# taz.de -- Gang of Four über das neue Album: "Kapitalismus ist ein seltsames … | |
> Die Postpunkband Gang of Four veröffentlicht mit "Content" zum ersten Mal | |
> seit 15 Jahren ein neues Album. Ein Gespräch mit den Gründungsmitgliedern | |
> Jon King und Andy Gill. | |
Bild: Wieder zurück: Gang of Four. Links: John King, rechts Andy Gill. | |
taz: Herr King, Herr Gill, die Texte auf Ihrem neuen Album "Content" | |
liefern präzise Beschreibungen über die Entfremdung von Individuen im | |
öffentlichen Raum. Etwa "Can't forget your lonely face / Hiding out in | |
public space" in dem Song "Can't forget your lonely face", wo Sie die | |
Perspektive einer Überwachungskamera einnehmen. Was bezwecken Sie mit der | |
Distanz? | |
Jon King: Als Teenager hörten wir intensiv die Musik von The Band. Es war | |
spannend, wie sie als Kanadier amerikanische Kulturmythen wahrgenommen | |
haben und den Drang nach Freiheit und die Ortlosigkeit in ihren Songs mit | |
der Distanz von Außenseitern thematisierten. In der europäischen Kultur | |
gibt es dieses Ungebundensein gar nicht. Wir sind keine Drifter. Und wir | |
neigen eher dazu, Wurzeln zu schlagen, uns zu verstecken. | |
Wir gehen sogar freiwillig an Unorte, die wir in unseren Texten besingen. | |
Nehmen Sie etwa das Londoner Viertel Canary Wharf. Unorte wie dieser sind | |
bevölkert von Menschen, die sich dort nicht entfalten können. Auf unserem | |
neuen Album verhandeln wir, was es für Menschen an diesen Unorten überhaupt | |
noch für Freiräume gibt. | |
Gang of Four haben 1978 begonnen. Damals wie heute geht es in Ihren Texten | |
um den Alltag im Kapitalismus und wie er in jede Pore des Individuums | |
eindringt. Wie viel Persönliches steckt in Ihren Texten? | |
Andy Gill: Wir versuchen die Realität, so wie sie uns erscheint, angemessen | |
zu beschreiben. Dabei kommt immer etwas Exzentrisches heraus. | |
Jon King: Ein gewisses Maß an Theatralik können auch wir nicht vermeiden. | |
Aber das ist auch angemessen, ich finde, die Dinge sind kompliziert, gerade | |
weil wir im Wohlstand leben. Man könnte unseren Zustand Kollaborationismus | |
nennen: Wir arbeiten unseren Unterdrückern in die Hände. Es ist ein | |
bisschen wie beim Stockholm-Syndrom, wo sich Geiseln in ihre Entführer | |
verlieben. Es ist kompliziert, sich da heil herauszuziehen. "Content" | |
handelt von der fundamentalen Verunsicherung, mit der wir gerade leben. Wir | |
hören ja nie auf, uns mit den uns umgebenden Widersprüchen | |
auseinanderzusetzen, Kapitalismus ist ein seltsames Biest. Unseren Luxus | |
bezahlen wir mit einem hohen Preis. Und wenn es eine Überwachungskamera | |
ist, wie in dem von Ihnen beschriebenen Textausschnitt. | |
Gang of Four haben sich 1978 an der Universität von Leeds gegründet. Sie | |
galten als archetypische Postpunkband, mischten politische Theorie, | |
schroffe Gitarren und unorthodoxe Rhythmen. Wie gingen Musik und Marxismus | |
zusammen? | |
Andy Gill: Am Anfang war das größte Bedürfnis, dass wir uns vergnügen beim | |
Songs-Schreiben. Wir setzten uns in Leeds auch mit marxistischer Theorie | |
auseinander. Aber das war nur ein Handlungsfaden unter vielen, genauso | |
wichtig waren Dubreggae, der Hedonismus von Disco, der Lärm von Velvet | |
Underground und der clevere Lyrizismus eines Bob Dylan. Wir entwickelten | |
ganz allgemein ein Faible für Popkultur, auch für Sachen, die gegen den | |
guten Geschmack verstießen. Es war für uns selbstverständlich, solche Dinge | |
unter einen Hut zu bringen und daraus etwas Eigenes zu formen. In einem | |
Song wie "Damaged Goods" flossen Zitate von Althusser, | |
Dub-Produktionstechniken und psychedelische Gitarrenriffs ein. Das geschah | |
instinktiv. | |
In Großbritannien gelten Kunsthochschulen als Orte, an denen die | |
Klassenzugehörigkeit als bestimmendes Element in den Hintergrund tritt. Hat | |
dieses Muster auch für Sie funktioniert? | |
Andy Gill: Wir stammen beide aus einer Kleinstadt in Kent. Ich komme aus | |
einer Mittelklassen-Familie, Jon hat proletarische Wurzeln. Wir besuchten | |
die gleiche Schule, denn es gab Stipendien für Schüler aus armen Familien. | |
Man könnte also sagen, dass damit unsere Überschreitung der | |
Klassengegensätze begann. | |
Jon King: Klassengegensätze sind immer noch das alles beherrschende Element | |
in der britischen Gesellschaft. Die Kluft zwischen Unterprivilegierten und | |
Reichen wurde unter der Labour-Regierung von Tony Blair sogar größer. Und | |
jetzt haben wir eine mehrheitlich aristokratische Tory-Regierung, die | |
drastische Einsparungen angekündigt hat. Wer es als Politiker in England zu | |
etwas bringen will, muss auf einer Eliteschule gewesen sein. | |
Im Pop liegen die Dinge anders, es ist kein Handwerk, niemand lehrt einem | |
die Grundbegriffe, und genau das macht Pop ja offen für widerständige | |
Positionen. Allgemein liegt in Großbritannien vieles im Argen, aber diese | |
Schwäche ist auch eine Stärke. Wir werden laut, wenn wir besoffen sind und | |
zetteln Ärger an. Das verträgt sich ja ganz gut mit den Maximen des Rock n | |
Roll: Man erwartet von Rockmusikern ja, dass sie böse Dinge tun. | |
Wie ist Ihr Verhältnis zu den musikalischen Konventionen der Rockmusik? | |
Andy Gill: Traditionell sind die Drums in den Hintergrund gemischt. | |
Hierarchisch drüber liegt der Bass und noch mächtiger sind Gitarre und | |
Gesang, die die Melodien liefern. Dieses Pyramidenmodell ist unsere Sache | |
nicht. Wir benutzen zwar klassische Rockinstrumente, aber wir montieren sie | |
auf gleicher Höhe. Wir arbeiten viel mit Lücken, werfen Spuren wieder aus | |
dem Mix. Den Sound von Gang of Four definiert ja gerade die Differenz | |
zwischen uns als Musikern und dem Mainstream. | |
Jon King: Unsere Situation ist vergleichbar mit einem Krimiautor, der die | |
Konventionen seines Genres kennen muss, um die Klischees zu vermeiden. | |
Andy Gill: In den USA spricht man von "Chops", von Fingerfertigkeiten, die | |
man sich als Musiker aneignen muss. Aber Virtuosität führt in eine | |
Sackgasse. Uns geht es um Interaktion. Wenn Songtexte und Ideen | |
kollidieren, Rhythmen und Texturen, dann wird es für uns erst interessant. | |
Das Wort "Content" ist doppeldeutig, es meint sowohl zufrieden als auch | |
Inhalt, wie in "Content is king". Worauf spielen Sie mit dem Albumtitel an? | |
Jon King: Wir selbstzufriedenen kreativen Künstler werden inzwischen als | |
eine Art Software eingesetzt. Ein wundervoller Gedanke, aber er stammt | |
nicht von mir. Es gibt ja die Theorie, dass wir uns alle einreihen bei den | |
großen Unterhaltungskonzernen, Content generieren, der wiederum Dinge | |
akkumuliert und Zielgruppen abschöpft. Wir finden das abscheulich. Alles | |
ist auf die Werbung ausgerichtet, man folgt einzig und allein der Spur des | |
Geldes. Und mit welchem Wort wird Kultur beschrieben: mit Content. | |
Ihr Debütalbum "Entertainment" hat auch so einen wortmächtigen Titel. Es | |
ist inzwischen zur Einflussgröße für jüngere Bands wie Franz Ferdinand oder | |
LCD Soundsystem geworden. Was bedeutet es Ihnen heute noch? | |
Jon King: Ich habe mich viel mit Bluesmusikern wie John Lee Hooker | |
beschäftigt, die sehr genau wussten, was sie für ihre Musik benötigten, | |
weil sie Musik einfach machen mussten. Sie taten das nicht in erster Linie | |
des Geldes wegen. Als wir "Entertainment" 1979 aufgenommen haben, ging es | |
uns auch nicht darum, reich und berühmt zu werden. Wir mussten einfach | |
Musik machen. | |
Das Jesse-James-Modell, "rein in die Bank, Geld her, raus aus der Bank", | |
funktioniert längst nicht mehr. | |
Jon King: Soundscan hat ermittelt, dass 2009 weltweit nur noch 100 Künstler | |
mehr als 10.000 Alben verkauft haben, das Minimum, wenn man von Popmusik | |
leben will. Ich erinnere mich auch an einen Text in einer britischen | |
Zeitung, der ermittelte, dass sich viele neue britische Bands inzwischen | |
aus der oberen Mittelklasse rekrutieren. Pop war einmal die Spielwiese der | |
unteren Mittelklasse und gab auch dem Proletariat eine Stimme. Das ist | |
heute scheinbar wieder homogener. Was heute zählt, ist die Weisheit der | |
Masse im Internet. Jeder stellt seinen Kram online, niemand hat den | |
Durchblick. Aber die Weisheit der Masse ist gar keine Weisheit. Jimi | |
Hendrix war keiner, der eine Masse um sich herum hätte organisieren können. | |
28 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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