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# taz.de -- Situation in der Ostukraine: Vorboten russischer Besetzung
> Im ostukrainischen Donbas wird die Lage für die verbliebenen Bewohner
> immer gefährlicher. Die russische Armee rückt näher, die Luftangriffe
> nehmen zu.
Bild: Slowjansk nach russischem Luftangriff mit KAB-Bomben, 31. Oktober 2025
Die ostukrainische Stadt Pokrowsk ist aufgrund des massiven Vorstoßes der
russischen Armee in die „graue Zone“ geraten. Aktuell sind bereits drei
Viertel des Gebietes Donezk unter russischer Kontrolle. Im Zentrum des
Widerstandes befindet sich derzeit der Ballungsraum
Slowjansk-Kramatorsk-Druschkiwka-Kostjantyniwka. Kostjantyniwka ist
zerstört, Druschkiwka unter permanentem Beschuss. Nach Kramatorsk fliegen
die unterschiedlichsten Drohnen. Nur Slowjansk ist noch ein vergleichsweise
„sicherer“ Ort. Aber wie lange noch?
Ich habe das Angebot, zum Arbeiten in den Donbas zu fahren, nicht sofort
angenommen. Zuerst habe ich fünf Minuten darüber nachgedacht. Aber dann war
mir klar: Als Journalist muss ich dahin. Das Problem ist nur, dass der
Süden und der Norden des Donbas [1][mit russischen FFP-Drohnen beschossen
werden], die eine immer weitere Reichweite haben.
Außerdem verwendet die russische Armee mittlerweile reaktive Drohnen der
Typen Lancet und Molnyja. Es gab schon Berichte, dass Journalisten 35, 40
Kilometer von der Front entfernt angegriffen wurden. Erst kürzlich wurde
ein Auto ukrainischer Journalisten in Kramatorsk durch Drohnen angegriffen.
„Fahr bloß nicht durch Kramatorsk, da fliegen schon russische FPV-Drohnen“,
erklärt mir ein tschechischer Journalist. Dann verrät er mir die richtige
Route.
## Straßen unter Drohnenbeschuss, Zugverkehr eingestellt
Zwar sind [2][die wichtigsten Straßen im Donbas und sogar schon im Gebiet
Charkiw bereits mit Anti-Drohnen-Netzen ausgestattet], ist es sehr unklar,
wie sicher dieser Schutz wirklich ist. Um nach Slowjansk zu kommen, nehme
ich eine Landstraße. Nicht die beste, aber dafür kam ich ohne Zwischenfälle
an.
Der Zugverkehr in den Donbas wurde übrigens schon eingestellt: Der Zug
„Kyjiw-Slowjansk“ mit meinen Kollegen an Bord fuhr nur noch bis Barwinkowe
im Gebiet Charkiw.
In Slowjansk hingegen herrscht noch immer reges Leben. Die Straßen sind
voller Autos, Cafés, Supermärkte und Haushaltswarengeschäfte sind geöffnet.
Besonders beliebt sind die Orte, an denen man gut und günstig essen kann.
Aber die Zahl der russischen Angriffe steigt, immer mehr Fenster und
Balkone werden nicht mehr instandgesetzt, sondern nur noch mit
Sperrholzplatten vernagelt.
## Ausgangssperre ab neun Uhr abends
„Im Allgemeinen [3][hat sich die Situation in den letzten zwei, drei
Monaten verschlechtert], es gibt mehr Beschuss, mehr Shahed-Drohnen. Die
Russen üben starken Druck auf den Donbas aus und wollen ihn so schnell wie
möglich ganz einnehmen“, sagt Artem, dem hier ein Café gehört. „Aber noch
gibt es hier Leben und Arbeit. Ich denke, es wird noch lange dauern, bis
die Russen kommen. Wir haben Zeit. Wenn sie noch näher kommen, wenn hier in
Slowjansk die Ausgangssperre verlängert wird und noch mehr Leute wegziehen,
dann werde ich auch gehen“, meint er.
Obwohl es in Slowjansk noch ein offenes Hotel gibt, sollte man dort besser
nicht übernachten. Im Donbas ist das zu gefährlich, [4][denn sie werden
regelmäßig und gezielt beschossen, sogar mit Raketen]. Allerdings gibt es
auch in den Wohnungen, in denen wir Journalisten unterkommen, keine
Sicherheitsgarantien. Nebenan wurde ein großes Wohnhaus getroffen, das Dach
und ein Teil der Wände sind eingestürzt.
Auch in „unserem“ Haus sind einige Fenster durch Druckwellen kaputt
gegangen. Um neun Uhr abends beginnt die Ausgangssperre, deshalb versuchen
wir schnell, vorher noch etwas zu essen zu bekommen. Nach Einbruch der
Dunkelheit bemühen sich die Menschen, möglichst wenig Licht in ihren
Wohnungen zu nutzen, um kein Ziel der Drohnen zu werden. Auch wir schalten
das Licht aus und hören von Ferne Geschützdonner. Gegen Mitternacht ist
eine laute Explosion in der Nähe zu hören. Erst am Morgen lesen wir in den
Nachrichten, dass eine KAB-Präzisionsbombe in einem Wohngebiet in
Kramatorsk eingeschlagen ist. Einige Zivilisten sind dabei ums Leben
gekommen.
## Menschen wollen ihr Dorf nicht verlassen
Das kleine Dorf Mykilske in der Nähe von Slowjansk leben in einem anderen
Rhythmus. Die meisten jungen Menschen haben das Dorf verlassen, aber die,
die geblieben sind, können sich ein Leben woanders nicht vorstellen. Seit
2022 sind die Kriegsgeräusche hier ununterbrochen zu hören, die Frontlinie
war schon einmal auf 10 Kilometer herangerückt, aber nach ukrainischen
Gegenangriffen liegt sie jetzt 25 Kilometer entfernt.
Aber der Beschuss geht weiter. Gerade war es wieder besonders stark: „Die
letzte Nacht war schrecklich. Es gab Beschuss mit Streumunition,
Häuserdächer wurden zerstört. Warum? Dort gab es keine Soldaten, nur
Zivilisten. Vielleicht war es keine Absicht, vielleicht doch gezielt? Jetzt
müssen wir uns wie Hasen im Keller verstecken. Niemand will hier weg“,
berichtet Nataliya aus Mykilsk.
Die Bewohner leben trotzdem weiter ihren Alltag. Sie arbeiten im
Gemüsegarten, harken Laub und tratschen. „Wie ist hier bei Ihnen die
Lage?“, frage ich. „Sind die Menschen hier in Panik wegen des russischen
Vormarsches?“ „Panik gibt es hier dauernd“, sagt eine Frau um die fünfzig
lachend.
Der gesprächige alte Vasyl hingegen macht sich überhaupt keine Sorgen über
die aktuellen Ereignisse. Er spricht lieber über die Vergangenheit, über
Spuren des Zweiten Weltkrieges in der Gegend. Hier auf den Hügeln hat er
früher mit anderen Kindern in den ehemaligen sowjetischen Bunkeranlagen und
Schützengräben gespielt. Sie fanden auch Kisten mit Minen und verrostete
Waffen. Dafür gab es schon mal Schläge mit dem Lineal in der Schule.
Der aktuelle ukrainisch-russische Krieg beunruhigt ihn nicht sehr. „Meine
Tochter und mein Enkel leben in Russland. Und meine Enkelin mit meinem
Urenkel“, erzählt Vasyl. „ Wovor soll ich Angst haben? Vor Beschuss? Ich
war lange in der Armee, ich bin das gewohnt. Wenn die Russen kommen, was
sollen sie mir schon tun? Ich bin jetzt 84, ich weiß, wie ich mit ihnen
reden muss …“, meint der alte Mann.
Nach wie vor gibt es keine einheitliche Meinung oder Prognose darüber, ob
Russland den gesamten Donbas erobern wird. Der Kreml fordert sogar Gebiete,
die sie unmöglich eroberen können. Offiziell lehnt die Ukraine das ab.
Einfache Soldaten und die Zivilbevölkerung sind zu etwa gleichen Teilen in
pro und contra gespalten. Aber die Spannung nimmt zu. Ausländische
Sicherheitsexperten raten Kriegsberichterstattern, nicht mehr über Reisen
in den Donbas nachzudenken. Als ich aus Slowjansk abfuhr, hatte ich das
ungute Gefühl, dass es für immer sein könnte. Hoffentlich irre ich mich.
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey]
10 Nov 2025
## LINKS
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[4] /1304-Tage-Krieg-in-der-Ukraine/!6111918
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Artem Perfilov
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