# taz.de -- Müllkippe der Nato: Das vergiftete Paradies | |
> Auf Sardinien testen Militär und Rüstungsfirmen Waffen. Anwohner sterben | |
> an Krebs, Kinder werden ohne Finger geboren. Jetzt ermittelt ein | |
> Staatsanwalt wegen Mord. | |
Bild: Salto di Quirra dient seit Jahrzehnten als Schieß- und Schrottplatz. Die… | |
SARDINIEN taz | Der Staatsanwalt Domenico Fiordalisi will jetzt erst einmal | |
10.000 Schafe, Ziegen und Rinder vertreiben lassen. Sie sollen nicht mehr | |
in Salto di Quirra grasen, auf dem Truppenübungsplatz im Südosten | |
Sardiniens. Die Viehzüchter regen sich auf. Aber würde Fiordalisi sich | |
davon einschüchtern lassen, wäre er ohnehin der Falsche für diese ganze | |
Angelegenheit. | |
Wenn Domenico Fiordalisi sich in der Öffentlichkeit bewegt, begleiten ihn | |
drei Männer mit großkalibrigen Pistolen unter den Hemden. | |
Die Staatsanwaltschaft von Lanusei, der kleinsten Provinzhauptstadt | |
Italiens, sitzt in einem beigen Funktionsbau. Als Fiordalisi an diesem | |
sonnigen Abend in sein kühles Büro kommt, zieht er den Kopf ein. Die | |
Türstöcke sind niedrig, und Fiordalisi ist ein ziemlicher Riese. | |
Der Staatsanwalt hat gerade das größte militärische Sperrgebiet Europas | |
beschlagnahmen lassen: Salto di Quirra. Und er ermittelt wegen Mordes gegen | |
dessen ehemaligen Kommandanten. Das Truppenübungsgelände ist fast so groß | |
wie das deutsche Darmstadt, 116 Quadratkilometer. Die Militäroperationen | |
dürfen dort zwar vorerst weitergehen. Das Land darf nur nicht mehr als | |
Weide genutzt werden. | |
Jetzt protestieren also die Landwirte. Aber viele Käsereien weigern sich | |
sowieso, den Hartkäse Pecorino sardo aus der Milch von Schafen | |
herzustellen, die Lämmer mit Augen hinter den Ohren gebären. | |
## Staatsanwalt erhält Morddrohungen | |
Wahrscheinlich sind die Bauern sogar das kleinste Problem des Domenico | |
Fiordalisi. Eine Bürgerinitiative prangert seit Jahrzehnten die hohe | |
Todesrate wegen Krebserkrankungen in der Umgebung des Übungsplatzes an. Und | |
ganz am Anfang von Fiordalisis Beschlagnahmeverordnung findet man einen | |
Verdacht gegen eine deutsche Rüstungsfirma und die Bundeswehr. Es geht um | |
Urangefechtsköpfe. Weshalb Domenico Fiordalisi Kontakt mit deutschen | |
Behörden aufgenommen hat. | |
Für viele ist Fiordalisi die letzte Hoffnung nach Jahren des Schweigens. | |
Andere sprühen Morddrohungen gegen ihn an Häuserwände. | |
50.000 Euro pro Stunde, hat sich der Staatsanwalt sagen lassen, zahlen | |
Firmen an das italienische Verteidigungsministerium, um irgendwelche | |
Substanzen in den sardischen Himmel aufsteigen, in den Boden und in das | |
Wasser eindringen zu lassen, die nur sie kennen. | |
Gelassen wie ein Bär sitzt Fiordalisi in dem hellen Büro mit den | |
praktischen Ledermöbeln. Auf dem Schreibtisch ist alles geordnet. Nur unter | |
dem Tisch werden Fiordalisis Füße bei manchen Fragen unruhig. | |
Der Ort, der ihn doch ein wenig nervös zu machen scheint, liegt in den | |
Bergen Sardiniens. Der Landstrich wäre eine gute Kulisse für einen | |
Karl-May-Film. Thymian und Lavendel wachsen zwischen krummen Korkeichen. | |
Hohe Granitfelsen, steile Schluchten, verfallene Häuser. | |
## Größter Nato-Truppenübungsplatz Europas | |
Auf einem Hügel wölbt sich die riesige Kuppel einer Radaranlage. Hier | |
versteckt sich ein Teil des größten militärischen Sperrgebiets der Nato, | |
das bis weit ins Meer reicht. „Kronjuwel“ nennen es italienische Generäle. | |
Auf dem Gelände befindet sich ein Raketenstartplatz. Die Bundeswehr nutzte | |
Salto di Quirra in den Achtziger Jahren. Andere europäische Nato-Partner, | |
die Türkei und Israel testen Waffensysteme. | |
In Lanusei trägt der Staatsanwalt an diesem Abend einen grau-blauen Anzug | |
von der Stange. Sein Hemd ist einen Knopf weiter geöffnet, als man es von | |
einer Amtsperson erwartet – sogar im 595 Meter hoch gelegenen Lanusei ist | |
es abends um sieben noch 35 Grad warm. | |
Domenico Fiordalisi weiß, dass er auf einem schmalen Grat wandert. | |
Staatsanwälte werden in Italien schnell zu Helden stilisiert oder zu | |
Kommunisten erklärt. Sie machen Karriere in Fernsehen und Politik – wie | |
Antonio Di Pietro, einst Chefermittler in der Spendenaffäre, die in den | |
Neunzigern die italienische Parteienlandschaft zerstörte. Heute ist Di | |
Pietro Vorsitzender der Anti-Berlusconi-Partei „Italien der Werte“. | |
Einer aktuellen Umfrage zufolge vertraut mehr als die Hälfte der Italiener | |
der Staatsanwaltschaft. Es gibt jetzt die Facebookseite „Unterstützung für | |
Domenico Fiordalisi“. Wer so hoch gehoben wird, kann tief fallen. | |
Fiordalisi ist erst seit drei Jahren in dem Bergdorf Lanusei mit seinen | |
6.000 Einwohnern. Es ist wohl nicht der Karrierehöhepunkt, von dem dieser | |
Mann aus einer renommierten Juristenfamilie geträumt hat. Fiordalisi hat in | |
den Neunzigern in Kalabrien gegen die Mafia, die 'Ndrangheta, ermittelt. | |
Auch auf Sardinien hat er seit seinem Amtsantritt im Sommer 2008 Strukturen | |
organisierter Kriminalität aufgedeckt. Seiner Frau wurden daraufhin die | |
Autoreifen zerstochen. Jemand legte einen Umschlag mit Kugeln vor sein | |
Haus. | |
## Der Staatsanwalt erhält eine Anzeige der Tierärzte | |
Die Lokalpresse schreibt, Fiordalisi habe einen Fehler gemacht: die | |
verstaubten Akten aus den Schränken zu holen und hartnäckig die Fälle | |
abzuarbeiten. | |
Domenico Fiordalisi ist seit 1986 im Justizdienst. Er hat in dieser Zeit | |
einige Disziplinarverfahren überstanden, am Ende wurde er immer vollständig | |
entlastet. | |
Wahrscheinlich hat ihn das vorsichtig gemacht, so klingt er jedenfalls: „Im | |
Januar diesen Jahres erreichte mich eine Anzeige von Tierärzten der | |
Gesundheitsämter von Lanusei und der Hauptstadt der Region Sardinien, | |
Cagliari: Veterinäre, die eine Untersuchung zu Missbildungen bei Tieren | |
gemacht hatten, die auf dem Gelände des militärischen Schieß- und | |
Übungsgeländes Salto di Quirra weideten“, sagt er. | |
„Die Zentrale dieses Sperrgebiets befindet sich in der Kommune | |
Perdasdefogu, die zur Provinz Ogliastra gehört und damit in die | |
Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Lanusei fällt. Deshalb bestand für uns | |
die Notwendigkeit, eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. | |
Die Missbildungen waren beträchtlich und ließen an eine mögliche | |
radioaktive Verseuchung denken – etwa durch Uranmunition, die von der Nato | |
in Kriegen eingesetzt wurde, allerdings – nach eigener Aussage – nicht von | |
den italienischen Streitkräften. | |
## Auch die Bundeswehr übt auf der Insel | |
Da in dem Gebiet auch fremde Truppen und Privatfirmen Tests durchführen, | |
konnte der Verdacht nicht ausgeschlossen werden.“ Zu den fremden Truppen | |
zählte unter anderem die deutsche Bundeswehr. | |
Fiordalisi fährt fort: „Uran wurde dann in den Knochen eines Lamms | |
gefunden, das zu einer Herde gehörte, die auf dem Gelände weidete. Dort | |
befand sich der zentrale Entsorgungsplatz für die Waffen der gesamten | |
italienischen Luftwaffe. | |
Weiter ergaben die Untersuchungen, dass der Sprengplatz von 1984 bis 1989 | |
intensiv, bis 2008 dann nur noch eingeschränkt genutzt wurde und mit | |
metallischen Nanopartikeln verseucht war, die nach unseren Informationen | |
krebserregend sind.“ Der Staatsanwalt trägt das ruhig und sachlich vor, als | |
hätte er es oft erzählt. „Damit setzen wir uns auseinander, mit nichts | |
anderem“, sagt er. | |
Fiordalisi hat mehr als zwanzig Exhumierungen verstorbener Hirten | |
angeordnet – eine Maßnahme, die für beträchtliche Unruhe sorgt. Tierzücht… | |
sind mit Schafen vor seinem Büro aufmarschiert, begleitet von | |
Bauernfunktionären, Bürgermeistern und Exmilitärs. Sie forderten eine | |
Verlängerung der Räumungsfrist. Anständige Leute, die ihre Rechte | |
wahrnähmen, sagt Fiordalisi, keine Chaoten. | |
## Mariella Cao kämpft seit über zwanzig Jahren gegen die Militärpräsenz | |
Er ist ein Mann der Ordnung. In Deutschland würde man ihn einen Rechten | |
nennen. Aber Italien ist anders und Sardinien sowieso. Hier ergeben sich | |
seltsame Koalitionen – etwa zwischen einem wie Fiordalisi und einer wie | |
Mariella Cao. | |
Mariella Cao kämpft seit mehr als zwanzig Jahren gegen das Poligono, den | |
Übungsplatz. Sie ist 60 Jahre alt, sehr schmal und wirkt fast zerbrechlich. | |
Mit schlanken Fingern streicht sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht und | |
zündet sich eine Zigarette an. Ihre Stimme ist tief, sie spricht schnell. | |
Cao kommt kaum dazu, von dem Eistee zu trinken, der in dem Café in Cagliari | |
vor ihr steht. | |
1956 hatte das Militär das Gelände für das militärischen Versuchsgelände | |
beschlagnahmt, musste den Landbesitzern aber weiter ein Nutzungsrecht | |
einräumen. Die Gemeinden erhielten Ausgleichszahlungen. Aus dem Armenhaus | |
Ogliastra wurde damit zwar keine reiche Gegend. | |
Cao kennt aber Menschen, die vorher nichts zu essen hatten und wegen des | |
Übungsplatzes nun sogar ihre Kinder zur Schule schicken konnten. Die | |
Verbundenheit von Militär und Bevölkerung in der Gegend ist stark, auch | |
wegen zahlreicher Ehen. | |
Manchmal bitten Militärs die Bauern um Hilfe. Einmal haben sie eine Rakete | |
mit einem Ochsenkarren bergen lassen. Am Eingang zum Dorf Perdasdefogu | |
erzählt ein Wandgemälde davon. | |
## Die Lehrerin nennt es militärische Versklavung | |
Seit Mitte der Neunziger arbeitete Cao als Grundschullehrerin in dem Ort | |
Villaputzu. Hartnäckig hielten sich Gerüchte über seltsame Todesfälle. 1999 | |
starb ein junger Soldat an Krebs. Er war von einem Nato-Einsatz aus Bosnien | |
zurückgekehrt. | |
„Die Leute hörten da zum ersten Mal von Uranmunition, die die Nato-Truppen | |
auch in Exjugoslawien einsetzten“, erinnert sich Cao. Ein Wehrpflichtiger | |
starb an Leukämie. Seine Eltern sprachen beim Bürgermeister vor. Niemand | |
wollte ihre Geschichte hören. | |
Die Militärführung wiegelte ab, tragische Einzelfälle, verwies wieder auf | |
die Nato-Einsätze. Obwohl der junge Wehrpflichtige nie außerhalb der Insel | |
stationiert gewesen war. | |
Die Waffen, die die Nato in ihren Einsätzen verwendete, seien seit | |
Jahrzehnten auf der Insel getestet worden, sagt Cao. Sie gründete die | |
Initiative „Gettiamo le basi“, das heißt „Weg mit den Basen“, aber auch | |
„die Basis legen für etwas Neues“. | |
Cao fand Mitstreiter wie die Medizinerin Antonietta Gatti, die seit Jahren | |
die Folgen militärischer Verschmutzung erforscht. Gatti hatte sich auf die | |
Verunreinigung durch Nanopartikel spezialisiert, die sich bei | |
Waffenexplosionen in der Atmosphäre verteilen. Gemeinsam erhöhten sie den | |
Druck auf die Politik. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde | |
eingerichtet. | |
Für manche fügt sich das alles in eine jahrtausendelange Geschichte: die | |
Karthager, die Römer. Genua, Pisa, die Katalanen. Sie alle hatten die | |
Sarden kolonisiert. Und dann wurde Sardinien auch noch zur Militärmüllkippe | |
von Nato und Nationalstaat. Mariella Cao spricht von militärischer | |
Versklavung. | |
## Eine Krankenschwester nennt das missgebildete Baby „Monster“ | |
Jetzt ermittelt Domenico Fiordalisi, und Cao weiß gar nicht genau, ob sie | |
glücklich sein soll. Denn erst einmal hat er angeordnet, was das Militär | |
schon immer gewünscht habe, sagt Cao. Die Hirten und ihre Tiere sollen | |
verschwinden. Wenn nun ohne Zeugen weitergeballert wird, das Land aber | |
besetzt bleibt: Was hat Mariella Cao dann gewonnen? | |
Stefano Artitzu, dessen Tochter fünf Finger fehlen, kann den Radarturm in | |
Salto di Quirra von seinem Haus aus sehen. Er wohnt in Escalaplano, einem | |
Dorf mit 2.500 Einwohnern. Artitzu betreibt hier sein kleines Fotogeschäft. | |
Er ist 50, groß und schlank. Artitzu trägt ein dunkles Hemd und ein | |
goldenes Armband. Er sieht älter aus, die Zähne müssten gemacht werden. | |
Artitzu ist nicht grundsätzlich gegen Militär und Basen auf Sardinien. Er | |
ist kein Pazifist. Er ist nur wütend wegen all der Lügen. Seine Tochter | |
wurde vor 18 Jahren ohne Finger an der rechten Hand geboren. Damals hat das | |
ihn und seine Frau nicht weiter gekümmert. Schicksal. Die Tochter sei so | |
glücklich wie andere Menschen, Daniela heißt sie. | |
Vereinzelt hörte er Hirten von deformierten Lämmern erzählen. Doch es | |
dauerte Jahre, bis sie auch von anderen missgebildeten Kindern hörten. Da | |
hat man sich erstmals zusammengesetzt, sich ausgetauscht. Allein im Jahr | |
1988 kamen 14 Neugeborene mit Missbildungen auf die Welt. Artitzu erzählt | |
vom „Monster“. So bezeichnete die Krankenschwester ein Baby, das sie in der | |
Klinik auf dem Arm seiner Mutter sah. Sie, die Anwohner, versuchten, die | |
Ursachen herauszufinden. | |
Niemand half ihnen. Nicht das Gesundheitsamt, nicht die Verwaltung, nicht | |
die Kirche. Als immer mehr Missbildungen auftraten, habe man sich an die | |
Presse gewandt. Der damalige Bürgermeister von Escalaplano beschimpfte die | |
kleine Aktivistengruppe, sie würde seinen Ort mit Dreck bewerfen. | |
## Arbeit schlägt Gesundheit auf Sardinien | |
Artitzu sagt, es sei die Angst vor der Politik, die das Poligono schützt. | |
Hundert Leute aus Escalaplano lebten von der Basis. Arbeit schlägt | |
Gesundheit. „Meine Schwester ist mit neun Jahren an einem Hodgkin-Lymphom | |
gestorben“, sagt Artitzu und blickt in die Ferne. Krebs. | |
Und dann kam Domenico Fiordalisi, der neue Staatsanwalt. Artitzu hat eine | |
Aussage gemacht. Er hat den Behörden Material übergeben, Zeitungsartikel. | |
Und ein missgebildetes Lamm. „Das hatte ich bei mir ein Jahr im Keller, in | |
Formalin eingelegt.“ Artitzu lächelt stolz wie ein kleiner Junge. Alle | |
seine Hoffnung setzt er jetzt auf die Ermittlungen von Domenico Fiordalisi. | |
„Wir haben da unsere Wege.“ Der Staatsanwalt lächelt selbstbewusst. Seine | |
Institution, die „Magistratura“, hat Kontakt aufgenommen nach Deutschland, | |
um mehr herauszufinden über die Kormoran-Raketen der deutschen | |
Rüstungsschmiede Messerschmitt-Bölkow-Blom, kurz MBB, die von Tornados der | |
deutschen Luftwaffe abgeschossen wurden. | |
Fiordalisi ist zwar noch ein wenig beleidigt, dass Giancarlo Carrusci | |
zuerst mit der Presse sprach, nicht mit ihm, dem Staatsanwalt. Die Presse | |
hat Carrusci gleich zum „Superzeugen“ erhoben. „Aber natürlich“, sagt | |
Fiordalisi, er halte den Zeugen für „sehr glaubwürdig“. | |
## MBB testete Kormoran-Raketen für die Bundeswehr | |
Der ehemalige Hauptmann Giancarlo Carrusci sitzt an seinem Schreibtisch, im | |
Keller seines Hauses in einem Vorort von Cagliari: „Stahlbeton“, er lacht, | |
„kein Handyempfang.“ Und abhörsicher. Carrusci, 60 Jahre alt, trägt | |
Poloshirt, Segelschuhe und einen akkurat gestutzten Schnurrbart. | |
Er ist Energiesparberater. Von 1976 bis 1992 war er in Quirra | |
verantwortlich für die operativen Aktivitäten. „Sämtliche Raketenabschüsse | |
müssen minutiös geplant werden, um sicherzugehen, dass die Bevölkerung | |
nicht gefährdet wird.“ | |
Carrusci sagt, dass auch die Rüstungsfirma MBB Waffen auf dem Poligono | |
getestet habe. Heute gehört MBB zu EADS, der European Aeronautic Defence | |
and Space Company, Europas zweitgrößtem Rüstungskonzern. Für die Bundeswehr | |
entwickelte MBB seit 1962 die Kormoran, eine luftgestützte | |
Antischiffsrakete. Anfang der Achtziger Jahre begannen die Tests für die | |
Version „Kormoran 2“. | |
„Geplant waren drei Raketenabschüsse“, erinnert sich Carrusci. Bei dem | |
Briefing seien Ingenieure von MBB und vier Tornado-Piloten der deutschen | |
Luftwaffe gewesen. Man habe die Durchschlagskraft der Raketen in ein | |
stahlverstärktes Schiff analysieren wollen. Dafür feuerte ein | |
Bundeswehr-Tornado die Rakete auf das Ziel, der zweite Kampfjet flog | |
hinterher, um den Abschuss zu dokumentieren. | |
## Das abgeschossene Schiff ist jetzt verschwunden | |
„Die Raketen hatten Gefechtsköpfe mit Uranmunition“, sagt Carrusci. Er habe | |
das an der Rauchentwicklung der Explosion erkannt. Normalerweise sei der | |
Rauch grau. Je heißer die Temperaturen, desto heller werde er jedoch. „Bei | |
diesen zwei Abschüssen war der Rauch sehr weiß, es muss 2.000 bis 3.000 | |
Grad heiß geworden sein.“ | |
Temperaturen, die keine normale Rakete entwickeln kann. Der erste Versuch | |
im Herbst 1988 sei fehlgeschlagen, die Rakete landete im Wasser. Die | |
Einschlagstelle vierzig Kilometer weit im Meer vor Porto Corallo heißt | |
seitdem „secca dei tedeschi“, „Untiefe der Deutschen“. | |
Der zweite Versuch im Oktober 1989 habe besser geklappt. Die Rakete traf | |
das Ziel. Das Schiff sei sichergestellt und die Rakete in der | |
eingeschlagenen Position fixiert worden. Dann sei das Schiff in den Hafen | |
von Cagliari geschleppt worden, in den militärisch abgesperrten Bereich. | |
Dort verliert sich die Spur – Rakete und Schiff sind verschwunden. | |
Eine Tatsache, die auch den Staatsanwalt beschäftigt. Doch mehr als zwanzig | |
Jahre später ist es schwer, noch brauchbare Beweise zu finden. Deshalb hat | |
Fiordalisi die deutsche Justiz um Amtshilfe gebeten. | |
Es ist ein Morgen Ende Juni. Im historischen Ratssaal der Provinzregierung | |
an der Piazza Palazzo in Cagliari, hat der italienische Naturschutzbund | |
Legambiente eine Versammlung zum „Fall Quirra“ einberufen. An die sechzig | |
Zuhörer sind gekommen. Bilder aus der sardischen Geschichte schmücken die | |
Wände. | |
## Welches Spiel spielen die Lokalpolitiker? | |
Bürgermeister, Wissenschaftler und Abgeordnete sollen die Bürger aufklären. | |
Ist der Boden, das Wasser tatsächlich radioaktiv verseucht? Muss das | |
Poligono geschlossen werden? | |
Die Politiker weichen aus. Was ist Heuchelei, was Hilflosigkeit? Glaubt der | |
Bürgermeister von Villaputzu wirklich, in einem halben Jahr könne das | |
Poligono gesäubert sein? Weiß hier niemand, dass in Deutschland und den USA | |
ähnliche Anlagen jahrzehntelang hinter Stacheldraht ruhen, bis man anfängt, | |
über eine Nachnutzung nachzudenken? | |
Im Publikum sitzt Mariella Cao auf einer Holzbank und ruft immer wieder | |
dazwischen. „Cao, was willst du schon wieder“, antwortet jemand vom Podium. | |
Man spürt in diesem historischen Ratssaal, was die Schwierigkeiten bei | |
Domenico Fiordalisis Ermittlungen sind. Noch härter könnte es in | |
Deutschland werden. | |
Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums sagt, man äußere sich | |
nicht „zu angeblichen Ermittlungen einer ausländischen Behörde“. | |
Der Konzern EADS bestätigt zwar, dass MBB die Kormoran-Raketen für die | |
Bundeswehr entwickelt hat. Der Sprecher sagt aber: „Ich kann definitiv | |
ausschließen, dass MBB beziehungsweise EADS jemals Uranmunition verwendet | |
haben.“ Dann verweist er auf die Luftwaffe. | |
## Die Bundeswehr verweist auf das Verteidigungsministerium | |
Nein, sagt der Sprecher des Presse- und Informationszentrums, man wolle | |
sich nicht äußern. Nein, ein Besuch auf dem Luftwaffenstützpunkt | |
Decimomannu auf Sardinien sei nicht möglich. Dann bleibt er in der Leitung. | |
Man erzählt ihm ein wenig, was gerade so passiert auf der Insel. | |
Der Sprecher schweigt, legt aber nicht auf. Ist er sicher, dass die | |
Bundeswehr nicht von den Toten und Missbildungen rund um Quirra wisse? | |
Schließlich sind ja deutsche Soldaten samt Familien dort stationiert. | |
Damit, beschließt der Sprecher dann irgendwann doch das Gespräch, solle | |
sich das Verteidigungsministerium beschäftigen. | |
Im Büro von Domenico Fiordalisi ist es halb neun geworden. Das Abendlicht | |
fällt immer milder durch die großen Fenster. Am besten, man behandle die | |
Kormoran-Sache in Deutschland ganz nüchtern, sagt der Staatsanwalt. Das sei | |
doch immer am wirkungsvollsten. | |
Pitzente Bianco, 48, hat die Recherchen maßgeblich unterstützt. | |
22 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
M.-C. Bianco | |
A. Waibel | |
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