| # taz.de -- Günter Wallraff und die Buchmesse: Der letzte Sozi | |
| > Was die Buchmesse mit dem Dilemma der Sozialdemokratie zu tun hat. Und | |
| > warum Günter Wallraff für sein neues Buch als Schwarzer in Deutschland | |
| > unterwegs war. | |
| Bild: Man in black: Günter Wallraff. | |
| Franziska Drohsel hat recht: "In Zeiten wie diesen ist es gut, Marx zu | |
| lesen." Die Bundesvorsitzende der Jusos sagt dies in einer Diskussion auf | |
| der Frankfurter Buchmesse. Zugegeben, etwas historische Bildung, wie sie | |
| die Jungsozialistin fordert, kann nichts schaden. Und auch ihr im Gespräch | |
| mit Rolf Hosfeld vorgetragenes Primat des Handelns, der Erneuerung von | |
| Theorie und Politik, klingt sympathisch. | |
| Nur, was sagen uns ihre Differenzierungen von der "Klasse an sich und für | |
| sich", die sie da auf dem Podium der Zeitschrift Vorwärts von sich gibt? | |
| Wohl nicht allzu viel. Und da sind wir schon beim aktuellen Problem der | |
| Gesamt-SPD: Thüringens SPD-Chef Christoph Matschie erzählt gerade jedem, | |
| der es hören will, warum er mit Bodo Ramelow und der Linken auf keinen Fall | |
| koalieren will. Er begründet dies fast ausschließlich persönlich. Ramelow | |
| habe sich aufgespielt und hinter Matschies Rücken das Gespräch mit anderen | |
| Sozialdemokraten gesucht. Ist ein Autoritätskonflikt wichtiger als eine | |
| politische Grundposition? Von umstrittenen Inhalten erfährt man aus | |
| Thüringen genauso wenig wie von den Grünen aus dem Saarland. Auch deren | |
| Chef Hubert Ulrich meint, weil er Oskar Lafontaine nicht mag, sei eine | |
| Koalition mit CDU und FDP nun selbstverständlich. Von einer Erneuerung | |
| rot-grüner Politik nach der verlorenen Bundestagswahl weit und breit keine | |
| Spur. | |
| "Tradition & Innovation" heißt der Titel dieser Frankfurter Buchmesse. Das | |
| passt als Überschrift zum diesjährigen Gastland China genauso wie auch zum | |
| Niedergang der Sozialdemokratie. Nicht sehr prägnant, aber - und so ist es | |
| wohl auch gewollt - in jede Richtung interpretierbar. Regimetreue Chinesen | |
| verstehen Innovation vor allem ökonomisch, die gesellschaftliche bleibt das | |
| Geschäft lästiger Dissidenten. Nun, große Reiche kommen und gehen, so sie | |
| modernisierungsunfähig sind. Ob Diktaturen oder demokratische Organismen | |
| ist da einerlei. | |
| Der scheidende Finanzminister Peer Steinbrück sagt, dass von den | |
| SPD-Landes- und Bezirksverbänden "wahrscheinlich nur drei oder vier als | |
| intakt und schlagkräftig bezeichnet werden können". Die SPD kann weder die | |
| heutigen Arbeits- und Produktionsverhältnisse ausreichend erklären noch für | |
| die weitere solidarische Entwicklung der Gesellschaft eine mehrheitsfähige | |
| Erzählung finden. | |
| In den zerzausten sozialdemokratischen Raum stoßen längst in vielen | |
| europäischen Ländern nationalistische Bewegungen, die mit ihren | |
| Trachtenvereinen wie in Österreich oder Ungarn die gesellschaftliche Mitte | |
| besetzen. Viele Linkssozialdemokraten konkurrieren mit diesen auf dem Feld | |
| der Europafeindlichkeit und des Vulgärklassenkampfs. Sehr kurz gedacht, | |
| kein besonders kluges Unterfangen. | |
| Ein solcher linkssozialdemokratischer Denker war auch auf der Buchmesse zu | |
| hören. Jean Ziegler referierte Thesen aus seinem neuen Buch "Der Hass auf | |
| den Westen". Der Schweizer Herz-Jesu-Marxist, Welthungerexperte der | |
| Vereinten Nationen, attackiert seit Jahr und Tag das, was er als | |
| kapitalistisches Weltsystem begreift. Seine unanalytischen | |
| Moralanschauungen finden sich mehrheitlich so auch bei den populistisch | |
| agierenden Kapitalismusgegnern. "Kannibalische, mörderische Weltordnung" - | |
| "Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals" - "Barack Obama sieht gut | |
| aus, kann aber nichts ausrichten" - "Israel bombardiert das Getto von Gaza" | |
| usw. Ziegler denkt monokausal und in eine Richtung: Schuld sind an allem | |
| und immer "der" Westen, "die" Konzerne. In seinem pseudoradikalen | |
| Kauderwelsch sehnt er sich nach "dem Willen zum Bruch". Vorbilder der | |
| Ziegler-Emanzipation sind lateinamerikanische Caudillos wie Hugo Chávez | |
| oder Fidel Castro. Es klingt nach Banalogie, fern ab von den Menschen, für | |
| die der Demagoge so gern spricht. | |
| Ein Sozialdemokrat der alten Schule ist hingegen Günter Wallraff, der in | |
| Frankfurt sein Reportagebuch "Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins | |
| Landesinnere" vorstellt. Wallraff schützt sich vor platten | |
| Verallgemeinerungen, indem er seine Thesen unter hohem individuellem | |
| persönlichem Einsatz tatsächlich vor Ort überprüft. Er schleicht sich als | |
| anonymer Arbeiter in Callcenter oder Backfabriken ein, beschreibt, was er | |
| als Obdachloser erlebt und jetzt als Afrodeutscher. Wallraff geht so nahe | |
| wie möglich an verschiedene soziale Lebenslagen heran, interessiert sich | |
| für die Lebenswirklichkeit Einzelner, die in ihrer Gesamtheit viele sind | |
| und von denen die meisten, die über sie reden, keinen blassen Schimmer | |
| haben. "Ich glaube, wenn ich dieser Frau noch einmal begegne, die wird ihre | |
| Einstellung ändern", sagt Wallraff, der alte Aufklärer. "Die hatte zuvor | |
| noch keinen Kontakt mit Schwarzen." Der Sozialreporter aus Köln ist | |
| erfrischend altmodisch, unzynisch geblieben. Und er glaubt immer noch, dass | |
| man die großen Dinge im Kleinen und durch Selbsttätigkeit erkennen, | |
| beeinflussen und verändern kann - Basis jeglicher Emanzipation. | |
| 16 Oct 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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