| # taz.de -- Finale der Berlinale 2009: Perlentauchen im schwachen Jahrgang | |
| > Die Jury holte das Beste aus einem schwachen 59. Jahrgang der | |
| > Internationalen Filmfestspiele Berlins heraus. Die Perlen des Festivals | |
| > fanden sich andernorts, doch sie fanden sich . | |
| Bild: Zweiter großer Wurf nach ihrem Regiedebüt "Der Wald vor lauter Bäumen"… | |
| Eine alte Frau liegt auf dem Sterbebett. Langes graues Haar rahmt ihr | |
| faltiges Gesicht. Auf Quechua singt sie ein Lied. Es handelt davon, wie sie | |
| vergewaltigt wurde. Ihren Mann brachten die Angreifer vor ihren Augen um | |
| und zwangen sie, seinen Penis zu essen. Sie war schwanger, das Kind sah | |
| duch den Muttermund hindurch die Vergewaltigung mit an. Die Einstellung | |
| dauert eine Weile, die Kamera hält still, der Gesang bleibt eher ruhig, ein | |
| Klagelied zwar, aber eines, aus dem die Emotionen so weit gewichen sind, | |
| dass die Reglosigkeit der alten Frau und die harschen Inhalte des Liedes | |
| einen merkwürdigen Gegensatz bilden. Nach zwei, drei Minuten beugt sich von | |
| links eine junge Frau ins Bild, die Tochter, die jetzt um die 20 sein mag. | |
| Ihr dichtes schwarzes Haar fällt wie ein Vorhang vor die Kamera. | |
| Mit dieser Szene beginnt "La teta asustada" ("Milk of Sorrow"), der | |
| Wettbewerbsbeitrag der peruanischen Regisseurin Claudia Llosa, der am | |
| Samstagabend den Goldenen Bären erhielt. Wörtlich übersetzt bedeutet der | |
| Titel "Die verängstigte Brust". Aus dieser Brust trank die Tochter, als sie | |
| ein Säugling war, und nun trägt sie, obwohl auf den Namen Fausta, die | |
| Glückliche, getauft das Leid der Mutter in sich. Dieses Leid hat die | |
| Gegenwart fest im Griff, auch wenn sich die Gräuel vor langer Zeit und an | |
| einem weit entfernten Ort zutrugen. Damit ihr nicht zustößt, was der Mutter | |
| widerfuhr, hat sich Fausta (Magaly Solier) eine Kartoffel in die Vagina | |
| gesteckt. Die Kartoffel treibt Keime, die Fausta manchmal abschneidet. Sie | |
| braucht die Kartoffel, um ihre Ängste im Zaum zu halten. Dafür nimmt sie in | |
| Kauf, dass die Keime ihren Unterleib verletzen. Sie vergewaltigt sich | |
| selbst, bevor es ein anderer tut. | |
| "La teta asustada" wirkt ein wenig kalkuliert, wie der Film alle Zutaten | |
| für erfolgreiches, preiswürdiges, international koproduziertes Weltkino | |
| aufweist: Da gibt es die Erinnerung an einen vergangenen Krieg und die | |
| nicht vollständig vergangene Unterdrückung, es gibt staubig-exotische | |
| Hügellandschaften an den Rändern Limas, viele Versatzstücke indigener | |
| Kultur, Sagen und Lieder, wuchernde Traumata, dazu eine leichte Dosis | |
| magischen Realismus. Doch selbst wenn man Llosa Kalkül unterstellen wollte, | |
| es bleiben zahlreiche starke Szenen, und vor allem bleibt die Sache mit der | |
| Kartoffel, die ein so aberwitziges wie treffendes Bild abgibt für die | |
| Bewältigungsstrategien, die einer Traumatisierung folgen. | |
| Man will es Tilda Swinton und den übrigen Mitgliedern der Jury also nicht | |
| verdenken, dass sie Llosas Film mit dem wichtigsten Preis versahen. | |
| Überhaupt gelang es dieser Jury, das Beste aus einem schwachen Jahrgang | |
| herauszuholen. Dass Maren Ades Wettbewerbsbeitrag "Alle Anderen" gleich | |
| zwei Preise erhielt - den Großen Preis der Jury (ex aequo mit Adrián Biniez | |
| "Gigante") und einen Silbernen Bären für die Hauptdarstellerin Birgit | |
| Minichmayr -, ist besonders erfreulich. Die Berliner Regisseurin ist erst | |
| 32 Jahre alt, "Alle Anderen" ihr zweiter langer Film nach "Der Wald vor | |
| lauter Bäumen". Es ist eine sorgfältige Studie eines jungen Paars in der | |
| Krise. Minichmayr spielt die junge Frau, Gitti, die selbstbewusst auftritt, | |
| während ihr Freund Chris (Lars Eidinger) eher zurückhaltend agiert. Die | |
| beiden machen Urlaub auf Sardinien, im Haus von Chris Eltern. Ade hat einen | |
| genauen Blick dafür, wie Macht und Liebe, Geschlechterrollen, Zweisamkeit | |
| und soziale Einbindung zusammenwirken. So gewinnt "Alle Anderen", obwohl er | |
| den Raum des Privaten nicht verlässt, eine gesellschaftliche Dimension, die | |
| viel weiter trägt als in den vielen Filmen, die sich einem gesellschaftlich | |
| relevanten Sujet verschreiben. | |
| Die glücklichen Entscheidungen der Jury können nicht darüber hinwegtrösten, | |
| dass die 59. Berlinale mit ihrem Wettbewerbsprogramm von 18 Filmen eine | |
| schlechte Figur machte. Das Auswahlgremium bevorzugte offenbar ein Kino des | |
| Dazwischen - weder Blockbuster noch Experiment, weder die richtig opulente | |
| Produktion noch die kleine, die nach neuen Formen sucht. Christoph | |
| Schlingensief, Mitglied der Jury, brachte das Problem auf den Punkt, als er | |
| vor wenigen Tagen in einem Interview mit der FAZ beklagte, es gebe zu viele | |
| "kausale" und zu wenig "akausale" Filme im Programm. Zu viele Filme stellen | |
| die Erzählung in den Mittelpunkt und vergessen darüber, dass sie in einem | |
| Bildmedium agieren. Zu viele Filme sind Arthouse-Kino, mal behäbig wie | |
| Andrzej Wajdas "Tatarak", mal überkonstruiert wie Rachid Boucharebs "London | |
| River", mal pseudoarchaisch wie "Katalin Varga" von Peter Strickland, mal | |
| pseudosurrealistisch wie François Ozons "Ricky". Da hilft auch die | |
| Pseudo-Screwball-Comedy wie "My One and Only" von Richard Loncraine nicht | |
| weiter. | |
| Die neuen Filme von Lars von Trier und Quentin Tarantino, das wurde letzte | |
| Woche bekannt, werden im Mai in Cannes Premiere feiern. Gus Van Sants | |
| jüngste Arbeit, das Biopic "Milk" über den schwulen kalifornischen | |
| Kommunalpolitiker Harvey Milk, wäre ein wunderbarer Kandidat für den | |
| Wettbewerb gewesen, auch wenn es vergleichsweise konventionell geraten ist. | |
| Doch "Milk" ist in einigen Ländern schon regulär angelaufen, deshalb kam | |
| der Film nur für eine Sondervorführung im Panorama in Frage. Dass die | |
| Berlinale nicht die Macht hat, in einem solchen Fall auf eine Verzögerung | |
| des Starttermins zu drängen, muss man ihr nicht vorwerfen. Zu nervös sind | |
| Produzenten, Weltvertriebe und lokale Verleiher, als dass sie einen | |
| fertigen Film lange unter Verschluss halten wollten. Die Finanzkrise | |
| verstärkt diese Nervosität noch. Traurig ist es trotzdem, und es bekräftigt | |
| die Hierarchie unter den Festivals. Cannes steht unangefochten an erster | |
| Stelle, Venedig lässt ein munteres Durcheinander von Spektakel und Kunst | |
| zu, für Berlin bleibt die Langeweile des gepflegten Arthouse-Kinos. Und was | |
| ist mit der von Dieter Kosslick so oft beschworenen politischen Qualität | |
| des Festivals? Man glaubt nicht daran, wenn man in der Lounge des | |
| Cinemaxx-Theaters neben einem ärmlich gekleideten Mann mit struppigem Haar | |
| und grauem Bart sitzt. Der Mann spricht mit sich selbst, er hält eine Rede | |
| an die Fürsten von Freiburg. Er ist nicht sehr laut und nicht sehr leise. | |
| Es dauert keine fünf Minuten, bis sich die Sicherheitsmänner des | |
| Filmtheaters ihn bitten, sie nach draußen zu begleiten. | |
| Wer etwas sehen möchte, das einen mit den Sinnen denken lässt, musste die | |
| Augen wandern lassen. Stark war nämlich so einiges auf dieser Berlinale: | |
| US-amerikanische Independent-Produktionen wie "The Exploding Girl" von | |
| Bradley Rust Gray und "Beeswax" von Andrew Bujalski im Forum oder die | |
| Vielzahl an dokumentarisch-essayistischen Filmen - zum Beispiel Thomas | |
| Heises "Material" mit Bildern aus der untergehenden DDR, Yoav Shamirs | |
| "Defamation", eine Abhandlung über Antisemitismus, oder Lucien | |
| Castaing-Taylors "Sweetgrass", eine hinreißende Dokumentation über Schafe | |
| und Schafhirten in den Bergen Montanas. Im Panorama erprobt "The Yes Men | |
| Fix the World" ein munteres Crossover aus Agitation und Aktivismus. Die | |
| Filmemacher Mike Bonanno, Andy Bichlbaum und Kurt Engfehr mögen bei Michael | |
| Moore in die Schule gegangen sein, ihr Film aber fällt viel vergnüglicher | |
| und weniger rechthaberisch aus als Moores Filme. | |
| Und der Blick zurück traf immer wieder auf Erstaunliches - etwa auf "Winter | |
| adé", Helke Misselwitz Dokumentation aus dem Jahr 1988. Die Regisseurin | |
| lässt Frauen von sich selbst erzählen, von ihrer Arbeit, ihren Familien, | |
| ihren Sehnsüchten, Ängsten und Wünschen. Oft sitzen die | |
| Gesprächspartnerinnen in einem Zug, oft nimmt Misselwitz Schienen ins Bild, | |
| ihr Film ist unterwegs, beweglich, wie eine Antithese zu den vielen | |
| Häusern, die das deutsche Kino zurzeit bevölkern. Am Anfang von "Winter | |
| adé" sieht man, wie eine handbetriebene Schranke herabgelassen wird. | |
| Misselwitz nähert sich dem Mann an der Schranke, er hat viele Tätowierungen | |
| auf den Armen. Die Regisseurin fragt aus dem Off: "Hast du auch auf der | |
| Brust Tätowierungen?" - "Klar", entgegnet der Mann, "und auf dem Rücken | |
| auch." Misselwitz fragt: "Ziehst du dein Hemd aus?" Der Mann zögert kurz, | |
| lacht, und schon steht er mit nacktem Oberkörper vor der Kamera. Überall | |
| sind Tätowierungen, Bilder von Frauen, wie in einer Vorwegnahme der Bilder, | |
| die der Film finden wird. | |
| 15 Feb 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Nord | |
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