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# taz.de -- Kindeswohl: Bei Anruf Kind weg
> Einer gehörlosen Mutter wird ihr hörendes Kind weggenommen. Sie könnten
> nicht ausreichend kommunizieren, so das Jugendamt. Das Oberlandesgericht
> soll jetzt entscheiden, ob der Junge zur Tante kommt.
Bild: Leidet unter der Trennung von ihrem siebenjährigen Sohn Antonio: Annette…
Annette S. durfte ihrem Sohn Antonio zu Weihnachten eine E-Mail schreiben,
mit ihm feiern konnte sie nicht. Sie weiß nicht, wie es ihm geht, nur, dass
der Siebenjährige seit acht Tagen in einem Kinderheim irgendwo in
Schleswig-Holstein wohnt. Annette S., 42 Jahre und Hauswirtschafterin in
Hamburg, ist gehörlos, ihr Sohn hörend. Seit zwei Jahren schon wohnt er
nicht mehr bei ihr, das Jugendamt Hamburg-Wandsbek hatte Antonio eines
Oktobertages 2008 in eine Pflegefamilie gebracht. Begründung: Kommunikation
und Interaktion zwischen Mutter und Sohn seien stark gestört und das
Kindeswohl somit gefährdet. Die Mutter sei psychisch labil und könne ihren
Sohn deshalb nicht behalten, schreibt das Jugendamt weiter. "Psychische
Probleme habe ich, weil Antonio mir weggenommen wurde", sagt Annette S.
"Das würde jeder Mutter so gehen." Nach sechs Monaten fällt das Amtsgericht
Barmbek die Entscheidung: Es entzieht Annette S. das Sorgerecht für ihren
Sohn vollständig.
Doch bei der Pflegefamilie läuft es nicht gut mit Antonio. Die Pflegemutter
sei mit dem Kind überfordert und fühle sich vom Jugendamt überhaupt nicht
unterstützt, behaupten zumindest Antonios Tante Aretha S.-Apithy und der
Anwalt der Familie, David Schneider-Addae-Mensah. Die Pflegefamilie selbst
war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Fest steht: Antonio musste
jetzt, nach zwei Jahren, ins Heim.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts von 2008 ist eine Beschwerde der
Mutter anhängig, der Fall soll jetzt im Januar vor dem Oberlandesgericht
(OLG) verhandelt werden. Die Forderung, Antonio wieder der Obhut seiner
Mutter zu überlassen, wurde jedoch bereits abgelehnt. Geprüft werden soll
lediglich, ob der Junge zu seiner Tante Aretha S.-Apithy ziehen kann. Sie
ist Pädagogin und lernt die Gebärdenspräche, wohnt jedoch in Berlin.
Dennoch wäre Annette S. mit dieser Übergangsregelung einverstanden - bis
Antonio wieder zu ihr ziehen kann.
"Natürlich war die Kommunikation zwischen Antonio und mir nicht immer
einfach", sagt sie weiter. "Aber genau deshalb wollte ich mir doch vom
Jugendamt helfen lassen!" Sie hatte aus freien Stücken Familienhilfe
beantragt und bat um Unterstützung beim Gebärdenunterricht für Antonio. Nun
fühlt sie sich betrogen, weil das Jugendamt ihr stattdessen das Kind
weggenommen hat. Heute sieht sie Antonio alle zwei Wochen, für zwei
Stunden. Ob auf dem Spielplatz, im Schwimmbad oder beim Eis-Essen - eine
Mitarbeiterin vom Jugendamt ist immer dabei. "Es ist fast nicht zu
ertragen, dass ich nie mit meinem Kind allein sein kann", sagt sie. Bis zu
diesem Moment hat Annette S. ruhig und gefasst ihre Geschichte erzählt.
Jetzt fließen ihr die Tränen übers Gesicht. "Mein Sohn entfernt sich immer
mehr von mir", sagt sie. Jetzt sei die Kommunikation tatsächlich gestört:
Antonio gebärdet kaum noch.
Anwalt Schneider-Addae-Mensah beanstandet das vom Amtsgericht eingeholte
Gutachten. "Die Sachverständige beherrscht keine Gebärdensprache und war
somit nicht kompetent genug", sagt er. Sie hatte festgestellt, dass Annette
S. sich als Opfer fühle, da sie "schwarz und gehörlos" sei, sie misstraue
der hörenden Welt. Ihre Kommunikation mit ihrem Sohn sei geprägt außerdem
von zwei gegensätzlichen Kulturen. "Ihr Weltwissen ist eingeschränkter als
das von Hörenden", schrieb die Gutachterin. Deshalb könne sie Antonio nicht
erziehen.
Das kann Cornelia Tsirigotis nicht bestätigen. Kinder gehörloser Eltern
dürfe man nicht ihrer Zweisprachigkeit entziehen, sagt die
Familientherapeutin und Leiterin einer Hörgeschädigten-Schule.
"Grundsätzlich sollte man einer gehörlosen Mutter Hilfe an die Seite
stellen, ohne ihr das Kind wegzunehmen", sagt sie. So könne die
Mutter-Kind-Interaktion weiter bestehen bleiben. "Gehörlose Eltern sind
nicht zwangsläufig schlechte Eltern."
Das Jugendamt äußert sich aus Datenschutz-Gründen nicht zu dem Fall, ebenso
wie das Kinderheim. Die Schwester Aretha S.-Apithy und der Anwalt haben
jetzt eine Welle an öffentlicher Aufmerksamkeit für Antonios Fall
losgetreten. Sie schrieben Gehörlosen-Foren an, den Afrikarat und wollen im
Notfall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Anwalt
Schneider-Addae-Mensah hat sogar seinen alten Jura-Kommilitonen, Hamburgs
Ersten Bürgermeister Christoph Ahlhaus, persönlich angeschrieben. Der
reichte den Brief an die Justizbehörde weiter. Eine Antwort kam bisher noch
nicht.
28 Dec 2010
## AUTOREN
Emilia Smechowski
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Kommentar Gescheiterte Familienhilfe: Vom Amt übers Ohr gehauen
Sobald ein konkretes Familienproblem beim Jugendamt bekannt wird, droht
automatisch der Verlust des Sorgerechts. Unter diesen Umständen wird kein
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