# taz.de -- „Krieg und Frieden“ in Leipzig: Verschiebungen in der Seele | |
> Starker Start, dann aber ausgefranst und den Boden verlierend: Sebastian | |
> Hartmann inszeniert „Krieg und Frieden“ im Centraltheater Leipzig. | |
Bild: Pirouetten des Denkens: Cordelia Wege, Manolo Bertling und Linda Pöppel … | |
Was für ein großartiger erster Teil! Alles, was Theater kann, gelingt dem | |
Ensemble des Leipziger Centraltheaters in den ersten beiden Stunden von | |
„Krieg und Frieden“ in der Regie von Sebastian Hartmann. | |
Souverän gehen sie mit Motiven und Ideen des Romans von Lew Tolstoi um, | |
verweben Erzählen und Spielen, inneren und äußeren Bewegungsfluss. | |
Ineinander greifen die Dynamik der Gefühle und das langsame Heben und | |
Senken der Bühnenhydraulik mit dem schwermütig schleppenden Elektro-Pop von | |
Sascha Ring alias Apparat. | |
Einer will einen anderen tragen, er hebt ihn und zieht an ihm, weg rutschen | |
dessen Glieder, bringen den Tragenden ins Schwanken auf der hohen Schräge | |
der Bühne. Traurig und berührend ist dies Bild von einem Versuch, einen | |
Menschen zu bergen, zu retten, vergeblich wahrscheinlich. Und währenddessen | |
schildert der Schauspieler Manuel Harder, der Tragende, wie sich einem | |
Soldaten beim Anblick Badender die Wahrnehmung umkehrt, wie Individuen sich | |
in Fleisch verwandeln, wie Ekel den Blick verzerrt. | |
Über die Trauer legt sich die Entfremdung, über die Sorge für einen die | |
Unmöglichkeit, den Einzelnen noch als Individuum zu sehen. Solche | |
Verschiebungen in der Seele, solche Verluste der Trennlinien zwischen | |
Bedeutendem und Unbedeutendem, zwischen Freunden und Feinden, zwischen | |
Lebenden und Toten transportiert die Inszenierung erst mal außerordentlich | |
gut. | |
## Kein Historiengemälde | |
Auch der Roman ist kein Historiengemälde der Kriege gegen Napoleon in | |
Russland, sondern eher eine figurenreiche und von philosophischen Passagen | |
durchsetzte Collage, durchtränkt vom Zweifel, dass die Geschichte | |
irgendeinen Sinn hat. Der Dichter legt sich hier mit den Historikern und | |
ihren nachträglichen Sinnkonstruktionen an. | |
Auf der Bühne verschmelzen intime und welthistorische Szenen. Aus Schreien | |
auf dem Schlachtfeld werden die Schreie einer Gebärenden, die bei der | |
Geburt stirbt. Aus dem neugeborenen Kind, von der kleinwüchsigen | |
Schauspielerin Jana Zöll verkörpert, wird eine Napoleon-Karikatur, die die | |
Soldaten beißt und aussaugt, die versehentlich noch das Kind darin sehen. | |
Je mehr Metaebenen aber in diesen Abend einziehen, je häufiger das Spiel | |
sich in ironische Distanz zu Tolstoi stellt, je mehr symbolische Figuren | |
auftreten, um Denkfiguren in Szene zu setzen wie den Zweifel des Autors an | |
seinem eigenen Werk und an seinem Leben, desto mehr zerfranst die Dynamik. | |
Dann reihen sich die Szenen bloß noch aneinander wie eine diskursive | |
Nummern-Revue. Das beginnt schon im zweiten Teil des fünfstündigen Abends, | |
der atmosphärisch und emotional nicht mehr an die anfängliche Dichte | |
herankommt. Auch die schauspielerischen Mittel werden schriller und zum | |
klappernden Handwerk, genauso wie die Bühnenhydraulik sich in der häufigen | |
Wiederholung abnutzt. | |
## Tourist des Krieges | |
Eine Szene der Erweckung zum Beispiel, in der Pierre, ein Tourist des | |
Krieges, angefressen von der Sinnlosigkeit seines Lebens, von einem | |
Freimaurer missioniert wird, spielen zwei plötzlich stark sächselnde | |
Schauspielerinnen mit angeklebten Schnurrbärten. Das ist Klamauk, sicher, | |
man will ja auch das plötzlich hochtönende Pathos, mit dem der Freimaurer | |
den Weg zur Wahrheit weist, nicht unkommentiert stehen lassen. Aber es ist | |
auch eine naive und hilflose Haltung der Abwehr gegenüber den | |
mystizistischen Anfällen von Tolstois Werk und Person. | |
Wie der Autor an seiner eigenen Verzweiflung in dem Roman arbeitete, das | |
eigene Werk für Wortgeklingel hielt und sich des Erfolges schämte, davon | |
handelt der dritte Teil der Aufführung, der damit einen neuen Blick auf das | |
Vorausgegangene wirft. Tolstoi trägt jetzt die Narrenkappe, redet über das | |
Mühlwerk der Gedanken, das Sich-Stoßen an den immer gleichen Dingen. | |
Auch Freiheit und Determinismus werden verhandelt. Doch den anspruchsvollen | |
Diskursen rutscht in dem launigen, keinem Schlenker abgeneigten Spiel der | |
Kontext weg, die Pirouetten des Denkens verlieren den Boden unter den | |
Füßen. Man weiß nicht mehr recht, wozu diese Anekdoten und Witze. Erst | |
später, beim Lesen im Programmheft am nächsten Morgen, stellen sich die | |
Verbindungen zwischen Romanmotiven und dem mitternächtlichen Kabarett | |
langsam her. | |
Dennoch: Als die Premiere in Leipzig zu Ende ging – im Mai war die | |
Inszenierung schon bei den Ruhrfestspielen zu sehen –, war der Beifall | |
groß. In Leipzig ist für Sebastian Hartmann seine letzte Spielzeit | |
angebrochen, sein Theater hatte viele Gegner in der Stadt. Auf die muss er | |
nun keine Rücksicht mehr nehmen. Das großenteils junge Publikum folgte ihm | |
bei dieser mit allem, wofür er geliebt und gescholten wird, vollgepackten | |
Inszenierung, vermutlich auch mit einer gewissen solidarischen | |
Entschlossenheit, zu ihm zu halten, solange er noch da ist. | |
24 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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