# taz.de -- Wahlkampagnen zum Referendum: „Die Unentschlossenen sind wichtig�… | |
> Das Verfassungsreferendum rückt näher. Wie steht es um die Ja- und | |
> Nein-Kampagnen? Wir sprachen mit dem politischen Berater Osman Suat | |
> Özçelebi. | |
Bild: Weltfrauentag in Istanbul, 2017. | |
Osman Suat Özçelebi ist Gründer und Leiter der politischen Beratungsagentur | |
SİTA in Istanbul. Bei allen Parlaments- und Regionalwahlen seit 1992 hat er | |
Kandidaten verschiedener Parteien beraten. Özçelebi, der eine Weile auch | |
als Wirtschaftskorrespondent der Tageszeitung Hürriyet tätig war, berät | |
auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir haben mit ihm über den | |
Wahlkampf im Vorfeld des Verfassungsreferendums gesprochen. | |
## taz: Herr Özçelebi, der Ton in der türkischen Politik verhärtet sich in | |
jüngster Zeit. Wie bewerten Sie als politischer Berater diese Entwicklung? | |
Osman Suat Özcelebi: Der politische Diskurs hat sich weit entfernt von | |
einer einenden hin zu einer destruktiven Rhetorik. Das verschärft die | |
Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Lagerpolitik spaltet auch die | |
Bevölkerung in Lager, als gäbe es keine politischen Gegner, sondern nur | |
„Feinde“. Das Sprachniveau ist sichtlich gesunken. | |
## Inwieweit hat das mit dem anstehenden Verfassungsreferendum zu tun? | |
Die Eventualität einer grundlegenden Systemveränderung durch das Referendum | |
verstärkt natürlich die Anspannung. Eine Verfassungsänderung während des | |
Ausnahmezustand, in dem Menschen nicht die Freiheit haben, sich über die | |
entsprechenden Änderungen zu informieren und diese zu diskutieren, ist | |
beunruhigend. Auch das verschärft den politischen Ton. Meines Erachtens | |
nach wird die Durchführung einer derart wichtigen Verfassungsänderung | |
rückblickend für alle Beteiligten eine Schande sein. | |
## Wie sieht politische Beratung in der Türkei aus? | |
Politische Kommunikationsberatung ist nicht nur die Arbeit von | |
Werbemenschen während einer Wahlkampfperiode. Wir führen auch Studien | |
durch, erstellen politische Beobachtungsdiagramme, politische Analysen, | |
stellen Medienkontakte her, managen Krisen für Kandidaten und deren | |
Parteien. | |
## Für wen arbeiten Sie gewöhnlich? | |
Wir haben den Grundsatz, dieselbe Distanz, beziehungsweise Nähe zu allen | |
von der Verfassung anerkannten politischen Parteien und deren Kandidaten zu | |
haben. Und wir arbeiten nicht nur für Parteien, sondern für alle Menschen, | |
die sich mit Politik beschäftigen. Unser Klientel umfasst auch | |
zivilgesellschaftliche Organisationen. | |
## Es scheint gar nicht so klar zu sein, welche Lager sich nun eigentlich | |
für eine Verfassungsänderung aussprechen. So haben zum Beispiel | |
Regionalgruppen der rechtsextremen MHP, die gemeinsam mit der | |
Regierungspartei AKP den Verfassungsentwurf erarbeitet hatte, verkündet, | |
sie würden beim Referendum mit „Nein“ stimmen. Was sind ihre | |
Einschätzungen? | |
Eigentlich ist das aus demokratischer Sicht eine positive Erfahrung für die | |
Türkei, eine Reihe von unmöglichen Allianzen. Schließlich gesellen sich im | |
Nein-Lager neben die genannten regionalen Gruppierungen der MHP auch | |
Sozialisten, die prokurdische HDP, islamistische Oppositionelle und die | |
CHP. Es ist eine Prüfungsphase für alle Kritiker des parlamentarischen | |
Regimes. Doch hinter der Regierungspartei AKP steht eine ganze | |
Werbeindustrie, es bräuchte eine ähnlich große Partei, die sich dagegen | |
stellt. Während das Ja-Lager keine Ressourcenprobleme hat, steht die | |
gegnerische Seite unter enormem Druck. | |
## Welche konkreten Ressourcen fehlen dem Nein-Lager? | |
Sie sind nicht genügend in den Medien vertreten. Bei solchen Kampagnen ist | |
das nationale Fernsehen von großer Bedeutung. Auf Anordnung des Fernsehrats | |
muss während des Ausnahmezustands für die Berichterstattung über aktuelle | |
Ereignisse stets die Genehmigung durch öffentliche Autoritäten eingeholt | |
werden. Das erscheint wie eine eigens für die Gegner des Referendums | |
eingerichtete Methode. Die Regierung hatte kürzlich die Regelung, allen | |
Parteien die selbe Sendezeit einräumen zu müssen, durch ein Notstandsekret | |
aufgehoben. | |
## Wie bewerten Sie die aktuell laufenden Kampagnen? | |
Ich halte den Reaktionsmus der Ja-Kampagne für falsch. Vor allem die | |
Gleichsetzung der Nein-Sager mit Putschisten ist eine | |
Einschüchterungstaktik. Dies widerspricht der bisherigen Kampagnenführung | |
der AKP, die mal proaktiv und projektorientiert war. Die Abwesenheit des | |
früheren Kampagnenchefs Erol Olcok ist deutlich zu spüren. Er wurde im | |
vergangenen Sommer mit seinem Sohn während des Putschversuchs getötet. | |
## Die Ja-Kampagne scheint vor allem über Erdoğans populistische Rhetorik | |
zu laufen. | |
Das stimmt. Erdoğan verhält sich immer weniger wie ein Stratege, sondern | |
ist damit beschäftigt dieses eine Ergebnis zu retten und scheint dabei | |
seine zukünftigen Ziele aus den Augen verloren zu haben. | |
## Finden Sie die Nein-Kampagne überzeugender? | |
Ich beobachte zumindest einen Pluralismus, bei dem niemand einander auf die | |
Füße tritt. In den Sozialen Medien steckt viel Bewegung, es werden sehr | |
kreative Memes und Videos produziert. Doch inwieweit sich das auf Kampagnen | |
im unmittelbaren Lebensraum, in Wohngegenden widerspiegelt, ist unklar. | |
## Es heißt, das Referendum könnte abgesagt werden. Was könnte das bei den | |
Menschen auslösen? | |
Es gibt diese Gerüchte. Ähnlich verschwörerisch wie, dass Wahlumfragen | |
nicht veröffentlicht werden. Dabei werden sie veröffentlicht. Ich | |
persönlich denke, es ist unwahrscheinlich, dass das Referendum abgesagt | |
wird, es sei denn ein Krieg bricht aus. Aber es ist noch fast ein Monat bis | |
zum Referendum und ich kann nicht verneinen, dass seltsame Dinge in dieser | |
Zeit geschehen könnten. In einem Land, in dem die eigenen Militärflugzeuge | |
das Parlament bombardieren, wie unglücklicherweise am 15. Juni 2016 | |
geschehen, ist leider nichts auszuschließen. | |
## Wie bewerten Sie, dass Politik derzeit in der türkischen Gesellschaft | |
allgegenwärtiges Gesprächsthema ist? | |
Ich sehe das gar nicht so, dass überall über Politik gesprochen wird. Egal, | |
wie politisiert die Bevölkerung ist, die meisten Menschen sind am Ende mit | |
sich selbst beschäftigt. Das Tagesgeschehen wird von Arbeitslosigkeit und | |
Terrorangst dominiert. Es gibt 15 bis 20 Prozent unentschlossene | |
Wähler*innen. Einer aktuellen Studie zufolge, wird eine große Mehrheit der | |
jungen Wähler*innen eventuell nicht zur Wahl gehen. | |
Viele glauben nämlich, dass ihre Stimme keinen Einfluss auf das | |
Gesamtergebnis haben wird. Mit einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent hinkt | |
die Türkei anderen westlichen Ländern sowieso hinterher. Die Beteiligung | |
spielt also eine Schlüsselrolle bei dieser Wahl. Ebenso die | |
Unentschlossenen und Wahlbeobachtung. | |
## Wie steht es um den Wahlkampf in der Diaspora? | |
Ich denke nicht, dass die polemischen Auseinandersetzungen mit Deutschland | |
oder anderen EU-Staaten aufhören werden. Es ist vielsagend, dass Holland | |
diese diplomatische Krise auch für den eigenen Wahlkampf genutzt hat. Zum | |
Glück sind die Wahlen in Deutschland erst im September, sonst hätten wir | |
wahrscheinlich derartige Peinlichkeiten auch in Deutschland erlebt. Die | |
Auslandswähler*innen wurden auf einen Nenner gebracht, die AKP hat eine | |
augenfällige Vormachtstellung errungen. Das Nein-Lager muss sich auf die | |
Erstwähler*innen konzentriert, um einen Wechsel zu erringen. | |
## Was braucht es, um die politischen Spannungen in der Türkei zu lockern? | |
Das Lagerdenken muss dringend aufhören. Statt einer neuen Verfassung | |
sollten darüber diskutieren, wie wir das parlamentarische System, ähnlich | |
wie in einigen EU-Staaten, durch die Änderung von Partei- und Wahlgesetzen | |
demokratisieren können. Das wird die Vormundschaft und die Oligarchie der | |
Parteivorsitzenden beenden, und den Willen der Bevölkerung in die Regierung | |
tragen, wo Abgeordnete tatsächlich das Volk repräsentieren. Zudem kann eine | |
Demokratie nicht im Ausnahmezustand regiert werden. | |
28 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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