# taz.de -- Kultur-Protestantismus: Bei Luthers unterm Sofa | |
> 20 Millionen Menschen starben, damit Luther seine Haushälterin heiraten | |
> konnte. Wie der Erfinder des schlechten Gewissens noch heute selbst den | |
> Alltag von Ungläubigen beeinflusst. | |
Bild: Leidenschaft ist, was der Protestant rational zu bekämpfen sucht. | |
Sie haben keine Hausrats-, geschweige denn eine Lebensversicherung? Sie | |
gehen nicht eher zum Zahnarzt, bis es richtig wehtut? Sie zählen nicht | |
nach, wie viel Geld sich sparen ließe, wenn sie mit dem Rauchen aufhörten? | |
Sie machen keine To-do-Listen? Sie kommen nicht auf die Idee, jemandem zu | |
sagen: "Du schuldest mir noch einen Euro?" Sie machen sich keine Sorgen um | |
das Wohlergehen, sondern sorgen für Ihr leibliches und seelisches Wohl? | |
Kurz und gut: Dann sind Sie katholisch. Um den Unterschied zwischen | |
Katholiken und Protestanten zu verstehen, muss man dieser Tage nicht nach | |
München fahren; für uns Kulturkatholiken ist jeder Tag ein ökumenischer | |
Kirchentag. | |
Denn als Kulturkatholik ist man hierzulande in der Minderheit, erst recht | |
in der Linken, die seit 1968 im Wesentlichen eine protestantische | |
Veranstaltung ist. Nicht wenige interkonfessionelle Freundeskreise, | |
Kollegien und Liebesbeziehungen müssen tagtäglich mit diesem culture clash | |
zurechtkommen. | |
Die Ungläubigen unter den Protestanten weisen es barsch von sich, | |
irgendetwas mit Religion zu tun zu haben. Doch hier geht es nicht um die | |
Mitgliedschaft in einer der Kirchen, es geht nicht einmal um den Glauben. | |
Die Rede ist nicht von einer Weltanschauung, die man sich zulegt, oder | |
einer philosophischen Wahrheit, von der man überzeugt ist, sondern um | |
kulturelle Prägungen, die man nicht einfach so ablegen kann - und die sich | |
oft beständiger erweisen als so manche politische Überzeugung, die man im | |
Laufe des Lebens erworben hat. | |
Auch Atheisten, Agnostiker und Kirchengegner haben ihre protestantischen | |
bzw. katholischen Einflüsse. Und die kommen beispielsweise daher, wie zu | |
Hause bei den Eltern gegessen und geredet, worüber gelacht und worum | |
getrauert wurde, wie Gäste empfangen und wie Feste gefeiert wurden, kurz: | |
ob es zu Hause katholisch oder protestantisch zuging. | |
Max Webers "Protestantische Ethik" ist unter Linken keine Neuigkeit und | |
wird, wenn es um den Kapitalismus und die deutsche Arbeitsmoral geht, oft | |
zitiert. Aber dieser Einfluss zeigt sich auch in säkularen Zusammenhängen: | |
Noch in der Demoparole "Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, | |
reiht euch ein" klingt etwas von dem protestantischen Eifer nach, der, | |
getrieben von eigenen Gewissensbissen, versucht, anderen ein schlechtes | |
Gewissen einzureden. | |
## Ein ganzes Leben im Hedonismus | |
"Jede Art Berufung ist bedeutsam und nötig, damit das Gewissen gewiss sei", | |
schrieb der Erfinder des schlechten Gewissens, Martin Luther. Doch was | |
macht der, der weit und breit keine Berufung findet oder hört? Entweder er | |
wird wahnsinnig, weil er einfach niemanden und nichts findet, der ihm | |
bestätigt, dass er alles richtig macht und sein Leben einen Sinn hat. Oder | |
er versucht, andere dafür verantwortlich zu machen, dass er keine Berufung | |
hört. Oder er dreht darüber durch, dass er ständig irgendetwas tut, um bloß | |
nicht in den Verdacht des Faulenzens zu kommen, und in der Annahme, dass es | |
schon irgendjemandem nützen werde. "Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber von | |
Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch | |
ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen", sagte der wie hier | |
auch in vielen anderen Dingen irrende Martin Luther. | |
Der Preis für die katholische Begegnung mit dem protestantischen Leben ist | |
hoch: der Mangel an Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, die Lust am Barock | |
in Argumentations- und Lebensführung gerät schnell unter den Verdacht der | |
Unzuverlässigkeit und Unernsthaftigkeit. Am Ende wird das Geständnis | |
erzwungen, dass ein wenig protestantische Lebensart auf jeden Fall gesünder | |
und vernünftiger ist. Argumentativ einwenden lässt sich dagegen nichts, | |
außer dass das vernünftige Leben keinen Spaß macht: Vielleicht ist der | |
Schaden später groß, aber warum sollte man sich jetzt unnötig Gedanken | |
darüber machen? | |
Während der Protestant sich mit einem guten Glas Wein, einem guten Buch | |
oder einem netten Abend in einem Tanzlokal für getane Arbeit "belohnt", ist | |
das ganze Leben des Katholiken unter die Vorzeichen des Hedonismus | |
gestellt. Er "gönnt" sich nichts, denn er hat ganz einfach die Freiheit, | |
täglich ein Fest zu feiern, als ob es kein Morgen gäbe. | |
Denn es gibt für ihn auch kein Morgen. Das katholische Christentum gründet | |
sich auf der Idee des Apostels Paulus, dass die Zukunft schon begonnen habe | |
und die Welt damit ins Zeitalter der Gnade eingetreten sei. Paulus | |
suspendierte das mosaische Gesetz: "Die Sünde soll nicht über euch | |
herrschen, denn ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade" | |
(Römer 6, 14). Es gibt keine Sünden mehr, alle sind schon durch den Tod des | |
Gottessohns gesühnt - die theologische Rechtfertigung eines everything | |
goes, die ihre Praxis in der institutionalisierten Beichte fand. | |
Des leidigen Wartens auf die Rückkehr des Erlösers müde, der durch | |
Ablasshandel korrumpierten Autorität überdrüssig und um die verlotternde | |
Gesellschaft besorgt, trat der Protestantismus an, die äußeren Instanzen | |
radikal abzuschaffen. Tatsächlich aber verlegte er sie ins bestmögliche | |
aller Verstecke: ins Innere des Menschen, ins Gewissen. | |
So weit, glaubt der aufgeklärte Geist, alles gut, der Mensch steht endlich | |
im Zentrum allen Geschehens. Doch weit gefehlt: Gerade der Protestantismus | |
ist vom Menschen unendlich weit entfernt. So richtig die Idee war, dem | |
Einzelnen die Verantwortung für sein Handeln zu übertragen, so unmenschlich | |
war es, ihn damit alleinzulassen. Zweifel und Hader an allem und jedem ist | |
das Ergebnis, denn der Mensch ist nie mit sich allein und kann alleine nur | |
verzweifeln. | |
Leicht fällt es den Verteidigern des Protestantismus gerade dieser Tage, | |
auf Lernprozesse und eine gewisse Fortschrittlichkeit und Rationalität | |
innerhalb der evangelischen Kirche zu verweisen. Sexualität, | |
Frauenfeindlichkeit und Unfehlbarkeit des Papstes heißen die Stichwörter, | |
und wer es gern historisch mag, bringt auch Dietrich Bonhoeffer gegen Papst | |
Pius XII. ins Spiel. | |
Doch noch immer wird viel zu selten darauf hingewiesen, dass die NSDAP die | |
größte Wählerschaft unter den Protestanten hatte und im Europa des 16. | |
Jahrhundert etwa 20 Millionen Menschen starben, damit Luther seine | |
Haushälterin heiraten konnte - ein Gründungsverbrechen, das die | |
Protestanten heute kaum aufgearbeitet haben. Auch die große | |
Herrschaftskritik der Protestanten ist nur die halbe Wahrheit. Denn noch im | |
Prozess der Abwendung von der päpstlichen Autorität und der möglichen | |
Entstehung eines unabhängigen Christentums verkaufte sich der | |
Protestantismus an die Landesfürsten (weswegen es bis heute Landeskirchen | |
gibt). | |
## Die Leidenschaft macht den Unterschied | |
Die kulturellen Unterschiede zwischen den Konfessionen sind also viel | |
grundlegender als die Streitfrage, ob beim Abendmahl der Körper Jesu | |
wirklich oder nur symbolisch verspeist wird. Der Unterschied, um den es | |
zwischen Protestantismus und Katholizismus geht, ist der der Unbedingtheit, | |
anders ausgedrückt die Leidenschaft. Man hätte sie gern, beneidet und | |
bewundert andere darum, doch es bleibt dabei: In Deutschland hat die | |
Leidenschaft keine Heimat, weil sich die deutsche Nation durch die | |
Reformation überhaupt erst konstituiert hat. | |
Leidenschaft ist, was der Protestant rational zu bekämpfen sucht. Der | |
Zweifel, mit Descartes philosophisch in die Welt gekommen, ist des | |
Protestanten Ding schlechthin. Dass der protestantische Zweifel - der im | |
Wesentlichen nicht der an der Welt, sondern an sich selbst ist, an der | |
eigenen Entscheidung, an der eigenen Position - auch zu Verzweiflungstaten | |
führen kann, zeigt der Fall Margot Käßmann. | |
Man mag sich auf einem Ökumenischen Kirchentag zum Gespräch treffen. Aber | |
sich eine gemeinsame Organisation zu wünschen ist nicht weit davon | |
entfernt, von einem Frosch zu verlangen, dass er bellt wie ein Hund. Oder | |
könnten Sie auf Anhieb ein protestantisches Pendant zu, sagen wir, Pier | |
Paolo Pasolini finden, der unbedingt gläubig und unbedingt kommunistisch | |
war (und wahrscheinlich von einem Katholiken umgebracht worden wurde)? Gut, | |
der Katholizismus hat auch Hitler hervorgebracht, der unbedingt irre war. | |
Leidenschaft bedeutet, sich selbst zu vergessen, sich einer Sache mit | |
voller Hingabe zu widmen, ohne vorher eine Kosten-Nutzen-Kalkulation zu | |
erstellen. Freilich, mit Leidenschaft kann man eine Sache auch voll gegen | |
die Wand fahren - oder Exzesse aller Art begehen. Aber wer immer erst | |
abwägt, ob sich der Einsatz lohnt, wer niemals volles Risiko ohne | |
Absicherung geht, der wird niemals wissen, was der Sinn des Lebens ist. | |
Die Dinge im Freistil angehen, ließ der amerikanisch-jüdische | |
Schriftsteller Saul Bellow seinen Helden in "Die Abenteuer des Augie March" | |
sagen. Mit diesem Satz könnte ein moderner Katholizismus für sich werben, | |
anstatt der Biederei des Protestantismus nachzueifern. | |
14 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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