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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Robert Mießner: Wandeln auf Karls Pfaden
Karl Marx ist überall in Berlin. Am Alexanderplatz beginnt die berühmte
Allee, die auf den Namen des Rabbinerenkels und Revolutionärs hört und
durch Mitte und Friedrichshain führt. Wer den Alexanderplatz in
entgegengesetzter Richtung hin zum Spittelmarkt überquert und die
Rathauspassagen passiert, wird hinter dem Roten Rathaus schon wieder Karl
begegnen. Er sitzt dort seit 1986 als Bronzeplastik in dem Denkmalsensemble
Marx-Engels-Forum, neben ihm steht sein Freund, Mitdenker und Unterstützer
Friedrich Engels.
Kurz nachdem die beiden dort eingezogen sind, wurden sie bei mir
unfreiwilliger Lesestoff. In der 8. Klasse der Polytechnischen Oberschule
der DDR begann das FDJ-Studienjahr. Zur verschulten Einführung in
marxistische Philosophie gehörten zwei Lehrbücher. In denen konnte mich
immerhin das Kapitel über Bakunin elektrisieren, ansonsten hatte ich
anderes im Kopf.
Trotzdem fällt mir von Zeit zu Zeit Karl ein, und er tut das immer öfter.
Am Sonntag hat er sich mit Nachdruck gemeldet. Das begann, als ich am
Hermannplatz aus der U-Bahn stieg und am denkmalsgeschütztem
Karstadt-Kaufhaus vorbei durch Neukölln lief. Am Montag, an dem ich diese
Kolumne schreibe, entscheidet die Gläubigerversammlung von Galeria Karstadt
Kaufhof über den Insolvenzplan für das schwer getroffene Unternehmen.
„Schwarzes Loch in der Innenstadt“ titelt der SPIEGEL. Unter den
Schaufenstern der Hugendubel-Filiale hatten sich am Sonntagabend die
Wohnungslosen an ihren Schlafplätzen eingefunden.
Ich bog vom Hermannplatz in die Karl-Marx-Straße ein, die rechterhand an
der Deutschen Bank beginnt. „Karl Marx, Begründer des Wissenschaftlichen
Sozialismus“, steht zur Erklärung auf dem Straßenschild direkt davor. Auf
der Straßenseite gegenüber wirbt ein Schnäppchenmarkt: „Bomben-Preise!“ …
55 Cent.“ Ich musste weiter, vorbei am Friedhof der St.-Jacobi-Gemeinde mit
seinem Blumenladen und dem übrigens exquisitem Café; vorbei auch an der
Eisdiele Tirana. Karl Marx, wir erinnern uns, hat es bis in die Hauptstadt
Albaniens geschafft. Was seine Jünger daraus gemacht haben, ist beiden
Seiten nicht bekommen.
Die Café-Bar „No Limit“, kurz vor dem tollen Impro- und Jazzladen KM28, ist
scheinbar an ihr eigenes Limit geraten, sie zeigt sich zugesperrt. Einige
Gehminuten noch, und die Karl-Marx-Straße führt linker Hand zum
Karl-Marx-Platz. Ein interessanter Ort: Der ehemalige Hohenzollernplatz ist
im Februar 1950 umbenannt worden, zwei Monate, nachdem in Ost-Berlin die
Große Frankfurter Straße zusammen mit der Frankfurter Allee in Stalinallee
umbenannt worden waren. Das ist die heutige Karl-Marx-Allee.
Zu Karl im Westen gehört das Musikhaus Bading. Seit 1919 versorgte die
Musikalienhandlung an der Straßenecke gegenüber vom Platz Berlin mit
Schallplatten, Musikinstrumenten und allem, was dazugehört. In der
Silvesternacht 2017/18 brannte das Geschäft nach einem Angriff mit
Feuerwerkskörpern aus. Die Fassadenreklame ist noch weithin zu sehen. Und
es geht unter der Adresse wieder um Musik: Ein Synthesizer-Fachgeschäft ist
eingezogen. Ich habe einige Minuten vor dem erleuchteten Schaufenster
verbracht und den Minimoog bewundert, der dort auf einem alten
Röhrenfernseher drapiert ist.
Mit elektronischer Musik klang der Sonntag aus. Seit Dezember hat das Label
Karlrecords, es hat 2018 zum 100. Geburtstag von Karl Marx ein Doppelalbum
veröffentlicht, im Arkaoda am Karl-Marx-Platz eine Konzertreihe
ausgerichtet. Den vierten und letzten Abend bestritten die australische
Komponistin Jasmine Guffond und der kanadische Experimentalmusiker Aidan
Baker. Guffond präsentierte Sakrales und Sirenenhaftes und setzte auf
impressionistische Einwürfe in lange, flächige Klangblöcke. Bakers Auftritt
geriet geräuschvoller und mündete in uhrwerkartige, tieftönende
Gitarrenschleifen. Beider Musik bezieht ihre Stärke aus ihrer Umsicht. Auf
dem Rückweg, kurz vor der U7, habe ich nochmal einen Blick auf das
Springbrunnenensemble vom Karl-Marx-Platz geworfen. Die Figuren des
Bildhauers Hartmut Bonk, 1987 anstelle eines Marx-Denkmals errichtet, sind
ein Pferdemensch, ein tanzendes Paar und zwei im Streit Verstümmelte. Eine
Figur steht abseits. Sie scheint zu warten, und sie könnte zuhören. Die
sollten wir uns merken.
28 Mar 2023
## AUTOREN
Robert Mießner
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