# taz.de -- Sippen-Filme: Feldforschung Familie | |
> Die Familie boomt! Zumindest im Kino. US-Filme setzen auf Versöhnung, der | |
> belgische Regisseur Lafosse auf den kühlen Blick. Für komödiantischen | |
> Furor sorgt Leander Haußmann. | |
Bild: In "Nanny Diaries" analysiert die Anthropologin in spe die Bewohner Manha… | |
Vater und Sohn stehen dicht voreinander, fast berühren sich ihre | |
Oberkörper. Der Sohn weint, zugleich schnaubt er vor Wut. "Sie ist eine | |
Hure. Sie hat dich gefickt, sie wollte nur dein Geld." Der Vater kontert: | |
"Deine Mutter ist keine Hure. Niemand hat sich ficken lassen. Wir haben es | |
versucht, es hat nicht funktioniert, das ist alles." | |
Die Mutter, der Vater, zwei fast erwachsene Söhne, ein großes Haus auf dem | |
Land: Das ist der Rahmen für "Nue Propriété", "Nackter Besitz", einen Film | |
des belgischen Regisseurs Joachim Lafosse. Die Ehe der Eltern ist schon vor | |
Jahren auseinandergebrochen. Die Mutter (Isabelle Huppert) lebt mit den | |
Zwillingen (Jérémie und Yannick Rénier) in dem Haus, der Vater mit einer | |
neuen Frau und einem Kleinkind in der Nähe. Als ein neuer Mann ins Leben | |
der Mutter tritt, gerät das fragile Arrangement ins Wanken. Diese | |
Verunsicherung registriert Lafosses Film. Er dramatisiert sie nicht. Abends | |
sitzt die Kamera mit den Figuren am Esstisch, morgens folgt sie ihnen mit | |
gebotenem Abstand ins Badezimmer, in den Mußestunden stellt sie sich an den | |
Platz des Fernsehers und schaut von dort auf die Couchgarnitur. Ungerührt | |
sieht sie sich an, wie die Brüder um einen Platz im Auto ringen. Und immer | |
hat der Film ein Auge dafür, wie sich das Immaterielle, die Gefühle, mit | |
dem Materiellen, dem Haus, verschränken. | |
Wie fühlt sich Familie heute an? Wie verhalten sich die Bluts- zu den | |
Wahlverwandten, die älteren zu den jüngeren Generationen, die | |
traditionellen zu den alternativen Lebensentwürfen? Was machen die Frauen, | |
was machen die Männer? Was hat das mit gesellschaftlichen Schichten zu tun, | |
und welche Ökonomien entstehen dabei? "Nue Propriété" stellt sich diese | |
Fragen und fügt sich damit in eine Reihe thematisch ähnlich gelagerter | |
Filme, die im August in die Kinos kommen. | |
Aus den USA sind das "The Nanny Diaries" von Shari Springer Bergman und | |
Robert Pulcini sowie "Zurück im Sommer" von Dennis Lee, aus Italien Gianni | |
Zanasis "Nicht dran denken", aus Deutschland Leander Haußmanns "Robert | |
Zimmermann wundert sich über die Liebe". | |
Haußmanns Komödie beschäftigt sich zwar in erster Linie damit, wie der | |
Titelheld (Tom Schilling) der schönen, älteren Monika (Maruschka Detmers) | |
den Hof macht; en passant sorgt Haußmann aber für verschiedene | |
Familienaufstellungen. | |
Monika ist allein erziehend und hat einen pubertierenden Sohn, mit dem | |
Robert sich arrangieren will. Roberts Eltern führen eine Ehe, die am Ende | |
ist, außerdem gibt es eine lesbische Schwester, die ihre Lebensgefährtin | |
damit überrumpelt, dass sie sich von einem Freund hat schwängern lassen. | |
Wer Haußmanns Hang zur Brachialkomik kennt und fürchtet, wird in diesem | |
Film über weite Strecken wenig zu lachen haben. Umso mehr überrascht, wie | |
hemmungslos albern einige Szenen geraten. Das Mechanische der Haußmannschen | |
Komik macht in diesen Augenblicken Platz für wirklichen, entfesselten | |
Nonsens. Nichts ist dem Film dann noch heilig, nicht der Vater mit seiner | |
30 Jahre jüngeren Geliebten, nicht die schmallippige Schwester, nicht deren | |
Freundin, ein merkwürdiges Zwitterwesen aus Butch und Femme, nicht der | |
naive Robert und auch nicht die älteren Herren, die sich bei Monika zum | |
Trivial-Pursuit-Abend einfinden - gespielt werden sie bezeichnenderweise | |
von Leander Haußmann und Detlev Buck, die sich hier nun wirklich nicht mehr | |
ernst nehmen. | |
Von so viel Hohn und Spott sind "Nicht dran denken" und "The Nanny Diaries" | |
weit entfernt. Giannni Zanasis Film bewegt sich vorhersehbar in den Bahnen | |
des Feelgood Movies. Seine Komik schöpft er daraus, dass alle Lebenslügen | |
einer Unternehmerfamilie in der Provinz auf einen Schlag zum Vorschein | |
kommen; seine versöhnliche Note aus musikunterlegten, medleyartigen | |
Sequenzen, die alle Konflikte und Neurosen besänftigen. | |
"The Nanny Diaries" wiederum geht auf den gleichnamigen Bestseller von Emma | |
McLaughlin und Nicola Kraus zurück. Beide haben sich eine Zeit lang als | |
Kindermädchen in New York verdingt, ihre Erfahrungen haben sie zu einem | |
Roman verarbeitet. Im Mittelpunkt von "The Nanny Diaries" steht die von | |
Scarlett Johansson gespielte Annie. Sie ist Anfang zwanzig und weiß nicht | |
recht, welche Richtung sie ihrem Leben geben soll; ihre Mutter, allein | |
erziehende Krankenschwester aus New Jersey, wünscht sich, die Tochter möge | |
Karriere an der Wall Street machen, was bedeutet: gesellschaftlich | |
aufsteigen, das kleinbürgerliche Umfeld hinter sich lassen und so nolens | |
volens die enge Bindung an die Familie preisgeben. | |
Annie selbst träumt von einem Anthropologiestudium, hat aber nicht den Mut, | |
entsprechende Schritte einzuleiten. Durch einen Zufall landet sie bei Mr. | |
und Mrs. X (Paul Giammatti und Laura Linney), einem reichen Paar, das in | |
einem luxuriösen Apartment an der Upper East Side residiert. Fortan wird | |
sie auf den vier Jahre alten Sohn Grayner aufpassen. | |
Was folgt, ist die komödiantisch abgefederte Chronik einer Ausbeutung, auf | |
die sich Annie verblüffend bereitwillig einlässt. Mr. und Mrs. X verkörpern | |
alles, was man an Schlechtem von reichen Menschen denken mag. Gäbe es den | |
Begriff "rich bitch" noch nicht, für Mrs. X müsste er erfunden werden. Sie | |
ist herzenskalt und herrisch, er meist abwesend, was die Wahl des | |
Bildausschnitts mehrmals deutlich zu verstehen gibt: Mr. Xs Kopf | |
verschwindet über dem oberen Bildrand, oder er bleibt hinter einer Zeitung | |
verborgen. Seine Ehefrau betrügt er, seinen Sohn nimmt er nur dann wahr, | |
wenn der die ehrgeizigen Pläne durchkreuzt. Annie fällt in dieser | |
Konstellation vorhersehbar die Rolle zu, Wärme, Lebenslust und Liebe | |
beizusteuern. | |
Der einzige ungewöhnliche Einfall in "The Nanny Diaries" ist, die | |
Protagonistin in manchen Szenen ins Museum für Naturgeschichte zu schicken. | |
Hier begutachtet sie die Dioramen, die das Familienleben indigener Stämme | |
lebensgroß nachstellen, und beginnt, die Bewohner Manhattans zum Gegenstand | |
einer imaginären Feldforschung zu machen. Der ethnologische Blick gilt | |
nicht den Familienstrukturen der Amazonas-Indianer, sondern denen der | |
wohlhabenden Großstädter von der Upper East Side, und die Stimme aus dem | |
Off, die das Geschehen kommentiert, gehört der Anthropologin in spe. | |
Doch diese distanzierte Position wird rasch aufgegeben, vordergründig, weil | |
Annie dem "going native" verfällt, mithin mit ihrem Untersuchungsgegenstand | |
verschmilzt, vor allem aber, weil der Film ohnehin nur ein Ziel anstrebt. | |
Die reichen Egoisten müssen in ihre Schranken gewiesen, müssen erzogen | |
werden. Eine im Herzen kalte Mutter, ein ehebrecherischer Vater: Das darf | |
in der betulichen Spielart des Independent-Kinos, das "The Nanny Diaries" | |
vorstellt, nicht ungestraft bleiben, und so muss zumindest Mrs. X durch den | |
Prozess der schmerzhaften Selbsterkenntnis hindurch. | |
Es ist schon seltsam: Was auch immer Familienfilme wie "The Nanny Diaries" | |
an Versehrungen und Traumatisierungen ausbreiten, am Ende sollen Liebe und | |
Versöhnung die Chose richten. Besonders penetrant macht sich dieser Impuls | |
in Dennis Lees Drama "Zurück im Sommer" bemerkbar. Die Besetzung ist | |
prominent, Julia Roberts, Willem Dafoe, Emily Watson und Carrie-Anne Moss | |
spielen mit. Lees Film breitet ein über mehrere Jahrzehnte reichendes | |
Panorama von Despotie, Entsagung und Verletzung aus. Ein tyrannischer Vater | |
lässt alle anderen Mitglieder der Familie leiden. Obwohl der Film die | |
daraus resultierenden Krisen wieder und wieder in Szene setzt, hat er nicht | |
die Konsequenz, sie als Krisen bestehen zu lassen. | |
"Zurück im Sommer" will einen Ausweg aufscheinen lassen, und angesichts der | |
vorangegangenen Trostlosigkeit reibt man sich die Augen: Ist hier | |
moralischer Furor am Werk, der Liebe noch dort verordnet, wo sie keine | |
Grundlage mehr hat? Oder ein Drehbuchdogma, das die Läuterung zwingend | |
vorsieht? | |
Sowohl im nüchtern registrierenden Modus von "Nue Propriété" als auch im | |
komödiantischen Furor von "Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe" | |
fehlt, wovon "Zurück im Sommer" und "The Nanny Diaries" zu viel besitzen: | |
nämlich eine normative Vorstellung davon, wie Familien zu sein haben. | |
Lafosse und Haußmann agieren jenseits eines moralischen Rahmens, der | |
festlegt, welches Verhalten, welches Gefühl richtig und welches falsch ist. | |
Wenn ein Egoshooter-Spiel dazu dient, dass der Sohn und der neue Geliebte | |
von Monika einander näher kommen, dann gibt es nichts dagegen einzuwenden. | |
Wenn Menschen sich auseinanderentwickeln, hat es wenig Sinn, sie der | |
Katharsis halber aneinanderzuketten. | |
Am Ende von "Nue Propriété" schaut sich die Kamera die leergeräumten Zimmer | |
des großen Hauses an, sie verharrt reglos, fast traurig an Türrahmen, | |
Küchenschränken, Fensterscheiben. Doch sind dies nicht die letzten Bilder, | |
es gibt noch ein langes, bewegtes Travelling; die Kamera fährt, auf der | |
Rückbank eines Autos angebracht, die schmale Straße entlang, weg vom Haus, | |
das tatsächlich bald hinter einem Hügel, also aus dem Sichtfeld | |
verschwindet. Der Blick geht jetzt zwar immer noch zurück, die Fahrt aber | |
nach vorn, und vielleicht ist das ein wunderbares Bild dafür, wie sich die | |
Frage von Herkunft und Aufbruch lösen lässt. | |
6 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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