# taz.de -- Hinterm Berg ist hinterm Mond: Im Zauberhaus für alle Fälle | |
> Eine Busfahrt mit Zwischenstopps vom adriatischen Fuß der schwarzen Berge | |
> auf das montenegrinische Steinwüstendach | |
Bild: Bucht von Kotor (Cattaro) in Montenegro | |
Das "Zauberhaus", wie wir es später nennen werden, liegt hinterm Berg, also | |
hinterm Mond. Wie das Land. Noch im Westen aus Richtung Dubrovnik kommend, | |
entlädt der Bus uns auf freier Wildbahn, Endstation auf dieser Seite der | |
Welt, dahinter kommt Jugoslawien, Milosevic-frei längst, was bisher | |
allerdings auch nicht weiterhalf. Wir schlendern zum kroatischen | |
Zollcontainer, dann bergab an den Schildern "SR Jugoslavija" und "Republika | |
Crna Gora" rechts und der rotsternlosen Fahne links vorbei an die | |
montenegrinische Grenzbaracke. Visa benötigen wir keine. Den Stempel gibt | |
es gratis. | |
Hinein in den längst wartenden Rumpelbus und hinunter, bis vor Igalo die | |
Adria in Sicht kommt, weit und blau und noch viel schöner, Montenegro eben, | |
wörtlich übersetzt "Schwarzer Berg", eigentlich eher ein Gebirge und | |
schwarz auch nur im Schatten des ganz frühen Morgens und während der | |
Abenddämmerung. Montenegro - da erhebt sich kurz hinter der glatten | |
Meeresoberfläche schon die garstige Felswand hoch bis auf die | |
Steinwüstenebene. Dorthin hatten sich die Menschen zwischen Stolz und | |
Entbehrung über Jahrhunderte zurückgezogen, um der osmanischen | |
Fremdherrschaft zu trotzen, lebend von der Jagd und von Überfällen - | |
Banditen, Rebellen, Heiducken in einer kargen Karstgegend. | |
Unten an der hellen Küste, zwischen üppigem Grün versteckt, liegt das | |
Zauberhaus, unsere Unterkunft, zweistöckig, kalkweiß eigentlich, doch | |
leicht angegraut durch farblose Mangelzeiten. Es ist, wie es sein muss, | |
voller Widersprüche. Also, die Wasserhähne sind trocken, geben keinen | |
Tropfen. Im Bad stehen Plastikflaschen, auf dem Flur verschiedene Gefäße, | |
im Garten Bottiche, und in der Garage, wo früher einmal der Weinkeller war, | |
hinter einer schweren Eisentür: Nein, keine Fässer, auch kein Wein, | |
vielmehr ein dunkler Teich von beträchtlichem Volumen, voll mit Wasser. Am | |
Rand kniend füllt R. den Eimer, reicht ihn weiter an mich, den zweiten | |
schon, und ich trage beide hoch vor unser Zimmer mit Bad und Balkon, die | |
nun zur Unterkunft "mit fließend Wasser" wird, schwallartig stürzend. | |
Vier Tage dreht Kroatien diesmal die ehemals gesamtjugoslawische Leitung | |
ab. Rekordzeit im Jahr 2002, während des Krieges waren es Wochen. Damals | |
Druckmittel, müsse Montenegro diesmal 500.000 Euro "Miete" zahlen, heißt | |
es, und die lustige Kleinstaaterei treibt ihr seltsames Spiel mit den | |
Menschen des Ländles, eine gute halbe Million Einwohner, von der rund die | |
Hälfte auch noch ihren eigenen Staat aufmachen will, den sechsten in | |
Exjugoslawien, die offene Kosovo-Frage nicht mitgerechnet. | |
Montenegrinischer Verkehr bedeutet großenteils Busfahren. Richtig | |
angenehmes Reisen also, ohne Komfort zwar, doch höchst anspruchsvoll in | |
diesen überall so kalten Zeiten, wobei das nahe Herceg-Novi noch "das | |
mildeste und angenehmste Klima in der ganzen östreichischen Monarchie | |
haben" soll, bemerkte Johann Georg Kohl schon 1850. Damals wurden dem | |
Reiseschriftsteller Trauben präsentiert, "deren Beeren in Größe mit unseren | |
Pflaumen wetteiferten". Heute gehört das ehemalige "Castelnuovo" zu den | |
wenigen Perlen der Adriaküste, die noch nicht überlaufen sind. | |
Von Herceg-Novi aus führt uns die kurvige Uferstraße nun bis Kotor um die | |
gleichnamige Bucht herum: Die fjordähnliche "Boka Kotorska", von hohen | |
Bergen umzingeltes Wasser, tief, kalt und abweisend wirkend, eine dunkle | |
Fläche wie gespickt mit Dolchen, aufgewirbelt vom eisigen Fallwind Bora, | |
der aus dem Gebirge herabstürzt. Kotor hieß früher "Cattaro". Cattaro, da | |
war doch was? Ernst Busch, Piscator, Volksbühne, 1930, Uraufführung von | |
Friedrich Wolfs Bühnenfassung des Trauerspiels zur österreichischen | |
"Oktoberrevolution", in echt vom 1. bis 3. Februar 1918 dauernd, als "Die | |
Matrosen von Cattaro" im gleichnamigen k. u. k. Stützpunkt die rote Fahne | |
hissten, 6.000 an der Zahl, weil sie nichts mehr zu essen bekamen und vom | |
Krieg die Nase voll hatten und sich die Offiziere, 200 an der Zahl, die | |
Wampen voll hauten und zudem Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt verkloppen | |
ließen. Naivität und Unentschlossenheit einerseits und eine | |
skrupellos-schlaue Entschlossenheit der anderen Seite ließen den Aufstand | |
scheitern. Aus der Traum, ausgesungen das Lied der Matrosen: "Trag über den | |
Erdball, trag über die Meere die Fahne der Arbeitermacht." | |
Uns fröstelt. Dieser Nachmittag mag ähnlich trübe und nasskalt sein wie | |
damals der Morgen an der Friedhofsmauer mit den vier Männern davor, | |
"Rädelsführer" genannt, die am 11. Februar 1918 um 6 Uhr früh bei Cattaro | |
standrechtlich erschossen wurden. Heute weist eine Gedenktafel in der | |
Festung auf Frantisek Ras (Franz Rasch), Jeroko Sizgoric, Mate Brnicevic | |
und Anton Grubar hin. Hoffentlich fällt sie nicht im Rahmen der laufenden | |
Altstadtsanierung unter den vielenorts beliebten | |
Vergangenheitsbewältigungshammer. | |
Plötzlich hinter einem unbeleuchteten Tunnel wie aus dem Nichts kommend | |
breitet sich vor uns die Armut der Macchia aus, wild bewachsenes Land, | |
schwer durchdringliches, meterhohes Dickicht. An der Straße findet die | |
triste Schmuddeligkeit kaum frequentierter Hotels statt. Mit dem morbiden | |
Charme des untergehenden Jugoslawiens vor fünfzehn, zwanzig Jahren, hoch | |
verschuldet bei der Weltbank und ächzend unter den Auflagen des | |
Währungsfonds, hat das nichts mehr zu tun: Heute lastet auf allem, | |
besonders jedoch auf den selten lächelnden Menschen der Schatten von Krieg | |
und Überlebenskampf. Wenn die Leute den Mund öffnen, in knappen Worten | |
Fragen beantwortend, freundlich und zuvorkommend meist, vorurteilsfrei auch | |
gegenüber den "Schwaben", wie Deutsche hier seit der Okkupation durch die | |
Nazi-Wehrmacht genannt werden -, wenn sie also etwas sagen, widerspiegelt | |
der schlechte Zustand ihrer Zähne die Lage im ganzen Land. | |
Ausgestiegen in Cetinje, als montenegrinische Hauptstadt Vorgängerin von | |
Titograd, dem heutigen Podgorica: Zu unserer Verwunderung fährt kein Bus | |
zum nationalen Wallfahrtsort. Der Taxifahrer macht trotzdem pro Tag nur ein | |
oder zwei Fahrten über die 20 Kilometer hoch in das Lovcen-Massiv. Dort | |
liegt das Mausoleum des Dichter-Fürsten Petar II. Petrovic Njegos, bekannt | |
bis heute wegen der 2.819 Verszeilen seines "Der Bergkranz", eines | |
klassischen Dramas um Freiheitsringen und Verrat. Njegos, religiöser und | |
weltlicher Herrscher Montenegros, starb hier 1851, hatte seinen | |
Tuberkulose-zerfressenen Leib, aufrecht an einen Lehnstuhl gebunden, von | |
Maultieren hochschaukeln lassen. | |
Die meiste Zeit danach verbrachten seine knochigen Überreste in den 1.657 | |
Metern Höhe des Lovcen, seit 1974 erreichbar über 461 Stufen, die durch | |
eine tunnelartige Röhre zu einem aufgemauerten Plattformrondell führen, | |
Wolkenflug rundrum, Blick aufs Wasser der Kotor-Schlucht, der Fernsehsender | |
"TV Montenegro" mit seinem Mast gegenüber. Das "Njegos-Mausoleum" hat | |
gelitten: Kacheln bröckeln, im Monument regnet es durch. | |
Ulcinj döst, so scheint es: In der südlichsten Stadt Jugoslawiens, | |
Busbahnhof, schieben zwei Billard spielende Männer eine vormittägliche | |
Kugel nach der anderen, beobachtet vom gelangweilt gähnenden Kellner hinter | |
der Theke. Draußen auf der Straße herrscht wildöstliches Tohuwabohu. Vorbei | |
an Moscheen und christlichen Kirchen rasen balkanische Cowboys über den | |
langen Highway mit mittigem Grünstreifen vorbei an Läden aller Art und | |
Buden und Verkaufscontainern, Bars, "Cevapzanicas" - | |
Hackröllchen-Grillstationen. An der Stirnseite des lang gestreckten Kinos | |
gegenüber leuchtet neben Eingangstür und viereckigem Kassenloch ein | |
Graffiti in Rot: "Jugoslavija" steht da kurz vor Albanien an Montenegros | |
Ende. | |
Einen halben Tag mit dreimal Umsteigen dauert die Fahrt zurück nach Norden | |
in den Garten des Zauberhauses, der Kräuterrassen wie ein Teppich, die | |
Pergola mit Kiwi-Dach. Heilkräuter wachsen unter Glas, Gewürze auch, | |
Olivenbaumableger, Granatapfel, Wein natürlich, Aloe Vera, Lorbeer, Myrthe, | |
Salbei, Thymian. Der neue Weinkeller liegt treppab hinterm Wohnzimmer, | |
welch nahes Wunder, dann rechts ein Mauerdurchbruch von wohl 60 oder 80 | |
Zentimetern Dicke, dahinter sechs Fässer und ein Fässchen für "Loser" - | |
montenegrinischer Trester, Grappa, Raki, aus der Weinkelte gebrannter | |
Klarer. Ein Ort zum freiwilligen Verweilen und nicht wie der Bunker | |
daneben, in dem sich die Bewohner verkrochen, als die US-Bomber mit | |
Höllenlärm über die Adria in Richtung Belgrad und Vojvodina flogen, um | |
Brücken, Gleise, Tanks, Chemiefabriken und viele Privathäuser zu zerstören, | |
"kriegswichtige Ziele" im Kampf zur "Säuberung" des Kosovo von den bösen | |
Hufeisen-Serben, und R. wusste genau, dass zwei seiner Kinder oben in der | |
Vojvodina waren - lebten sie noch? Das Grauen ging um im Keller, doch sie | |
überstanden es, hier und da. | |
Oberhalb, am Berg hinter Steinhecken, wachsen die Beeren der Zyklame, die | |
den Selbstgebrannten würzen. Schnaps für bewusstloses Vergessen? Quatsch, | |
sagt R., der Loser brennt so schön im Magen. Also trinken wir. Zivili! Zum | |
Wohl! Auf euer wundervolles Haus, ihr vergessenen Zauberer hinterm Mond, | |
die ihr das Beste draus macht. | |
27 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Gerd Schumann | |
## TAGS | |
Reiseland Montenegro | |
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