# taz.de -- Am Beispiel Senegal | |
> Die Erzählung vom aufstrebenden Afrika ist ein Mythos | |
von Ndongo Samba Sylla | |
Die Idee eines aufstrebenden afrikanischen Kontinents ist bereits mehrere | |
Jahrzehnte alt. „The Emergence of Africa“ lautete der Titel eines Berichts, | |
den Richard Nixon 1957 Präsident Eisenhower vorlegte: Der damalige | |
US-amerikanische Vizepräsident war gerade von einer Afrikarundreise | |
zurückgekehrt, auf der er etwa ein Dutzend Staatschefs getroffen hatte – | |
darunter Kwame Nkrumah (Ghana) und Gamal Abdel Nasser (Ägypten). | |
Für Nixon lautete die zentrale Frage damals: Welchen Weg wird Afrika | |
angesichts der bevorstehenden Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien | |
einschlagen? Nixons befürchtete offensichtlich, die sowjetische | |
„Propaganda“ und die prekäre Situation der Schwarzen in den USA könnten d… | |
postkoloniale Afrika in die Arme des Kommunismus treiben. Zwei Jahrzehnte | |
später machte sich die Finanzwelt den schwammigen Begriffs emergencezu | |
eigen, um damit Entwicklungsländer mit wirtschaftlichem Aufstiegspotenzial | |
zu bezeichnen. | |
Der bis dahin gängige Ausdruck „Dritte Welt“ klang für potenzielle | |
Investoren nicht wirklich attraktiv, wurde er doch stets mit Bildern einer | |
von Armut geprägten Region assoziiert. Daher bevorzugte man Anfang der | |
1980er Jahre den neuen und zweifellos dynamischer klingenden Begriff | |
emerging markets,(aufstrebende Märkte). | |
Während der Französischen Revolution habe das emporstrebende Bürgertum neue | |
Wörter geschaffen, um Bestehendes zu töten, schrieb vor 125 Jahren der | |
marxistische Journalist Paul Lafargue.[1]In der neoliberalen Ära musste man | |
zur Veränderung der Realität nicht erst Begriffe erfinden. Viel probater | |
war es, auf den vieldeutigen Ausdruck emergencezu setzen, der maximalen | |
Ertrag bei minimalem Risiko versprach. „Aufstreben“ wurde so zum | |
übergeordneten Ziel von Ländern, die dazu bestimmt waren, den Wachstums- | |
und Rentabilitätserwartungen der globalen Finanzwirtschaft zu entsprechen. | |
Von 1980 bis 2000 wurde Afrika vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und | |
von der Weltbank in den Schwitzkasten der Strukturanpassungsprogramme | |
genommen; damit war den einzelnen Ländern der Aufstieg in die Gruppe der | |
emerging marketsverwehrt. Es entstand der Mythos, der Kontinent sei – mit | |
Ausnahme Südafrikas, das zu den Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, | |
China und Südafrika) zählte, und vielleicht der Maghrebstaaten und Ägyptens | |
– im Zuge der rasanten Globalisierung abgehängt worden. | |
Die vermeintlichen Ursachen dieser „Marginalisierung“ im Welthandel wurden | |
in wissenschaftlichen Arbeiten und den Mainstreammedien breit | |
erörtert.[2]Es ist nicht ohne Ironie, dass dieselben Akteure, die ein | |
solches Narrativ zur Rechtfertigung einer stärkeren wirtschaftlichen, | |
kommerziellen und finanziellen Liberalisierung verbreiteten, von einem Tag | |
auf den anderen ein Loblied auf das aufstrebende Afrika (Africa | |
rising)sangen. Dabei hatte sich an der wirtschaftlichen Spezialisierung des | |
Kontinents nichts geändert. | |
Nachdem der Economist im Jahr 2000 einen „Kontinent ohne Hoffnung“ | |
beschrieben hatte, titelte die Zeitschrift – dem Zeitgeist folgend – elf | |
Jahre später: „The hopeful continent: Africa rising“ (Ein Kontinent voller | |
Hoffnung: das aufstrebende Afrika). Das Beratungsunternehmen McKinsey | |
Global Institute stieß in dasselbe Horn und sprach 2010 von „Lions on the | |
move“ (Löwen in Bewegung). Wie ist es zu dieser veränderten Sicht | |
gekommen? | |
Nach zwei Jahrzehnten erzwungener Sparpolitik fand die Wirtschaft Afrikas | |
Ende der 2000er Jahre wieder auf Wachstumskurs zurück. Ermöglicht wurde | |
dies durch die höhere politische Stabilität sowie stark angestiegene Preise | |
für afrikanische Exportgüter und vor allem Rohstoffe. | |
Zu dem neuen Image trug auch der rapide Ausbau der kommerziellen und | |
finanziellen Beziehungen zwischen den afrikanischen Staaten und China bei. | |
Plötzlich erschien der ganze Kontinent als Reservoir „ungenutzter“ | |
Ressourcen und als riesiger, vielversprechender Markt für ausländische | |
Unternehmen, die ihre Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturprojekte an | |
eine junge, stark wachsende Bevölkerung verkaufen wollten. | |
Der Eindruck des „aufstrebenden Afrikas“ wurde durch die Zunahme lokaler | |
Vermögen gestärkt: Zwischen 2008 und 2012 stieg die Zahl der Afrikaner mit | |
einem zu investierenden Vermögen in Höhe von mindestens 1 Million US-Dollar | |
von 95 000 auf 140 000.[3] | |
## Rapide steigende Auslandsverschuldung | |
Auf globaler Ebene kamen die Auswirkungen der Finanzkrise von 2007/08 | |
hinzu: Die von den Zentralbanken der nördlichen Hemisphäre eingeleitete | |
Nullzinspolitik bewirkte, dass viel Kapital in die „aufstrebenden Märkte“ | |
drängte, die mit attraktiven Renditen lockten. Dabei ließen sich einige | |
afrikanische Länder dazu verleiten, Eurobonds, das heißt Staatsanleihen in | |
ausländischer Währung, zu emittieren. | |
„Wir müssen heute unseren Fokus auf ein vollständig in die Globalisierung | |
integriertes Afrika richten“, hieß es 2013 in einem Bericht des | |
französischen Senats unter dem Titel „Afrika ist unsere Zukunft“.[4]Die | |
frankofonen Staaten Afrikas vernahmen die schmeichelhafte Botschaft und | |
versuchten sich möglichst attraktiv darzustellen. 13 der 14 Staaten, die | |
den CFA-Franc nutzen, ergriffen die Gelegenheit und legten ein spezifisches | |
Konjunkturprogramm auf. | |
Am Beispiel Senegal lässt sich zeigen, welche Sackgasse die Idee der | |
„aufstrebenden Märkte“ für viele Länder bedeutet. 2014 wurde der „Plan… | |
einen aufstrebenden Senegal“ (Plan Sénégal Émergent, PSE) mit einem | |
Zeithorizont bis 2035 aufgelegt. Dass der Plan auf neoliberale | |
Vorstellungen beruht, zeigt sich schon an dem erklärten Ziel, das Land bis | |
2020 unter die Top 50 der von der Weltbank geführten „Doing | |
Business“-Rangliste zu befördern – wobei die Indices dieser Rangliste | |
zumindest fragwürdig sind. | |
Als Hauptkriterium für den „aufstrebenden“ Charakter Senegals wird im PSE | |
wie in anderen afrikanischen Ländern das jährliche Wachstum des realen | |
Bruttoinlandsprodukts (BIP) herangezogen. Obwohl es bei der Umsetzung von | |
Phase eins (2014–2018) des Plans zu Verzögerungen kam, wuchs die | |
senegalesische Wirtschaft dank des niedrigen Ölpreises, der im | |
afrikanischen Vergleich moderaten Zinsen und einer günstigen | |
Niederschlagsbilanz seit 2012 jährlich um rund 6 Prozent. | |
Diese Wachstumszahlen, von denen die Industrieländer nur träumen können, | |
sind jedoch mit Vorsicht zu genießen: 2015 lag das reale BIP pro Kopf nicht | |
höher als im Jahr 1960, als Senegal noch 3,2 Millionen Einwohner hatte und | |
nicht gut 14 Millionen wie 2015. | |
Mit anderen Worten: Das Wirtschaftswachstum beruht im Wesentlichen auf | |
einem Nachholeffekt, der die Einbußen der „verlorenen Jahrzehnte“ seit 1960 | |
kompensiert. Die wirtschaftliche Expansion ging zudem mit einem Abbau der | |
Arbeitsplätze im formellen Sektor der Wirtschaft einher. Deren Zahl sank | |
von 390 420 im Jahr 2012 auf 300 284 im Jahr 2018.[5]Wir haben es also mit | |
einem Wachstum ohne positive Beschäftigungseffekte zu tun. | |
Wegen der großen Bedeutung des ausländischen Kapitals stieg der Anteil des | |
entgangenen Primäreinkommens (Zinszahlungen auf Auslandsschulden, Transfer | |
von Gewinnen und Dividenden, Bezahlung ausländischer Experten) am BIP | |
zwischen 2010 und 2017 laut Weltbank von 2,2 Prozent auf 4,4 Prozent. Diese | |
Mittel fehlten dem Land also für die Entwicklungsfinanzierung. | |
Parallel dazu stieg die Auslandsverschuldung wieder rapide an, nachdem sie | |
Anfang der 2000er Jahre im Rahmen der HIPC-Initiative für hoch verschuldete | |
arme Länder (heavily indebted poor countries)und der multilateralen | |
Entschuldungsinitiative (Multilateral Debt Relief Initiative, MDRI) | |
teilweise abgebaut worden war. Von 2008 bis 2018 erhöhte sich die | |
Schuldenlast gegenüber dem Ausland von 2,8 Milliarden auf 12,5 Milliarden | |
US-Dollar. Allein 7 Milliarden davon entfielen auf den Zeitraum von 2014 | |
bis 2018, also auf die Phase eins des „Plans für einen aufstrebenden | |
Senegal“.[6] | |
Zwar haben arme Haushalte und Menschen mit Behinderung von Beihilfen | |
profitiert. Doch eine allgemeine Krankenversicherung für die Mehrheit der | |
Senegalesen gibt es bis heute nicht, obwohl man sie schon 2013 offiziell | |
eingeführt hatte. Auch deshalb ist Senegal immer noch nicht aus der Gruppe | |
der am wenigsten entwickelten Länder aufgestiegen. | |
## Zehn Jahre Wachstum, aber kein sauberes Wasser | |
In der Rangliste des Indexes menschlicher Entwicklung (Human Development | |
Index, HDI), der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) | |
ermittelt wird, lag das Land 2019 auf Platz 166 von 189 Staaten. Damit gilt | |
der Senegal als ein Land mit „geringer menschlicher Entwicklung“. | |
Auch der Begriff „inklusives Wachstum“ ist ein reiner Mythos. Was bedeuten | |
schon zehn Jahre hohen Wachstums, wenn bis heute 52 Prozent der Haushalte | |
auf dem Land keinen Zugang zu sauberem Wasser haben?[7]Und wenn selbst in | |
vielen Vierteln der Hauptstadt Dakar die Wasserversorgung immer wieder | |
zusammenbricht? | |
Das Coronavirus hat in Senegal – wie in den meisten anderen afrikanischen | |
Staaten – im Gesundheitsbereich bisher relativ wenige Probleme verursacht. | |
Wirtschaftlich hat die Pandemie allerdings die Grenzen des „Plans für einen | |
aufstrebenden Senegal“ schonungslos aufgezeigt. Die Behörden schlossen | |
Grenzen und Schulen, verboten Versammlungen einschließlich Gottesdiensten | |
und unterbanden den Verkehr zwischen den Städten. Außerdem gilt eine | |
Maskenpflicht für den öffentlichen Dienst, in Geschäften und in Bussen und | |
Zügen. Auch haben die Behörden die Schließung der Märkte in Dakar an | |
Samstagen und Sonntagen verfügt. | |
Ein totaler Lockdown ist allerdings unmöglich. Ein solcher Stillstand würde | |
auch die finanziellen Möglichkeiten der Regierung übersteigen, die auf die | |
Solidarität der Gesellschaft angewiesen ist, um das bescheidene Niveau der | |
Unterstützung für die bedürftigsten Bevölkerungsschichten – in Form von | |
Lebensmittelhilfen oder Stromzuschüssen – zu kompensieren. | |
Doch die Pandemie hat immerhin einen Vorteil: Sie deckt schonungslos auf, | |
wie sehr das Land finanziell von außen dominiert wird. Da es sein Defizit | |
nicht in der Nationalwährung finanzieren kann, ist es mehr denn je von | |
internationaler Unterstützung durch Zahlungsaufschübe und die Gewährung | |
neuer Kredite abhängig. Im Gegenzug für die kürzlich vom IWF gewährten | |
Darlehen hat sich Dakar verpflichtet, schnellstmöglich wieder zu einem | |
strengen Sparkurs zurückzukehren. | |
Dasselbe droht vielen anderen afrikanischen Staaten, etwa Ghana, Kenia, | |
Sambia, Äthiopien und Angola, deren Auslandsverschuldung sich in den Jahren | |
von 2008 bis 2018 vervierfacht hat. Rückblickend lässt sich sagen: Die | |
Euphorie für das „aufstrebende Afrika“ konnte nur andauern, so lange die | |
afrikanischen Staaten hohe Preise für ihre Exportgüter erzielten und das | |
„Vertrauen“ ihrer Gläubiger besaßen. | |
Die Covid-19-Pandemie setzt dem Kapitel des emerging Africajetzt auf | |
dramatische Weise ein Ende. Das schärft allerdings auch das Bewusstsein der | |
Völker Afrikas für die Kosten der fehlenden Währungssouveränität, die | |
Gefahren der Auslandsverschuldung, die Freihandelsfalle und die | |
Notwendigkeit einer autonomen Nahrungsmittelversorgung. Und es zeigt, wie | |
wichtig es ist, dass Afrika angesichts eines zunehmend brüchigen | |
multilateralen Systems zusammenhält. | |
1↑ Paul Lafargue, „La langue française avant et après la Révolution. Ét… | |
sur l’origine de la bourgeoisie moderne“, 1894, www.marxists.org. | |
2↑ Alexander J. Yeats u. a., „What caused Sub-Saharan Africa’s | |
marginalization in world trade?“, Finance and Development, Bd. 33 (4), IWF, | |
Washington, D. C., Dezember 1996. | |
3↑ World Wealth Report 2013, Capgemini and RBC Wealth Management. | |
4↑ Jany Lorgeoux und Jean-Marie Bockel, „L’Afrique est notre avenir“, | |
Rapports d’Information, Nr. 104 (2013–2014), französischer Senat, Paris, | |
29. Oktober 2013. | |
5↑ „Analyse diagnostique de l’emploi au Sénégal“, Studienzentrum für | |
Entwicklungspolitik, Dakar 2020. | |
6↑ International Debt Statistics, Weltbank, Washington, D. C., 2020. | |
7↑ „Enquête démographique et de santé continue“, Staatliche Agentur f�… | |
Statistik und Demografie, Dakar 2017. | |
Aus dem Französischen von Markus Greiß | |
Ndongo Samba Sylla ist Ökonom und Autor (zusammen mit Fanny Pigeaud) von | |
„L’arme invisible de la Françafrique. Une histoire du franc CFA“, Paris … | |
Découverte) 2018. | |
9 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Ndongo Samba Sylla | |
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