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# taz.de -- Fünf Tage der Wut
> Ousmane Sonko und die neue Jugendrevolte im Senegal
Bild: Dakar, 8. März: Proteste gegen die Instrumentalisierung der Justiz
von Ndongo Samba Sylla
Am 3. März wurde Ousmane Sonko, der populäre Vorsitzende der
senegalesischen Oppositionspartei Patrioten für Arbeit, Ethik und
Brüderlichkeit (Pastef), wegen des Vorwurfs der wiederholten Vergewaltigung
mit Todesdrohung verhaftet. Während Sonko die Anschuldigungen der jungen
Klägerin Adji Sarr abstritt und von einer politisch motivierten Festnahme
sprach, strömte seine junge Anhängerschaft zwischen dem 4. und 8. März in
Massen auf die Straße.
Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und der Polizei
in der Hauptstadt Dakar kamen nach Angaben des Sonko-Lagers 11
Protestierende ums Leben. Auch in der Diaspora wurde Sonko unterstützt –
allerdings mit friedlichen Demonstrationen und Social-Media-Kampagnen.
Der 46-jährige Abgeordnete und ehemalige Finanzbeamte Sonko kam bei den
letzten Präsidentschaftswahlen 2019 auf den dritten Platz. Und seitdem der
damals Zweitplatzierte, Idriss Seck, letztes Jahr ins Lager des Präsidenten
wechselte, führt Sonko die Opposition gegen Präsident Macky Sall an.
Sonkos Stern strahlt umso heller, je mehr die traditionellen politischen
Parteien an Ansehen verlieren. Das Pastef-Programm richtet sich nicht
zufällig vor allem an junge Menschen: Über 60 Prozent der Bevölkerung in
dem rund 16 Millionen Einwohner zählenden Land sind jünger als 25 Jahre.
Die Pastef verspricht politischen Wandel, sie will die endemische
Korruption bekämpfen und propagiert wirtschaftliche und monetäre
Souveränität, ohne jedoch klar und deutlich zu fordern, dass Senegal aus
der westafrikanischen Gemeinschaftswährung CFA-Franc austreten soll.
Im Senegal waren Volksaufstände gegen die Exekutive oft das letzte Mittel,
wenn die üblichen Vermittlungsversuche, insbesondere durch die religiösen
Führer, nicht fruchteten. Im Mai 1968 etwa erschütterten die
Studentenunruhen die Regierung von Léopold Sédar Senghor bis in ihre
Grundfesten. Und im Juni 2011 löste das Gerücht, Präsident Wade wolle
seinen Sohn Karim zu seinem Nachfolger machen, eine enorme Mobilisierung
aus.
Diesmal ging der Protest jedoch nicht von den bekannten Gruppen aus, also
den Oppositionsparteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen
Initiativen. Diese wurden vielmehr völlig überrascht von der Spontaneität
und Größe dieser anscheinend führerlosen Bewegung, der sich Tausende junge
Menschen aus dem ganzen Land anschlossen.
Die 15- bis 24-Jährigen bildeten nicht zufällig die Speerspitze dieses
Aufstands gegen eine Regierung, die zunehmend diktatorische Züge annimmt
und, wie etwa der Schriftsteller Boubacar Boris Diop beklagt, die
Judikative instrumentalisiert.[1]40 Prozent der Jugendlichen hatten 2017
weder einen Arbeits- noch Ausbildungs- oder Studienplatz[2], und dieser
Anteil dürfte während der Pandemie noch gestiegen sein. Fast die Hälfte der
Kinder im schulpflichtigen Alter geht nicht zur Schule. In einigen armen
Regionen erreicht dieser Anteil sogar bis zu 70 Prozent.
Bildungspolitisch haben die wechselnden Regierungen allesamt versagt. Um
von ihren Versäumnissen abzulenken, werfen die Verantwortlichen den jungen
Leuten mangelnde „Beschäftigungsfähigkeit“ vor und wiederholen
gebetsmühlenartig, es sei nicht Aufgabe der Regierung, Arbeitsplätze zu
schaffen. Doch Arbeitslosigkeit kann nur beseitigt werden, wenn der Staat
seiner Fürsorgepflicht nachkommt und den Arbeitswilligen eine Beschäftigung
durch die Schaffung von Ausbildungsplätzen garantiert.[3]Dies wäre auch
durchaus möglich, wenn man lokale Ressourcen mobilisieren, Haushaltsmittel
transparent verwenden und auf monetäre Souveränität setzen würde – was der
CFA-Franc bislang verhindert.
Doch darauf wollte sich bislang keine Regierung einlassen. Stattdessen
finanzierte man sinnlose Projekte wie die „Operation Diplomierte“, bei der
in den 1980er Jahren Hochschulabsolventen Geld für zumeist völlig
chancenlose Vorhaben erhielten. Oder man begab sich auf die verzweifelte
Suche nach ausländischen Direktinvestitionen. Doch leider werden durch
ausländische Investoren in ganz Afrika durchschnittlich nur 150 000
Arbeitsplätze pro Jahr geschaffen, während die Erwerbsbevölkerung südlich
der Sahara jedes Jahr um etwa 18 Millionen wächst.[4]
Noch erschreckender ist, dass die Zentralbank Westafrikanischer Staaten
(BCEAO) sich mit ihrer Geldpolitik an den Volkswirtschaften der Eurozone
mit ihrer vergleichsweise alten Bevölkerung orientiert und so zur
Massenarbeitslosigkeit unter den Jungen beiträgt. Ob es nun die
Wirtschaftspartnerschafts- und Fischereiabkommen mit der EU sind, die
Anfang des Jahres offiziell an den Start gegangene afrikanische
kontinentale Freihandelszone (AfCFTA) oder Public-private-Partnerships[5],
die nichts anderes als Zeitbomben für den Staatshaushalt sind – der
Wirtschaftsliberalismus ist allgegenwärtig. Er hilft aber nicht weiter.
Die wegen der Coronapandemie verschobene Erschließung der 2014 entdeckten
Öl- und Gasvorkommen vor der Küste Senegals und Mauretaniens wurde bereits
durch Korruptionsskandale überschattet. Es wird zwar allgemein erwartet,
dass der neue Geldsegen das seit sechs Jahrzehnten chronische
Handelsdefizit deutlich verringert. Zugleich dürfte dadurch aber auch der
jährliche Abfluss von Gewinnen und Dividenden ins Ausland steigen,
prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF)[6]: von umgerechnet
450 Millionen Euro im Jahr 2020 – das entsprach 2,1 Prozent des
senegalesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) – auf mehr als 2 Milliarden
Euro beziehungsweise 6,1 Prozent des BIPs bis 2025.
Unter diesen Bedingungen stehen den jungen Menschen, insbesondere aus der
Arbeiterklasse, nicht gerade viele Möglichkeiten offen. Auswandern ist eine
Option, aber die ist oft lebensgefährlich: Allein im Oktober 2020 ertranken
nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 149
Menschen bei dem Versuch, von der senegalesischen Küste aus die Kanarischen
Inseln zu erreichen[7]– eine Zahl, die von der Regierung in Dakar
bestritten wird.
Oder man wird zum Diener der herrschenden Klasse, wie ein Bericht der
französischen Entwicklungsagentur nicht ohne Zynismus bemerkt: „Dazu muss
man sich nur die von den Arbeitern im informellen Sektor erbrachten
Dienstleistungen ansehen.“[8]Mädchen bleibt oft nur die Arbeit als
Dienstmädchen oder Prostituierte, und Jungen verdingen sich zum Beispiel
als „Handlanger“, wie es die Medien bezeichnen – gemeint sind bezahlte
Störer, die Demonstrationen aufmischen sollen.
Die dritte Option, wenn man das überhaupt so bezeichnen will, ist der Weg
in die Kriminalität. Und schließlich gibt es noch eine vierte und letzte
Option: Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse und der Kampf für
eine bessere Zukunft. Denn als solchen kann man die Bewegung um Sonko
durchaus interpretieren.
Die fünf Tage andauernden Proteste vom 4. bis 8. März – auch „die fünf
Wütenden“ genannt – offenbarten das Ausmaß der Vertrauenskrise zwischen
Jugend und Staat. Die Randalierer griffen Polizeistationen an, Gerichte und
Rathäuser. Regierungsnahe Medienhäuser wurden in Brand gesetzt, ebenso die
Häuser von Politikern, die Sall unterstützen. Die Botschaft ist klar: Die
Jugend nimmt die Instrumentalisierung der Justiz nicht hin. Und die
Proteste werden noch zunehmen, sollte der derzeitige Staatschef wider die
Verfassung 2024 eine dritte Amtszeit anstreben – so wie es seine
Amtskollegen in Côte d’Ivoire und Guinea im vergangenen Jahr vorgemacht
haben.
Die zweite Botschaft der Jugendlichen richtet sich an die Regierung in
Paris. Viele französische Geschäfte wurden angegriffen und geplündert,
darunter Auchan-Supermärkte, Total-Tankstellen und eine Niederlassung der
französischen Telefongesellschaft Orange. Dieser Vandalismus erinnert
daran, dass Frankreich mit einem Bestand an ausländischen
Direktinvestitionen von schätzungsweise 2 Milliarden Euro im Jahr 2018 –
das sind 43 Prozent der gesamten Auslandsinvestitionen – weiterhin der
führende auswärtige Investor im Senegal ist.
Im Land der „Teranga“, was aus der inoffiziellen Landessprache Wolof
übersetzt „Gastfreundschaft“ bedeutet, gibt es fast 250 Niederlassungen
französischer Unternehmen. Dort arbeiten insgesamt fast 30 000
Menschen.[9]Frankreich ist somit auch einer der größten Nutznießer des
nationalen senegalesischen Entwicklungsplans (Plan Sénégal émergent,
PSE).[10]Das sieht auch das französische Finanzministerium so: „Unser
Marktanteil, der seit einem Jahrzehnt konstant rückläufig war, nahm 2019
deutlich zu und erreichte 18,8 Prozent (ein Plus von 4,1 Prozentpunkten
gegenüber 2018). Dazu haben die großen Infrastrukturprojekte im Rahmen des
Plan Sénégal émergent wesentlich beigetragen.“[11]
Und so erklärt sich auch, warum die Jugendlichen neben französischen
Unternehmen auch die Leuchtturmprojekte des PSE attackiert haben, wie die
vom französischen Baukonzern Eiffage verwaltete Mautautobahn und das von
der Weltbank kofinanzierte Schnellbussystem in Dakar. Sie sind wütend über
die Wirtschaftspolitik ihrer Regierung, deren weltmarktorientierte, aber
vor allem profranzösische Ausrichtung zu dem sattsam bekannten Syndrom des
Wachstums ohne Entwicklung geführt hat. Aber auch viele Senegalesen, die
einfach nur hungrig waren, beteiligten sich an den Plünderungen der
Auchan-Märkte. Manche füllten ganze Karren mit Lebensmitteln, andere
schleppten Reissäcke auf dem Rücken davon.
Solche Gewaltakte sind also keineswegs bloß Ausdruck einer irrationalen
„antifranzösischen Stimmung“, wie oft behauptet wird. Vielmehr lassen sie
sich zumindest teilweise als Reaktionshandlung interpretieren: Seit
Jahren weigern sich die französische Regierung und ihre Verbündeten in
Dakar, auf die immer wieder friedlich vorgebrachte Forderung einzugehen,
neokoloniale Verbindungen zu beenden.
Das ist auch der Hintergrund der Kampagne „Frankreich raus!“ der Front für
eine Antiimperialistische Panafrikanische Revolution (Frapp) des Aktivisten
Guy Marius Sagna, der drei Tage vor den Unruhen „präventiv“ festgenommen
worden war. Die Frapp fordert übrigens auch Währungssouveränität, also die
Abschaffung des von Paris kontrollierten CFA-Franc.[12]Und so ist auch
der Slogan „Auchan raus!“ gemeint: als Aufruf, lokale Märkte und kleine
Läden zu schützen.
Die Jugend ist ganz offensichtlich anderer Meinung als ihr Präsident, der
die französisch-afrikanischen Beziehungen gern so beschreibt: „Das Problem
zwischen Frankreich und Senegal ist, dass es kein Problem
gibt.“[13]Unverdrossen setzt auch die Pariser Regierung auf die Fortführung
der traditionellen Françafrique-Beziehung und passt sich an die neoliberale
Politik der EU und der internationalen Finanzinstitutionen an. Dabei
scheint es sie nicht groß zu kümmern, dass sie damit die afrikanische
Jugend verprellt. Für die ist nämlich Frankreich der Totengräber der
Demokratie, weil es nur seine eigenen ökonomischen Interessen verfolgt.
Als ein Beispiel von vielen mag diese Episode von 2017 dienen: Damals
erhielt der französische Ölkonzern Total auf Betreiben des Präsidenten zwei
Verträge zur Erdölsuche und gemeinsamen Förderung, obwohl sein ohnehin sehr
spätes Angebot nicht das beste war. Ölminister Thierno Alassane Sall
bezichtigte daraufhin Präsident Macky Sall des Hochverrats und trat
zurück.[14]
Der Regierung und ihrem Pariser Verbündeten kann man nur raten, der Jugend
zuzuhören. Denn die strukturellen Ursachen für die gerade erst beginnenden
sozialen Unruhen werden nicht so schnell verschwinden.
1↑ Siehe [1][Boubacar Boris Diop, „Affaire Sweet Beauté, une démocratie
souillée“, SenePlus, 11. Februar 2021], www.seneplus.com.
2↑ „Enquête régionale intégrée sur l’emploi et le secteur informel da…
États membres de l’Uemoa, 2017–2018: Rapport final“, Agence nationale de…
statistique et de la démographie et Afristat, Dakar und Bamako 2019.
3↑ Siehe Pavlina Tcherneva, „La Garantie d’emploi. L’arme du Green New
Deal“, Paris (La Découverte) 2021.
4↑ „Connectivity Redefined“, EY’s Attractiveness Program Africa, Ernst &
Young, Mai 2017; „[2][World economic and financial surveys. Regional
Economic Outlook: Sub-Saharan Africa“, Internationaler Währungsfonds],
Washington, D. C., April 2015.
5↑ Siehe [3][Jean-Christophe Servant, „Ungleiche Partner“], LMd, November
2020.
6↑ [4][„Senegal: second review under the policy coordination instrument
and request for modification of quantitative targets-press release; and
staff report]“, Country Report, Nr. 21/18, IWF, 19. Januar 2021.
7↑ [5][„2020’s deadliest shipwreck so far, sees 140 migrants perish off
Senegalese coast“], UN News, 29. Oktober 2020.
8↑ Französische Entwicklungsbank, „L’Économie africaine 2021“, Paris …
Découverte, coll. Repères) 2020.
9↑ „Sénégal: relations bilatérales“, Ministère de l’économie, des …
et de la relance, Dakar, Oktober 2020.
10↑ Siehe [6][Ndongo Samba Sylla und Milan Rivié, „Am Beispiel Senegal“],
LMd, Juli 2020.
11↑ Siehe Anmerkung 9.
12↑ Siehe Fanny Pigeaud, „Wut auf Paris in Françafrique“, LMd, März 202…
13↑ „Séminaire intergouvernemental franco-sénégalais“, 19. Oktober 201…
www.dailymotion.com.
14↑ Siehe Thierno Alassane Sall, „Le Protocole de l’Élysée. Confidences
d’un ancien ministre sénégalais du pétrole“, Paris (Fauves Éditions) 20…
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Ndongo Samba Sylla ist Ökonom und Autor (zusammen mit Fanny Pigeaud) von
„L’arme invisible de la Françafrique. Une histoire du franc CFA“, Paris …
Découverte) 2018.
8 Apr 2021
## LINKS
[1] https://www.seneplus.com/opinions/affaire-sweet-beaute-une-democratie-souil…
[2] https://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2015/afr/eng/
[3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5726038
[4] https://www.imf.org/en/Publications/CR/Issues/2021/01/19/Senegal-Second-Rev…
[5] https://news.un.org/en/story/2020/10/1076512
[6] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5697109
## AUTOREN
Ndongo Samba Sylla
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