissen sie kaum etwas miteinander | |
| anzufangen. Ihr Körperkontakt ist minimal, sie umkreisen einander, | |
| verschränken zum Höhepunkt mal kurz die Beine – und sprechen immer noch | |
| nicht miteinander. Das übernehmen zwei garstig dreinblickende Overallträger | |
| am Bühnenrand, während die Liebenden selbst nur immer wieder keuchend nach | |
| Luft schnappen. | |
| ## Strenge mechanische Bewegungen | |
| Hinter den abstrakten und expressiv überzeichneten Bewegungsabläufen steckt | |
| die Meyerhold’sche Biomechanik. Mit der Methode trat die frühsowjetische | |
| Theateravantgarde an, den neuen Menschen zu formen: Schauspielarbeiter, | |
| die überflüssige Bewegungen abgeschafft und einen Katalog wiederholbarer | |
| Übungen einstudiert haben. Die Verbindung zum Stück erschließt sich | |
| unmittelbar, wo die Orwell-Arbeiter betont motiviert grinsend zum Dienst | |
| schweben, um nur ja nicht aufzufallen. | |
| Sie erinnern kurz an die Debatten um intelligente Kameras, die nach den | |
| unbewussten Zuckungen nervöser Selbstmordattentätern suchen sollen. Aber | |
| Voigts Inszenierung muss sich gar nicht weiter scheren um ausdrückliche | |
| Bezüge zum Heute – das bekommt der Stoff allein hin. | |
| Und so steigt die Inszenierung immer tiefer ein in ästhetischen Fragen nach | |
| Schauspielmethodik und der Kunst. Selbst die flackernd an die Wand | |
| projizierten Deckenlampen des Ministeriums entpuppen sich als vielfach | |
| kopiertes Element aus Picassos „Guernica“. Voigt führt schließlich | |
| Meyerhold (gespielt von Thomas Lichtenstein) selbst in die Handlung ein. | |
| Zunächst als Schauspieltrainer, der Besetzung und Publikum einen Crashkurs | |
| in Sachen Biomechanik gibt – später in biografischen Szenen als Opfer von | |
| Stalins Säuberungen. | |
| Darin steckt eine Ambivalenz, die Orwells Roman in dieser Konsequenz nicht | |
| kennt: dieser Drill zur uniformen Bewegung nämlich, der einerseits das | |
| totalitäre System spiegelt, aber vielleicht auch eine kleine Chance | |
| darstellt, sich ihm zu entziehen. Dass Orwells grundsätzliche Kritik am | |
| Totalitarismus über die Meyerhold-Episoden eine leichte Schlagseite zum | |
| Antikommunismus bekommt, ist der Preis dafür. Daran ändern auch die immer | |
| wieder an die Wände geworfenen Zitate aus Hannah Arendts „Elemente und | |
| Ursprünge totaler Herrschaft“ wenig. | |
| Dennoch: „1984“ ist in Oldenburg weder Mahnen vor ein bisschen mehr | |
| Überwachung noch die Abrechnung mit einer vermeintlich erledigten | |
| Vergangenheit – sondern eine mitunter brutale Spurensuche dort, wo die | |
| drohende Katastrophe von morgen schon stattgefunden hat. | |
| Mi, 12. 9., 20 Uhr, Staatstheater Oldenburg; nächste Aufführungen: | |
| 12./14./18./23. 9. | |
| 7 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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