# taz.de -- Interview: "Jeder hat seine eigene Rosa Luxemburg" | |
> Rosa Luxemburgs Namen kennt jeder. Aber selbst die, die am Sonntag auf | |
> die Straße gehen, wissen wenig über das Denken der Sozialistin - glaubt | |
> Jörn Schütrumpf vom Dietz Verlag, der die Schriften Luxemburgs verlegt. | |
Bild: Das war man noch qua Staatsangehörigkeit Luxemburg-Fan: Demo in Ost-Berl… | |
taz: Herr Schütrumpf, wie viele Rosa Luxemburgs gibt es? | |
Jörn Schütrumpf: Eigentlich hat jeder seine eigene. Rosa Luxemburg ist eine | |
merkwürdige Gestalt des 20. Jahrhunderts. Sie ist gleichermaßen | |
Identifikations- und Hassfigur. Viele ihrer früheren Gegner schmückten sich | |
mit ihr, weil sie zur rechten Zeit ermordet wurde. Das Bild dieser Frau ist | |
sehr schillernd, sehr unklar. Sie war ab 1907 in der SPD stark umstritten, | |
ab 1910 brachte sie - nicht zuletzt mit ihrer lästerlichen Zunge - immer | |
mehr SPDler gegen sich auf, die sich ins nationalistische Lager | |
verabschiedeten. Selbst verbrachte sie den Ersten Weltkrieg weitgehend im | |
Gefängnis. Nicht wenige ihrer Nochgenossen waren nicht unglücklich darüber. | |
Und welcher Rosa Luxemburg gedenken die Leute, die am Sonntag zum | |
Sozialistenfriedhof nach Friedrichsfelde pilgern? | |
Die einen erinnern sich an eine ermordete Frau, von der sie kaum etwas | |
wissen, außer dass sie am Anfang der kommunistischen Bewegung stand. Viele | |
von ihnen würden Luxemburgs Meinungen nicht teilen, wenn sie sie kennen | |
würden. Nach der Wende hatte der Gedenkmarsch dann auch etwas von | |
Emanzipation dem verordneten Staatsgedenken gegenüber. Außerdem spielte bei | |
vielen noch die Betroffenheit und Peinlichkeit mit rein, 1988 geschwiegen | |
zu haben. | |
Was war 1988? | |
Damals, also noch zu DDR-Zeiten, forderte eine Gruppe von Bürgerrechtlern | |
bei der Luxemburg-Liebknecht-Veranstaltung die "Freiheit der | |
Andersdenkenden". Das ist eine viel zitierte Losung Rosa Luxemburgs. Die | |
Bürgerrechtler wurden niedergeknüppelt. Damit war natürlich das ganze | |
Gedenken an Rosa Luxemburg besudelt worden. Das war dem letzten Trottel | |
klar. Den wenigen, die nach der Wende am Jahrestag wieder zum Friedhof | |
gegangen sind, ging es auch um die Würde dieser Toten, die 1988 von dem | |
Regime, das sich auf Luxemburg berief, beschädigt worden war. | |
Um was ging es in den Folgejahren, als das Gedenken am Jahrestag immer mehr | |
Leute anzog? | |
Es hatte etwas von Wiedergutmachung und Selbstfindung. Es war nicht nur die | |
Trauer um Rosa Luxemburg, sondern auch die Trauer um vielfach verpfuschte | |
Lebensläufe, die gepflegt wurde bei diesem Spaziergang. Es haben sich dann | |
in der Folgezeit alle möglichen Kräfte an das Gedenken drangehängt. Wenn | |
ich heute dort die Stalin-Plakate sehe, wird mir kotzübel. Rosa Luxemburg | |
wäre es unter Stalin sicher genauso ergangen wie Leo Trotzki. Gegenspieler | |
ließ Stalin beseitigen. Zumal wenn sie klüger waren als er. Alles zusammen | |
ist es eine hoch verlogene Geschichte des Umgangs mit ihr in der KPD und | |
später auch in der SED. Man wollte die tote Ikone, aber man wollte nicht | |
die Denkerin. | |
Was gewinnt man, wenn man stattdessen mit unverbrauchtem Blick auf Rosa | |
Luxemburg schaut? | |
Wenn man heute ihre Texte liest, hat man richtig gute, politische Literatur | |
vor sich. Ein Großteil ihrer Schriften sind Polemiken. Sie hat sich als | |
junge Frau mit einer Altmännergesellschaft auseinandergesetzt - und das | |
frisch und frech. Wenn man das mit dem vergleicht, was Politiker heute von | |
sich geben, dann erkennt man unschwer den Kulturverlust, den Stilverlust, | |
den Geistverlust in der politischen Auseinandersetzung. | |
Gibt es andere Aspekte, die sie heute wieder modern erscheinen lassen? | |
Rosa Luxemburg hatte ein unglaubliches Selbstbewusstsein. Sie wollte Frau | |
sein auf Augenhöhe mit den Männern. Sie lebte vor hundert Jahren entgegen | |
aller Tradition ihr eigenes Leben. Sie forderte Gleichheit ein. Sie machte | |
vor keinerlei Autorität einen Kotau. Sie konnte Leute wegen ihrer | |
Verdienste würdigen, aber sie folgte ihnen deshalb noch lange nicht. Sie | |
entschied jeden Tag neu und beurteilte ihre Mitmenschen nach dem, was sie | |
im Augenblick taten und nicht einst geleistet hatten. Das brachte ihr unter | |
den Sozialdemokraten viele Feinde ein. | |
Hat sie tatsächlich lebenslang autoritären Strukturen misstraut? | |
Sie hat Autorität, die nicht aus der momentanen Tat heraus erwächst, nicht | |
akzeptiert. Selbst in schlimmen Phasen ihres Lebens hat sie ihren Humor | |
nicht verloren. Man muss das historisch sehen. Luxemburg lebte in einer | |
Zeit, wo die Sozialdemokratie in sich immer weiter verfiel, wo sie eine | |
Position nach der anderen aufgab, wo die Kerle immer fetter wurden, immer | |
bürgerlicher und kleinbürgerlicher, immer gemeiner und hämischer. Dem hatte | |
sie sich zu erwehren. Wenn man ihre Entwicklung zwischen 1898 und 1910 | |
anguckt, dann sieht man, dass diese Frau sehr eigene emanzipatorische, | |
revolutionäre und immer antiautoritäre Positionen entwickelt. | |
Hat sie auf einer individuellen Freiheit bestanden, die damals überhaupt | |
verstanden wurde? | |
Für sie war Freiheit und Öffentlichkeit nicht trennbar. Alle Dinge müssen | |
in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, damit die Ausgebeuteten und die | |
Zukurzgekommenen, wie sie sagte, zu Selbstbewusstsein kommen. Nur in der | |
Öffentlichkeit kann die Freiheit jedes Einzelnen gedeihen. Deshalb war sie | |
auch von dem irritiert, was sich 1918 in Russland abspielte. | |
Warum? | |
Sie war der Meinung, nur der offene Kampf, die offene Auseinandersetzung | |
unter der Prämisse "Freiheit für alle" könne zu einer emanzipierten | |
Gesellschaft führen. Alles andere führe zum Polizeistaat. Wenn eine | |
vermeintlich revolutionäre Partei alle anderen unterdrückt, am Ende sogar | |
auch noch die eigene Klasse, die sie zu vertreten vorgibt, dann stirbt | |
natürlich als Erstes die Freiheit. | |
Wie wollte sie ihre revolutionären Ideen umsetzen? | |
Anders als viele in der SPD war Luxemburg der Meinung, dass die | |
Organisation nicht so fürchterlich wichtig ist. Ihrer Überzeugung nach | |
hatte der Intellektuelle in der Partei dagegen die Aufgabe, die Massen | |
dabei zu unterstützen, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Luxemburg gehört zu | |
den Linken, die in den Kategorien der Französischen Revolution dachten. | |
Diese hatte die persönlichen, die bürgerlichen Freiheitsrechte gebracht. | |
Luxemburg meinte, durch Aufklärung sollte nicht nur das Bürgertum zu | |
bürgerlichen Rechten gelangen, sondern auch der Arbeiter sollte | |
Selbstbewusstsein entwickeln und soziale Freiheits- und Gleichheitsrechte | |
einfordern. Sie wollte beides, bürgerliche und soziale Rechte. Lenin und | |
die anderen wollten dagegen kein freiheitlich denkendes Arbeitervolk, | |
sondern eine Revolution von oben und damit Menschenbeglückung via | |
Abschaffung der bürgerlichen Freiheit. | |
Und warum passt Luxemburgs Freiheitsbegriff zu heutigen Vorstellungen von | |
individueller Freiheit? | |
Weil individuelle Freiheit, die auf Vereinzelung und | |
Assoziationsunfähigkeit gründet, was wir in dieser Gesellschaft unter dem | |
Stichwort Individualisierung immer weiter erleben, auf die Dauer auch keine | |
Freiheit mehr ist. Für sie war Freiheit ein Vorgang der Assoziation, des | |
Zusammenwirkens. Sie hatte ganz klar einen handlungsorientierten Ansatz. | |
Theorien waren ihr eigentlich egal. Sie wollte, dass sich diese | |
Gesellschaft verändert in Richtung Emanzipation, und war überzeugt, dass | |
das nur geht, wenn die Arbeiter durch gemeinsames Handeln, gemeinsame | |
Erfahrung und durchaus auch durch Aufklärung einen Willen zur Freiheit | |
entwickeln, der sich nicht mehr totschlagen lässt. | |
Genau das ist ausgeblieben. | |
Das ist das große Scheitern von Rosa Luxemburg. | |
Luxemburg ist demnach aktuell, weil ihr Begriff von individueller Freiheit | |
eine Kritik am gegenwärtigen Individualisierungsprozess beinhaltet? | |
Ja, weil gegenwärtige Individualisierungsprozesse mit dem Verlust der | |
Assoziationsfähigkeit, dem Verlust gemeinsamen Handelns zum Ziel der | |
Emanzipation des Einzelnen und damit der Emanzipation der Gesellschaft | |
einhergehen. Allein aber kann man die Gesellschaft nicht ändern. | |
Wenn dem so ist, könnten sich die sozialen Bewegungen wunderbar auf sie | |
beziehen. | |
Selbstverständlich. | |
Tun sie es? | |
Sie kennen sie nicht. | |
Wie ist es mit den Globalisierungskritikern? | |
Da ist es differenzierter. In Lateinamerika, in Südafrika gibt es eine | |
starke Rosa-Luxemburg-Rezeption. Das hängt auch mit ihrer These zusammen, | |
dass der Kapitalismus immer neue Orte und Länder braucht, wo er sich | |
ausbreiten kann. Gibt es keine Länder mehr, die in das kapitalistische | |
System integriert werden können, kommt es zum Krieg. Dies scheint sich | |
immer mehr zu bestätigen. | |
Wird Rosa Luxemburg eine Renaissance erleben? | |
Ich bin skeptisch. Sie hat schon 1968 keine Renaissance erlebt. Luxemburg | |
ist zu komplex, zu anders, zu anspruchsvoll. Für sie braucht man Zeit, | |
Kraft, Liebe. Das setzt eine intellektuelle Kultur voraus, die wir in | |
Deutschland immer weniger haben. | |
11 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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