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# taz.de -- Synthese von Greifbarem und Gedachtem
> Die Schau „Vertrautheit mit den Dingen“ der bildenden Künstlerin Aenne
> Biermann in der Pinakothek der Moderne München
Bild: Aenne Biermann, Dame mit Monokel, 1928/29 Silbergelatine-Abzug, 17 x 12,6…
Von Annegret Erhard
Leicht verschobene, dynamisierend angeschnittene Bildausschnitte, gekippte
Vogelperspektive, das Framing puristisch: Aenne Biermann hat die Ästhetik
der Meister des Neuen Sehens unmittelbar verstanden, die Bildsprache der
zeitgenössischen Fotografie interpretierte sie Mitte der 1920er Jahre
souverän. Und doch ist da etwas, was über die Virtuosität hinausreicht, das
dem Lebenswerk der Autodidaktin große Eigenständigkeit verleiht. Eine
Intensität, die bis heute wirkt.
In der Ausstellung der Pinakothek der Moderne München sind derzeit gut
hundert ihrer Fotografien aus dem Bestand der Stiftung Ann und Jürgen Wilde
und weiterer Leihgeber wie des Museums Folkwang Essen und dre Galerie
Berinson, Berlin, zu sehen. Dieser komprimierte Querschnitt ist
gleichzeitig auch die Quintessenz ihres Schaffens, denn Aenne Biermann ist
sehr jung gestorben und ihre Archivbestände sind verschollen, mutmaßlich
zerstört.
Auf einem Selbstporträt von 1931 sieht man eine junge, nachdenkliche Frau,
die Haare modern im androgynen Garçon-Schnitt der zwanziger Jahre. Da war
sie bereits zehn Jahre verheiratet mit dem ebenfalls jüdischen
Kaufhausbesitzer Herbert Biermann, lebte mit ihm und den beiden Kindern
großbürgerlich im thüringischen Gera. Über die mütterlich-dokumentarische
Familienfotografie hinaus erwuchs recht bald das Interesse an einer
professionell ausgerichteten Entwicklung ihrer Möglichkeiten und ihres
Talents. Sie richtete sich ein Atelier ein, in dem sie selbstständig
arbeitete und experimentierte. Sie war offenbar gut vernetzt, die
neusachlichen Strömungen waren ihr vertraut, das Bauhaus in Weimar nicht
weit. Ihre Bildleistungen, technisch und im Materialgebrauch stets auf der
Höhe der Zeit, fielen auf. Gekonnte Lichtregie und Detailschärfe
unterstrichen die Plastizität der Sach- und Pflanzenaufnahmen, die
Tautropfen auf dem Blatt einer Königskerze werden zum kristallinen Panzer,
drei Eier auf diagonal schwarz und weiß geteilter Unterlage werfen ihre
Schatten und bilden in Kontrast und Komposition ein abstraktes Ornament.
Biermann interessierte die erweiterte Wahrnehmung der Objekte, sobald sie
aus ihrem Kontext und in eine künstlerische Ebene gebracht werden. Anders,
als es der neusachliche Impetus jener Zeit nach Jahren des expressiv
überfrachteten Pathos fordert, befreit und purifiziert sie nicht, wie man
es im ersten Hinsehen vermuten könnte. Sie ergänzt, kommt zu einer
visuellen Interpretation, die, wie sie einmal sagte, „die Vertrautheit mit
den Dingen“ (so auch der Titel der Ausstellung) fördert. Was sie naturgemäß
von distanzierter Neusachlichkeit entfernt. Sentimental und pathetisch wird
sie dabei nicht. Nüchtern und präzise, das schon.
Das gilt auch für ihre Porträts, die der Kinder und der Freunde. Von
„Lächelnder Mann“, einem eng beschnittenen, geradezu suggestiven Bildnis,
hat sie Ausschnitte, einmal vom Mund, einmal von den Augen, abgezogen, hat
die wesentlichen Merkmale des Gesichtsausdrucks fragmentiert, hat den
Menschen entpersonalisiert. Was bleibt, ist nun der sezierende Blick der
Fotografin. Andererseits (oder deshalb) erkennt und demonstriert Aenne
Biermann die Wirkweise trügerischer Wahrnehmung, zeigt sie auf und
komponiert experimentell und lautlos mit Doppelbelichtungen die Details
eines Flügels. Oder die Sprossen ihres Atelierfensters durchtrennen derart
drastisch den Blick auf den Innenhof und die gegenüberliegende Fassade,
dass der Eindruck einer Collage entsteht.
Franz Roh, Künstler und einflussreicher Publizist, setzte sich früh für
Aenne Biermann ein und ermöglichte ihre Teilnahme an wichtigen
Fotoausstellungen zusammen mit den etablierten Größen der Zeit. Ihre
Arbeiten kamen seiner Definition nach dem „magischen Realismus“, einer
Synthese von Greifbarem und Gedachtem, einer surreal ausgerichteten
Annäherung an das Wesen im Ding, sehr nah. 1930 erscheint der von Franz Roh
besorgte und von dem maßgeblichen Typografen Jan Tschichold gestaltete
Bildband „Aenne Biermann. 60 Fotos“.
Aenne Biermann starb im Januar 1933 im Alter von 34 Jahren. Zur gleichen
Zeit lief die Ausstellung „The Modern Spirit in Photography“ wo auch
Arbeiten von ihr gezeigt wurden. 1938 wird das jüdische Kaufhaus Biermann
in Gera arisiert, die Familie emigriert 1939 nach Palästina. Biermanns
fotografisches Archiv (wohl mit circa 3.000 Negativen) wird auf dem Weg in
Triest konfisziert.
Bis 13. Oktober, Pinakothek der Moderne, München, Di.–So., 10–18 Uhr (Do.
bis 20 Uhr)
29 Jul 2019
## AUTOREN
Annegret Erhard
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