# taz.de -- Juliano Mer Khamis und sein Freiheitstheater: "Wir wollen die Mauer… | |
> Juliano Mer Khamis wurde am Montag erschossen. Vor knapp zwei Jahren | |
> sprach der Israeli mit der "taz" über die Herausforderung, mit | |
> palästinensischen Kindern die "Farm der Tiere" zu inszenieren. | |
Bild: Tränen nach Juliano Mer Khamis' Tod. | |
taz: Herr Mer Khamis, Sie sind israelischer Bürger, arbeiten aber an einem | |
Theater in Dschenin in Palästina. Ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater Araber. | |
Was sind Sie? | |
Juliano Mer Khamis: Beides, nichts von beidem. Für viele Araber war ich ein | |
dreckiger Jude, für Juden ein dreckiger Araber. Ich war als Junge, anders | |
als mein Bruder, auf einer jüdischen Schule. Ich hatte eine jüdische | |
Freundin, jüdische Freunde. Ich war auch bei der israelischen Armee. | |
[Palästinensische Israelis gehen nicht zur Armee, d. Red.] Ich war sogar | |
bei den Special Forces. Ich wollte damals ein guter, starker Jude sein. | |
Mein Vater hat deshalb jahrelang nicht mit mir geredet. | |
Eine jüdisch-arabische Ehe ist ungewöhnlich in Israel. War Ihre Mutter auch | |
empört über Ihre Entscheidung? | |
Nein, meine Mutter hat mich darin unterstützt, in die israelische Armee zu | |
gehen. Sie dachte sich wohl, dass ich meinen eigenen Weg finden müsste. | |
In der Armee ging alles gut? | |
Nein, ich landete eineinhalb Jahre im Knast. Ich schlug meinen vorgesetzten | |
Offizier mit einem Gewehrkolben ins Gesicht. Er hatte, an einem Checkpoint | |
zwischen Dschenin und Haifa, einen alten Araber verprügelt. Ich wollte ihn | |
stoppen, aber er hörte nicht auf. Da habe ich zugeschlagen. | |
Warum? | |
Aus Gerechtigkeitsempfinden. | |
Nur deswegen? | |
Nein. Die Offiziere hatten mich immer wieder provoziert. Sie haben gefragt, | |
ob ich denn meine "Brüder" auch tatsächlich so in Schach halten kann, wie | |
es sich für einen israelischen Elitesoldaten geziemt. Außerdem kannte ich | |
bis dahin nur die Grundausbildung. Da haben wir vor allem Sport gemacht und | |
Überlebenstraining. Dann kam, wie ein Schock, der Einsatz, die | |
Konfrontation mit der Besatzungsrealität. Meine ganze verkorkste | |
Identitätskonstruktion, die Unterdrückung meiner palästinensischen Seite | |
explodierte in dem Moment, als wir diesen alten Palästinenser verprügeln | |
sollten. Das zu sagen klingt für Sie wahrscheinlich ein bisschen | |
theatralisch. Schauspieler übertreiben ja gern. Aber es war wirklich so. | |
Und nach dem Gefängnis? | |
… wurde ich Schauspieler in Israel, bis vor vier Jahren. Dann konnte ich | |
nicht mehr. | |
Schon wieder ein Schlüsselerlebnis? | |
Ich arbeitete damals in Tel Aviv als Schauspieler. Gleichzeitig drehte ich | |
einen Film über Dschenin. Ich bewegte mich in zwei Welten. Einerseits die | |
Geschichte meiner Mutter, ihre Theaterarbeit in den 80er-Jahren mit | |
Flüchtlingskindern, die Geschichte der Kinder, einige waren | |
Selbstmordattentäter geworden, viele wurden von der israelischen Armee | |
erschossen. Andererseits spielte ich Shakespeare in Tel Aviv. Eines Abends | |
in Tel Aviv schaute ich kurz vor der Aufführung durch den Vorhang: Der Saal | |
war voll mit Soldaten. Ich kam damals gerade von der Beerdigung eines guten | |
Freundes, der in Dschenin erschossen worden war. Ich war dabei gewesen, als | |
er starb. Jetzt sollte ich für die kulturelle Truppenbetreuung sorgen. Das | |
konnte ich nicht tun. Ich weigerte mich aufzutreten. | |
Sie leiten jetzt das Freedom Theatre in Dschenin. Die erste eigene | |
Produktion des Theaters war Orwells "Farm der Tiere". Warum dieses Stück? | |
Weil "Farm der Tiere" zeigt, wie die Macht Freiheitskämpfer in korrupte | |
Herrscher verwandelt. Und das ist in Dschenin hochaktuell. Wir haben diese | |
Parabel auf die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland | |
bezogen, die sich mit der israelischen Besatzung arrangiert hat und sich | |
aufführt wie ein Diktator. So etwas zu zeigen ist für die palästinensische | |
Kultur neu. Denn uns fehlt eine Kultur der Kritik, das Freidenkerische. Das | |
wollen wir ändern. Das Stück kam gut an, denn viele Palästinenser wollen | |
eine kritische Auseinandersetzung. | |
Sie haben 2006 gesagt, dass das Freedom Theatre Kinder und Jugendliche "von | |
den Narben der Besatzung und patriarchalen Zwängen der palästinensischen | |
Gesellschaft befreien will". Ein hoher Anspruch. Ist daraus etwas geworden? | |
Ich denke schon. Wir sind noch längst keine Bewegung, die etwas fundamental | |
verändern kann. Aber wir wachsen. Das dauert, denn die israelische | |
Belagerung hat die Leute in Dschenin zerrieben und zermürbt. Ich meine das | |
nicht als theatralische Metapher, es ist eine Beschreibung der psychischen | |
Folgen der Besatzung. Dschenin war sieben Jahre lang komplett von der | |
Außenwelt abgeschlossen. Dschenin ist eigentlich tot. | |
Haben Sie so etwas wie Hoffnung? | |
Nein, es ist falsch, in Dschenin Hoffnung zu haben. Denn das macht | |
depressiv. Israel schafft immer neue Fakten, okkupiert noch mehr Land, | |
zerstört jede Entwicklungsmöglichkeit Palästinas und verbaut mit der Mauer | |
buchstäblich auch die Reste der palästinensischen Infrastruktur. Kein Obama | |
und kein Abbas werden dies stoppen. Wir sind auf dem Weg zur Hölle. | |
Dschenin gilt aber doch - auch wegen des Theaters - als gelungenes Beispiel | |
für die Deeskalation der Gewalt. Es war ein Zentrum der zweiten Intifada. | |
Militante Kämpfer gegen Israel haben ihre Waffen niedergelegt, Jugendbanden | |
beherrschen nicht länger die Straßen. Es gibt wieder mehr Sicherheit … | |
Das ist albern … | |
Ist Dschenin nicht sicherer geworden? | |
Nein, das ist israelische Propaganda. Heute kontrollieren nicht mehr die | |
jungen Freiheitskämpfer die Straßen, sondern die korrupte Polizei der | |
Autonomiebehörde. Ich kann darin keinen Gewinn an Sicherheit erkennen. | |
Neulich ist das Musikkonservatorium in Flammen aufgegangen - trotz der | |
Sicherheit, die die Behörde garantiert. Es gab auch zwei Brandanschläge in | |
den letzten Wochen auf das Freedom Theatre. | |
Von wem? | |
Das ist unklar. Vielleicht Kriminelle. Es gibt aber in Dschenin manche, die | |
ablehnen, was wir tun. | |
Wer? | |
Konservative religiöse Traditionalisten. Wer sonst lehnt schon Musik und | |
Theater ab? | |
Sind das viele? | |
Ich schätze, die Hälfte der Dscheniner. Das ist das Ergebnis von sieben | |
Jahren Isolation durch die israelische Armee. Niemand konnte rein, niemand | |
raus. Da bildet sich Gettomentalität - Misstrauen gegenüber allem Neuen, | |
Fremden. | |
Wie äußert sich das? | |
Eltern weigern sich, ihre Kinder zu uns zu schicken. Dscheniner haben gegen | |
das Theater demonstriert. Und es boykottiert. Sie haben Flugblätter gegen | |
uns verteilt, das Gerücht verbreitet, dass wir mit Israel kollaborieren und | |
die palästinensische Kultur zerstören wollen. Das kam allerdings nicht von | |
der Hamas, sondern eher von sehr traditionell eingestellten Älteren. | |
Können Sie mit ihnen reden? Oder geht das nicht? | |
Doch, nur so haben wir das Theater aufbauen können. Als wir anfingen, haben | |
wir mit zwei Kindern gearbeitet. Wir mussten ganz langsam Vertrauen bilden. | |
Wir mussten bis vor eineinhalb Jahren wirklich um jedes Kind kämpfen - | |
besonders um die Mädchen. Das haben wir geschafft. Heute ist die Hürde für | |
Kinder, im Theater mitzuarbeiten, viel niedriger. | |
Sie sagen, der Widerstand der Traditionalisten gegen das Theater ist das | |
Resultat der Besatzung. Ist es nicht eher ein hausgemachter | |
palästinensischer Fundamentalismus? | |
Nein, Dschenin war vor der Belagerung anders. Eine Stadt mit Alkohol, | |
Hasch, Sex, Korruption. Anders aber auch deshalb, weil damals tausende | |
Dscheniner in Israel arbeiteten. Sie hatten Kontakt mit der Moderne. Israel | |
verkörpert die Moderne - das bestreite ich keineswegs. | |
Ist das Freedom Theatre Therapie für traumatisierte Jugendliche oder Kunst? | |
Es ist Politik. | |
Also ist Kunst nur eine Funktion des politischen Kampfes? | |
Ich glaube nicht, dass man Kunst und Politik trennen kann. Wenn man es tut, | |
entsteht konsumistischer, selbstreferentieller Mist, der mich nicht | |
interessiert. Wir benutzen Kunst, um die Mauer und die Politik der | |
ethnischen Verdrängung zu durchlöchern. | |
Kürzlich hat ein Jugendorchester aus Dschenin in Israel ein Konzert vor | |
Holocaust-Überlebenden gegeben. Die Leiterin darf nun Dschenin nicht mehr | |
betreten - wegen Kollaboration mit dem Feind. Wie sehen Sie das? | |
Gelassen. Es stimmt schon, dass die Reise des Orchesters ein Problem ist: | |
Ein paar Jugendliche dürfen bei Wohlverhalten nach Israel, während | |
Hunderttausende ausgesperrt sind und wöchentlich Kranke sterben, weil sie | |
keine Erlaubnis bekommen, die Checkpoints zu passieren. Das muss man | |
kritisieren … | |
Aber? | |
Aber in Dschenin tun viele so, als sei die Reise ein Riesenskandal. Das ist | |
lächerlich. Ein paar Kinder haben in Tel Aviv Violine gespielt - na und? | |
Manche scheinen zu glauben, dass der palästinensische Befreiungskampf | |
gescheitert ist, weil eine naive, alte Dame mit ein paar Jugendlichen Geige | |
gespielt hat. Albern. | |
Wie reagieren die Palästinenser in Dschenin, wenn Sie ihnen das sagen? | |
Es gab dazu kürzlich eine Pressekonferenz der Palästinenser in Dschenin. | |
Sie haben mich hinausgeworfen. | |
Warum? | |
Weil ich gesagt habe: Regt euch lieber über etwas auf, das lohnt. Zum | |
Beispiel über den Brandanschlag auf das Musikkonservatorium und das Freedom | |
Theatre. Das wollten sie nicht hören. Die Palästinenser haben sich mit | |
dieser Skandalisierung der Konzertreise nur ins eigene Bein geschossen. In | |
einigen US-amerikanischen Medien scheinen sie mal wieder als herzlose | |
Monster, die Holocaust-Überlebenden auch noch ein Geigenkonzert missgönnen. | |
Es gab eine Morddrohung gegen Sie. Ist es gefährlich, in Dschenin Theater | |
zu machen? | |
Offensichtlich ja. | |
Fühlen Sie sich bedroht? | |
Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber das ist immer noch besser, als in Tel | |
Aviv den Entertainer zu spielen. | |
5 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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