# taz.de -- Von moralischem Totalitarismus: Hören Sie auf, Sie beleidigen uns! | |
> Svenja Flaßpöhler spricht mit taz FUTURZWEI über militante Intoleranz von | |
> dauerbeleidigten Identitätslinken. | |
taz FUTURZWEI: Stellen wir sofort die Greta-Frage der Gegenwart, Frau | |
Flaßpöhler: Haben wir es mit Identitätspolitik übertrieben? | |
SVENJA FLAßPÖHLER: Zunächst einmal: Klar sollen und dürfen benachteiligte | |
Gruppen um Anerkennung kämpfen. Und dafür müssen sie sich nun mal als | |
Gruppe benennen. Aber es gibt einen Punkt, an dem dieser Kampf zu | |
gesamtgesellschaftlicher Zersplitterung führt. Dieser Punkt ist eindeutig | |
erreicht. Und zweitens vermisse ich bei denen, die diesen Kampf führen, ein | |
gesundes Maß an Selbstdistanz. Und Reflexion darüber, dass »Identität« | |
gerade in der linken Theoriebildung ein hoch problematisches Konzept ist. | |
Dann machen wir mit einem Zitat der Schriftstellerin Eva Menasse weiter: | |
»Verdiente Wissenschaftler, die als Nazis, Lyriker, die als Sexisten, | |
Sprachforscher, die wegen ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit | |
Ressentiment und Vorurteil als Vorurteilsverbreiter diffamiert werden, in | |
den meisten Fällen losgetreten von Studenten, also von jungen Menschen, die | |
intelligent, gut ausgebildet, vernetzt und kreativ in ihren Protestformen | |
sind, aber offenbar unfähig, ihre eigene militante Intoleranz zu erkennen.« | |
Gehen Sie da mit? | |
Da gehe ich schon allein deshalb mit, weil ich diese Militanz am eigenen | |
Leib erfahre. Seit meinem Buch Die potente Frau gelte ich in linken Kreisen | |
als rechtsreaktionär. Wenn das nicht so traurig wäre, wäre es eigentlich | |
ziemlich lustig. Aber es gibt noch etwas, das mich gegenwärtig schwer | |
beunruhigt: Nämlich die Unfähigkeit, Ambivalenz auszuhalten. Also: dass ein | |
Mensch zum Beispiel zugleich ein exzellenter Musiker, aber auch | |
Kinderschänder sein kann. Das führt letzten Endes zu dem Reinheitsgedanken: | |
Michael Jackson muss aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt werden. Und die | |
Kunstwerke selbst müssen natürlich auch rein sein, weil man sich sonst | |
belästigt fühlt. Da zeigt sich eine neue Form von Sensibilität ... | |
Sensibilität ist freundlich formuliert. | |
Aber der Begriff ist interessant! Wir sind als moderne Subjekte mit einer | |
sensiblen Außengrenze ausgestattet: Wann tangiert mich etwas? Was verletzt | |
mich? Wird durch dieses oder jenes meine Würde angetastet? An diesen | |
Formulierungen merkt man schon, wie zentral das Fühlen und Empfinden für | |
uns ist. Sensibilität ist der Motor des Anerkennungskampfes von | |
unterdrückten Gruppen. Aber sie kann eben auch vom Progressiven ins | |
Regressive kippen und zu moralischem Totalitarismus führen, um einen | |
Ausdruck von Thea Dorn zu verwenden. | |
Das Menasse-Zitat drängt eine unangenehme historische Parallele auf, weil | |
ja auch für die NSDAP die Studentenschaft eine extrem avantgardistische | |
Gruppe gewesen ist. Da wird einem schummerig, wenn man darüber nachdenkt, | |
dass so eine Form von Reinheits-Totalitarismus genau von den | |
»intelligenten« Eliten vorgetragen wird. | |
Stimmt. Ich würde aber sagen, das ist eine andere Logik. Der moralische | |
Totalitarismus resultiert aus einem vermeintlichen Humanismus. Eben einer | |
Sensibilität für die Unterdrückung der eigenen Gruppe oder die | |
Unterdrückung anderer Gruppen. Das unterscheidet die linksliberale Elite | |
oder auch linke Studierende von Nazis oder von Burschenschaften. | |
Ist das wirklich so? | |
Der zentrale Unterschied ist doch der: Der Faschismus wendet sich gegen | |
Minderheiten, gegen Schwache. Wenn aber zum Beispiel Studierende dafür | |
kämpfen, dass ein Eugen-Gomringer-Gedicht von der Wand ihrer Hochschule | |
verschwindet, dann ist der Feind der weiße, erfolgreiche Mann. Dreh- und | |
Angelpunkt ist also das Verhältnis von Privilegierten und | |
Nichtprivilegierten. Oder auch: von Betroffenen und Nichtbetroffenen. Es | |
gibt im Feminismus die sogenannte Standpunkttheorie, die besagt, dass jede | |
Position an einen Standpunkt gebunden ist, aber dass die Unterdrückten | |
einen objektiveren Zugang zur Wahrheit haben, weil sie viel mehr sehen als | |
die privilegierte Gruppe, die gar kein Interesse an einer höheren | |
Erkenntnis hat. Sicher ist es richtig, dass ich nicht weiß, wie es ist, | |
eine schwarze Hautfarbe zu haben. Insofern kann mich die Sicht eines | |
dunkelhäutigen Menschen, der tagtäglich Diskriminierung erfährt, zu neuen, | |
wertvollen Einsichten führen. Problematisch finde ich aber, wenn Menschen, | |
die keiner solch unterdrückten Gruppe angehören, unterstellt wird, dass sie | |
zu bestimmten Themen nichts Wertvolles sagen können. Ich als weiße, | |
heterosexuelle Frau in einer Führungsposition habe in bestimmten | |
Themenkomplexen ganz schlechte Karten. | |
Wer verbietet Ihnen, Ihre Argumente zu bringen? | |
Im juristischen Sinne natürlich niemand, aber im moralischen Sinne würden | |
mir manche Leute gerne den Mund verbieten. Kleines Beispiel: Ich habe vor | |
einigen Wochen bei einer Debatte im Literarischen Colloquium Berlin | |
versucht, meine Haltung zur gendergerechten Sprache darzulegen, die | |
ambivalent ist. Ich habe versucht, einen Denkraum zu eröffnen und das | |
Publikum zum offenen Austausch einzuladen. Unter anderem war Lann | |
Hornscheidt da, begleitet von zwei exakten Kopien seiner selbst, gleiches | |
Hemd, gleiche Frisur, beide sahen genauso aus wie er, hat mich schon etwas | |
belustigt, diese Uniformierung ... | |
Hornscheidt ist laut Website »Profess_x für Gender Studies und | |
Sprachanalyse«. Spezialgebiet: geschlechtsneutrale Sprache. Warum sagen Sie | |
»der Lann Honnscheidt«? | |
Hätte ich »das Lann Hornscheidt« sagen sollen? Hier zeigt sich, dass | |
Sprache widerspenstig ist, dass sie eine historisch gewachsene, | |
grammatikalisch-semantische Eigenlogik hat und sich nicht dem | |
emanzipatorischen Willen einzelner unterwirft: »Das« klingt eben extrem | |
verdinglichend, und ich will niemanden verdinglichen. Ich hätte natürlich | |
auch »die Lann Hornscheidt« sagen können. Dann hätte ich mich am | |
biologischen Geschlecht orientiert. Als Frau, die durch die | |
poststrukturalistische Theoriebildung gegangen ist, habe ich mich ganz | |
subversiv für »der« entschieden. Aber zurück zu meiner kleinen Geschichte: | |
Im LCB damals waren auch junge Feministinnen. Die haben überhaupt nicht | |
ausgehalten, dass da jemand auf der Bühne auch die kritische Seite der | |
gendergerechten Sprache beleuchtet. Also etwa die Frage stellt, wie offen | |
Sprache für die Forderungen einzelner ist, so oder so angeredet zu werden. | |
Die aggressiven Zwischenrufe kulminierten dann in dem Satz: »Hören Sie | |
endlich auf, Sie beleidigen uns!« | |
Das war das Ende des Debatten-Diskurses? | |
Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht | |
zu denken. Das würgt alles ab. | |
Das Neue ist, dass das jetzt auf der rechten Seite gespiegelt wird. Der | |
weiße, alte Arbeitermann ist oder fühlt sich kulturell und sozial | |
entprivilegiert. Der will auch über seine Gefühle als Opfer sprechen. Das | |
prallt jetzt aufeinander. | |
Klar. Auf der rechten Seite wird der Opfergestus auch gern nach vorne | |
gespielt. Ein Satz wie »Hören Sie endlich auf, Sie beleidigen uns!« scheint | |
mir aber doch eine eher linke Rhetorik zu sein. Das Opfer im rechten | |
Diskurs ist eines, das mit Stärke assoziiert ist. Denken Sie an Nietzsche, | |
da sind die Herrenmenschen zwar Opfer von Ressentiment und Sklavenmoral, | |
aber fürs Beleidigtsein sind sie dann doch zu stolz. | |
Ich war unlängst auf einer Tagung zum Thema Krieg und habe dort einen | |
Vortrag zum Thema »Vergewaltigung als Kriegswaffe« gehalten. Da meldete | |
sich eine Studentin und fragte ganz empört, warum ich keine Triggerwarnung | |
ausgesprochen hätte. Ich habe sie gefragt: »Haben Sie auf den | |
Veranstaltungstitel geguckt? Glauben Sie, dass Vergewaltigung kein Mittel | |
des Krieges ist? Darf man dann darüber nicht sprechen? Möchten Sie gewarnt | |
werden davor?« Sofort sprang ihr eine Professorin bei und sagte: »Das kann | |
man jetzt aber hier nicht verhandeln.« Dann sagte ich: »Das kann man | |
allerdings verhandeln, denn das ist eine wissenschaftliche Veranstaltung.« | |
Das ist ja doch interessant, wie diese Macht funktioniert. | |
Interessant ist auch, mit welcher Bereitwilligkeit Institutionen diese | |
Logik stützen. In der heißen Phase der #MeToo-Debatte hat sich gezeigt, wie | |
weit die institutionelle Unterwerfungsbereitschaft geht. Ein gutes Beispiel | |
ist Gebhard Henke, ehemals Fernsehchef beim WDR, der aufgrund von anonymen | |
Anschuldigungen, sexuell belästigt zu haben, vorzeitig in den Ruhestand | |
entlassen wurde. | |
Eine fristlose Kündigung wurde vom WDR später zurückgenommen, man einigte | |
sich auf Beendigung der Zusammenarbeit wegen eines »fehlenden | |
Vertrauensverhältnisses«. | |
Aus der Angst heraus, dass die Institution Schaden nimmt aufgrund der | |
gesamtgesellschaftlichen Wucht von #MeToo, wurde dieser Mann vorzeitig und | |
ohne jeden Beweis seiner Schuld entlassen. Henke hat mir bei einem Treffen | |
erzählt, er ist sozial im Grunde tot. Da wird institutionell ein | |
vorauseilender Gehorsam geleistet, der Existenzen kaputt macht. Zur | |
#MeToo-Debatte könnte ich jetzt natürlich einiges sagen. | |
Vielleicht einen Absatz. | |
Abgesehen davon, dass die Auswüchse von #MeToo mit Rechtsstaatlichkeit | |
nichts mehr zu tun haben, hat sich Feminismus in eine Opferrolle | |
hineingetwittert, die so schlicht nicht mehr vorliegt. Wir leben nicht mehr | |
im Patriarchat, sondern in einer extrem vielschichtigen Übergangsphase. Es | |
gibt noch real existierende Unwuchten, sicher. Aber wir Frauen sind doch | |
konstitutiver Teil dieser Unwuchten ... | |
Dafür wurden Sie von anderen Feministinnen besonders hart kritisiert. | |
Weil eben diese Feministinnen mein Buch nicht vernünftig gelesen haben, ich | |
habe mit keinem Wort behauptet, dass Frauen selbst schuld sind, wenn sie | |
vergewaltigt werden. Sondern ich fordere, dass auch Frauen eine kritische | |
Distanz zu sich selbst einnehmen, anstatt nur #MeToo zu tippen und auf den | |
Mann zu zeigen. Wir haben ganz bestimmte Verhaltensweisen inkorporiert in | |
den Jahrhunderten des Patriarchats: Passivität, Gefallsucht, | |
Minderwertigkeitsgefühle. Das führt dazu, dass wir uns auch in Situationen, | |
in denen wir die Möglichkeit hätten, autonom zu handeln, genau das oft | |
nicht tun. Wenn mich ein Vorgesetzter fragt, ob ich mit ihm auf einem | |
Hotelzimmer ein Bewerbungsgespräch führe, kann ich selbstverständlich ganz | |
souverän sagen: Nein, danke. Wenn dann eingewendet wird: Ja, aber dann | |
kriegt die Frau doch den Job nicht! Dann muss ich sagen: Ja, das ist | |
Autonomie. | |
Zum eigenen Nachteil Entscheidungen treffen? | |
Ja, natürlich. Die Menschheitsgeschichte wäre keinen Millimeter | |
vorangekommen, wenn die Menschen immer nur dann autonom gehandelt hätten, | |
wenn es gerade gut passt. | |
Wenn ich mich jetzt aber dafür entscheide, mich hochzuschlafen, um in eine | |
mächtigere Position zu kommen, ist das okay? Oder schwäche ich damit den | |
feministischen Machtkampf? | |
Wenn man mit wem auch immer aus freien Stücken schläft, muss man dazu | |
stehen und darf hinterher nicht sagen: Der hat mich aber gezwungen. Und | |
hochschlafen, das sagt man so. Wenn eine Frau Sex mit ihrem Vorgesetzten | |
haben will, bitte. Das als unfeministisch zu bezeichnen, da fängt die | |
Prüderie doch schon an. Da kommen wir schnell in Teufels Küche. | |
Gibt es den Teufel eigentlich auch in weiblicher Form? Ist das Teil | |
irgendeines Diskurses oder darf der als einziger männlich bleiben? | |
Das weiß ich nicht, aber es gibt ganz sicher eine weibliche Form von | |
Gewalt. Mich hat jedenfalls von Anfang an skeptisch gemacht, dass alle, | |
wirklich alle #MeToo super fanden, von Alice Schwarzer und Angela Merkel | |
über Giovanni di Lorenzo bis hin zur linken Feministin in Neukölln. Da wird | |
eine Quasireligion aufgebaut und wer es wagt, die zu kritisieren, ist | |
rechtsreaktionär. Das hat nichts mit einem offenen, liberalen, | |
demokratischen Diskurs zu tun. | |
Wenn jetzt von rechter Seite aus faschistoide Vorstellungen wieder als | |
wünschenswert artikuliert und als politisch durchsetzbar gedacht werden und | |
von einer sich als progressiv verstehenden Seite der Gesellschaft auch das | |
Reinheitspostulat kommt, wo bleibt denn der autonome Raum? | |
Da kann ich jetzt mal als Betroffene antworten. Dass meine Thesen streitbar | |
sind, ist doch völlig klar. Aber was mich erschreckt hat, ist, dass manche | |
Leute wegen meines #MeToo-Buches den Diskurs mit mir verweigern. Als wäre | |
ich ein Nazi. | |
Was für Leute sind denn das? | |
Zum Teil Bekannte, die demselben Milieu entstammen. | |
Und sich als aufrechte Linksliberale verstehen? | |
Aufrecht weiß ich jetzt nicht, aber linksliberal sicher. Die Grenze des | |
Sagbaren wird eng gezogen. Das so zu formulieren ist natürlich in sich | |
schon wieder hakelig, weil das eine rechte Rhetorik ist: »Das wird man ja | |
nochmal sagen dürfen.« Das Schlimme ist aber, dass ich in den letzten zwei | |
Jahren in Situationen gekommen bin, in denen mir genau dieser Satz auf der | |
Zunge lag: Das werde ich ja wohl nochmal sagen dürfen. | |
Womit man an dem wirklich brisanten Punkt der Verengung des politischen | |
Raumes ist. Aber man kommt auch bei dem Versuch, eine rationale Ebene | |
einzuziehen, schon wieder in die Falle, dass man gezwungen wird, das | |
Falsche zu sagen, weil der Raum nicht mehr da ist. | |
Das hat mit dieser Standpunkttheorie, mit dieser Betroffenheit zu tun. | |
Sobald man anfängt, reflexive Distanz zu fordern, fängt das Problem schon | |
an, weil der oder die Betroffene dann sagt: Aber das verletzt mich doch! Es | |
gibt einen Unwillen, genau diese sachbezogene Distanz zu sich selbst | |
einzunehmen, die aber leider die Voraussetzung für eine sachgetriebene | |
Debatte ist. Warum schaffen wir es nicht mehr, Thesen in den Raum zu | |
stellen und dann von allen Seiten zu betrachten? Und noch ein Satz zur | |
Standpunkttheorie: Es ist ja gerade notwendig, dass am Diskurs auch | |
Menschen teilnehmen, die nicht unmittelbar betroffen sind. Sie haben | |
nämlich den Vorteil, sich aus der eigenen Betroffenheit nicht herauslösen | |
zu müssen und vielleicht Aspekte zu sehen, die Betroffene nicht sehen. | |
Deshalb würde ich sagen: Die Betroffenenperspektive kann extrem bereichernd | |
sein für einen Diskurs. Aber sie kann auch in krudesten Narzissmus münden, | |
weil man alles auf sich bezieht. | |
Das ist das intellektuelle Äquivalent zum Selfie. | |
Ja, wobei man da immerhin noch eine Armlänge Abstand halten muss zu sich | |
selbst. | |
Dahinter steckt doch ein eklatanter Mangel an Liberalität. Die | |
Linksliberalen sind nicht mehr liberal. Das Problem einer | |
gesellschaftlichen Konsensverschiebung besteht ja darin, dass es alle | |
beteiligten Gruppen umfasst. Die Identität der Mechanismen der Ausgrenzung, | |
der Delegitimierung, der Selbstbezüglichkeit, der Selfie-Kultur, das ist ja | |
etwas, was in allen gesellschaftlichen Gruppen Diskurs verengt oder | |
verunmöglicht. Das sind immer Spiegelungen. Wenn ich das schon immer höre, | |
dass man ja aber auch die Rechten ernst nehmen und in Dialog treten muss, | |
das ist ja auch nur Kennzeichnung dieses Phänomens. | |
Da halte ich dagegen und sage, dass diese Habermasche A-priori-Ausgrenzung | |
von bestimmten Positionen letzten Endes zu einem linken Elitismus führt, | |
der sehr gefährlich ist, weil man dem anderen immer schon von vornherein | |
abspricht, überhaupt diskursfähig zu sein. Ich bemühe mich, rechte | |
Positionen zu verstehen, aber im Sinne von Hannah Arendt. So, wie Arendt | |
versucht hat, den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann zu verstehen, ohne | |
ihn zu rechtfertigen oder irgendwas zu entschuldigen. | |
Aber Verstehen ist was anderes als in Dialog zu treten. | |
Na ja, Verstehen setzt schon voraus, dass ich mir die andere Position erst | |
mal anhöre. Das Kriterium wäre für mich vielmehr, ob die andere Seite auch | |
bereit ist zuzuhören und ob grundsätzlich ein Erkenntnisinteresse besteht. | |
Wenn wir jetzt schon bei Hannah Arendt sind, da sind wir auch bei der | |
Theoriefrage: Wie verstehe ich theoretisch auch die Fähigkeit zur | |
Ambivalenz als Kernbestandteil von moderner Gesellschaft? Gibt es einen | |
relevanten, wirklich gesellschaftsbezogenen Modernisierungsdiskurs? Was ist | |
der theoretische Raum, in dem wir uns da gegenwärtig bewegen? | |
Mir fällt auf, dass die Errungenschaften postmoderner Theoriebildung | |
überhaupt nicht mehr reflektiert und gesehen werden. Differenz zu denken, | |
und zwar radikal, das macht die Moderne im progressiven Sinn theoretisch | |
aus. Und genau diese Errungenschaften werden verraten, wenn man nicht mehr | |
dazu in der Lage ist, den anderen als anderen, mit einer anderen Position, | |
mit einem anderen Standpunkt, anzuerkennen und in einen offenen Diskurs mit | |
ihm zu treten. Stattdessen löst sich alles in einer krassen | |
Selbstbezüglichkeit auf, völlig theoriearm, völlig theorieentkernt. | |
Das zentrale politische und gesellschaftliche Problem hinter dem, was wir | |
besprechen: Wenn die »Linke« nur noch in dieser Form aufzutreten in der | |
Lage ist und füglich davon absieht, was materielle Unterschiede und was | |
gemeinsame Ziele sind: Wo sind dann die Sachverwalter der sozialen Frage? | |
Was an linker Identitätspolitik so gefährlich ist: Man gibt die Möglichkeit | |
preis, sich im Dienste von etwas Höherem, zum Beispiel für soziale | |
Gerechtigkeit, zu solidarisieren. Das hat sich auch gezeigt bei der | |
riesigen »Unteilbar«-Demo, wo dann hinterher beklagt wurde, dass diese oder | |
jene Gruppe da auch mitgelaufen ist. | |
Da müssen wir jetzt mal der historischen Richtigkeit halber sagen, dass die | |
Einzigen, die sich mit »unteilbar« nicht solidarisiert haben, Wagenknecht, | |
Stegemann und Co. waren, weil ihr »aufstehen«-Versuch sich ja dezidiert | |
gegen diese Demo ausgesprochen hat. Die hatten natürlich Schiss davor, dass | |
sie das nicht mit ihrer nationalen Antiflüchtlingshaltung überein kriegen. | |
Apropos Schiss: Es ist absehbar, welche Reaktionen unser Heft und dieses | |
Gespräch bekommen wird. | |
Ich werde oft gefragt: Haben Sie gar keine Angst vor einem Shitstorm? | |
Scheiß auf den Shitstorm. Wenn jetzt schon Journalisten-Kollegen damit | |
anfangen zu sagen, hmmm, wenn ich das jetzt so schreibe, wird die | |
taz-Leserin das nicht liken, dann wird es wirklich gefährlich. Letzten | |
Endes braucht man Arsch in der Hose. | |
Für uns hört sich das etwas machomäßig an. | |
Aber darauf läuft es hinaus. Ernsthaft: Ich finde, dass man differenziert | |
über Dinge reden können muss. Wenn zum Beispiel gefragt wird: »Ist es für | |
die Kinder egal, ob sie von homosexuellen Eltern großgezogen werden oder | |
von heterosexuellen Eltern?«, sind sich alle total einig: Das ist völlig | |
egal. Um es ganz klar zu sagen: Ich finde die Homoehe super, ich bin sehr | |
dafür, dass Homopaare Kinder adoptieren können. Aber eine aufgeklärte | |
Gesellschaft muss in der Lage sein, zu differenzieren. Es macht einen | |
Unterschied, ob ein Kind zwei Väter, zwei Mütter oder einen Vater und eine | |
Mutter hat. Ich rede jetzt nicht davon, dass etwas besser oder schlechter | |
ist, aber es ist ein Unterschied. Warum kann man das nicht sagen? Warum | |
kann man das nicht analysieren? Es gibt eine Angst davor, als reaktionär | |
dazustehen, wenn man in die Differenzierung geht. Das führt zu der krassen | |
Stupidität heutiger Diskurse, in denen ich dann plötzlich eine | |
rechtsreaktionäre Feministin bin. Als Intellektuelle liegt meine zentrale | |
Kompetenz darin, zu differenzieren. Das ist mein Job. | |
Der Begriff »rechtsreaktionär« scheint Sie schon zu wurmen? | |
Natürlich wurmt mich das, natürlich sehe ich mich nicht so. Aber es ist | |
symptomatisch für unsere Zeit. Die Unfähigkeit zur Ambivalenz und die | |
Unfähigkeit zu differenzieren hängen ganz eng zusammen. | |
Dieses Interview ist in [1][taz FUTURZWEI N°9] erschienen. Die Fragen | |
stellten Peter Unfried und Harald Welzer. | |
18 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Harald Welzer | |
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